McLuhan oder McKinsey? – Harry Lehmann und die „Neue Musik“

Harry Lehmanns Buch „Die digitale Revolution der Musik“, das soeben in der von Rolf W. Stoll herausgegebenen „edition neue zeitschrift für musik“ bei Schott Music erschien, hat zwei Gesichter: Einerseits erscheint der Autor als prognosestarker Visionär, der eine „Neue Musik 2.0“ (meine Formulierung) entwirft, die sich durch intelligente Konzeptualisierung und reflektierte Adaption zeitgenössischer Musiktechnologie aus dem Elfenbeinturm gesellschaftlicher Randständigkeit befreien könnte (wenn sie dies denn nur wollte!), auf der anderen Seite unterzieht er die bisherige institutionelle Verfasstheit dieser Kunstform einer derart schonungslosen Kritik, dass es so manchem Akteur dieser Szene kalt den Rücken hinunterlaufen und um sein (Arbeits-)Plätzchen im Schoße des Dispositivs bangen lassen dürfte.

Dabei hat der Autor analytisch voll ins Schwarze getroffen:

  • Ja, auch die NM-Szene beginnt sich zu ent-institutionalisieren (sie war aber auch das so ziemlich letzte kulturelle Segment, das als Ganzes irgendwie dann doch „öffentlich-rechtlich“ verfasst war).
  • Ja, Primärtext einer NM-Komposition wird nicht mehr ausschließlich die Papierpartitur sein, das MIDI-basierte Sample-Arrangement wird ihr gleichberechtigt an die Seite treten (wie in der Pop-Musik seit ca. 25 Jahren üblich).
  • Ja, die Zeit der fruchtbaren Abarbeitung am musikalischen Material ist (längst!) vorbei, KomponistInnen, die irgendwas machen wollen, was es noch nicht gibt, haben keine andere Wahl, als ihr Können in den Dienst eines die Allgemeinheit wirklich interessierenden Themas zu stellen, was Lehmann als „gehaltsästhetische Wende“ apostrophiert. Als Protagonist dieser Wende erwähnt er mehrfach den Komponisten Johannes Kreidler. Ein Screenshot von dessen Kompositions-Software COIT ziert denn auch die Titelseite des Buches.
  • Ja, das bisherige Selbstverständnis der NM von Lachenmann bis Mahnkopf war das einer „invertierten“ klassischen Musik, die sich an der Welt nicht die Hände schmutzig machen wollte (allerdings hat sich die Minimal music schon in den 1960er Jahren von diesem anachronistischen bzw. intellektuell inkonsistenten Konzept verabschiedet – was der Mainstream der NM allerdings nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen glaubte).
  • Ja, der NM bleibt nichts anderes übrig, als „relational“ zu werden: sie muss „in die Welt hinausgehen“ (Mahnkopf), muss sich mit der Bildenden Kunst verbinden, mit der Nerd-Kultur, mit dem Internet, der Performance, dem modernen Tanz (aber tut sie das nicht schon längst?).
  • Ja, das bisherige Dispositiv NM funktionierte ökonomisch kurioserweise als eine Art „invertierter Kapitalismus“ (meine Formulierung): „Die Höhe der in Anspruch genommenen Subventionen wird damit zum Erfolgsmaßstab eines Komponisten, genau so, wie in der realen Wirtschaft die Verkaufszahlen für Bücher ein Maß für deren Popularität und ihren wirtschaftlichen Erfolg sind.“ (aber, vorausgesetzt, auch im Nanosegment NM gälten ab sofort die Gesetze des freien Marktes: würde dies dann nicht das sofortige Verschwinden desselben bedeuten – mangels Nachfrage? Oder würde diese „Freisetzung“ kreative Kräfte zum Vorschein bringen, von denen man bisher nichts wusste?)
  • Ja, die lagerkostenarme digitale Distribution wird kommerziellen Großvertrieben wie Amazon den gewinnbringenden Verkauf auch umsatzschwächster Produkte aus dem Nanosortiment NM ermöglichen (aber wird dies irgendwelche ästhetischen Auswirkungen auf die Musik haben?)
  • Ja, gerade die intellektuell anspruchsvolle, voraussetzungsreiche NM bedarf einer sachkundigen, vermittelnden „autonomen“ Kritik, d. h. sie braucht KritikerInnen, die nicht selbst Teil des Dispositivs und damit karrieremäßig und ökonomisch unfrei sind (aber was sollte die Besitzstandswahrer des Dispositivs eigentlich dazu veranlassen, diesen vielleicht ja als pain in the ass empfundenen Außenseitern überhaupt Gehör zu schenken, wo es doch, solange Geld da ist, naturgemäß an hochqualifizierten publizistischen Hofschranzen Dienstleistern niemals mangeln wird?).

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Was als Buchrezension begann, wurde zum blogwork in progress, da Harry Lehmanns Gedanken ein Schlaglicht auf viele Probleme der aktuellen Kunstmusik werfen. So blogge ich immer wieder mal über die „Digitale Revolution der Musik“, aber stets unter einem anderen Leitgedanken. Ein Index: McLuhan oder McKinsey?, Kritik der (Neo-)Avantgarde, Kritik der Postmoderne, Ästhetik, Gehalt, Notation, Kim-Cohen, Gehaltsästhetik und Sonifikation, Übersprungene Geschichte, Musik-Konzepte (aktualisiert 2015-03-29).

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