Text „Ahnenkult“ (Thomas Bernhard 1977)
Kompositionssoftware ASCIIMID (Randy Stack 1992)
Soundfont Vienna Symphonic Library Orchestral Strings Special Edition
Sample Player Vienna Ensemble
Faltungshall Large Factory Amsterdam (F. van Saane)
Kompositionsnotiz
Der Text „Ahnenkult. Ein Gedicht für Höherstehende oder wie man sich einer hohen Aufgabe auf die kürzeste Zeit (zehn Minuten) entledigt, vollkommen gereimt und noch einmal durchgesehen von Thomas Bernhard“ aus dem Jahr 1977 beeindruckte mich sowohl durch seinen grimmigen Humor als auch durch seine minimalistische Faktur. Hier kommt er:
Es steigt der Steiger bis er nicht mehr steigt es schweigt der Schweiger bis er nicht mehr schweigt es lacht der Lacher bis er nicht mehr lacht es macht der Macher bis er nicht mehr macht es kocht der Kocher bis er nicht mehr kocht es locht der Locher bis er nicht mehr locht es tötet der Töter bis er nicht mehr tötet es flötet er Flöter bis er nicht mehr flötet es taucht der Taucher bis er nicht mehr taucht es raucht der Raucher bis er nicht mehr raucht es singt der Singer bis er nicht mehr singt es springt der Springer bis er nicht mehr springt es hurt die Hure bis sie nicht mehr hurt es murt die Mure bis sie nicht mehr murt es mahnt der Mahner bis er nicht mehr mahnt es wahnt der Wahner bis er nicht mehr wahnt es nörgelt der Nörgler bis er nicht mehr nörgelt es wörgelt der Wörgler bis er nicht mehr wörgelt es raubt der Rauber bis er nicht mehr raubt es glaubt der Glauber bis er nichts mehr glaubt es heizt der Heizer bis er nicht mehr heizt es reizt der Reizer bis er nicht mehr reizt es genießt der Genießer bis er nichts mehr genießt es beschließt der Beschließer bis er nichts mehr beschließt es verkehrt der Verkehrer bis er nicht mehr verkehrt es verehrt der Verehrer bis er nicht mehr verehrt es germanistelt der Germanist bis er nicht mehr germanistelt es slawistelt der Slawist bis er nicht mehr slawistelt es verlegt der Verleger bis er nicht mehr verlegt es erregt der Erreger bis er nicht mehr erregt es regiert der Regierer bis er nicht mehr regiert es verliert der Verlierer bis er nicht mehr verliert es erhebt der Erhebende bis er nicht mehr erhebt es lebt der Lebende bis er nicht mehr lebt es richtet der Richter bis er nicht mehr richtet es dichtet der Dichter bis er nicht mehr dichtet.
Randy Stacks Software ASCIIMID aus dem Jahr 1992(!) ermöglichte mir, Bernhards Text Buchstabe für Buchstabe in Tonhöhen zu übersetzen, also im Wortsinne zu „vertonen“. Umlaute und das scharfe S wurden vorher durch kompatible Zeichen ersetzt (ä = ae, ß = ss etc.). Stack beschreibt die Funktionsweise seines Programms wie folgt: „Any characters between ASCII codes 32 and 128 are mapped to MIDI note numbers between 0 and 96. Any code falling outside of this range is interpreted as a rest. Each note or rest occupies a 16th note.“
Erwartungsgemäß entstand eine recht repetitive Tonkette, die ich phasenverschoben den Bratschen und Celli zur Ausführung übertrug. Die Violinen melden sich immer, wenn die Phrase „bis er/sie nicht(s) mehr“ im Text vorkommt. Die Kontrabässe rühren sich nur, wenn ein Großbuchstabe in Bernhards Text erscheint (2x pro Strophe). Eine weitere Violinstimme fungiert als Metronom.
Die übrigen Parameter (Dynamik, Kontrapunkt) wurden intuitiv (also in „herkömmlicher“ Weise) „erwirtschaftet“.
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Die Idee, diese Komposition gerade heute gerade hier zu posten, ist inspiriert durch die Harvard-Vorträge von Harry Lehmann und Johannes Kreidler aus dem April diesen Jahres. Gerne würde ich mit beiden hier unseren Gedankenaustausch zum Thema „Musik-Konzepte“ fortsetzen, wie er anlässlich meines Artikels Kreidlers Konzept, kommentiert vom 17. März begann.
Hier meine These: Meine Komposition „Bernhard“ aus dem Jahr 2006 ist „ästhetischer Konzeptualismus“ im Sinne Kreidlers und ein „gehaltsästhetisches Musikkonzept“ im Sinne Lehmanns.
Am Thema Interessierte sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen!
P.S.: Im Gegensatz zu Bernhard benötigte ich für die Komposition des Orchesterstücks deutlich länger als 10 Minuten 😉
ich hab diese dreier-unterscheidung aus meinem text wieder rausgenommen, aber wenn dann würde ich dein stück nicht unterm „ästhetischen konzeptualismus“ rubrizieren, weil m.E. bei deinem stück das konzept gewusst werden muss, und das teilt sich ja nicht ästhetisch mit.
wusste gar nicht, dass die Idee ascii2midi schon so alt ist!
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Das Konzept ascii2midi kann man bereits bei Clarence Barlows Komposition „Textmusik“ von 1971 finden.
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Wenn Du das Stück zusammen mit der Beschreibung veröffentlichst, wie es hergestellt wurde, dann ist es Konzeptmusik. Ein Gehalt wird dabei aber nicht geschaffen, selbst wenn Du das Bernhard Gedicht daneben mit abdruckst. Am ehesten könnte man hier von materialästhetischer Konzeptmusik sprechen, da Du mit Hilfe des Textes Dein musikalisches Material kreierst – aber ich will mich da noch nicht festlegen. Man könnte auch argumentieren, dass das Stück einen anästhetischen Charakter hat: es kommt wie bei der Konzeptmusik allgemein nicht so sehr darauf an, wie es klingt. Allerdings steuerst Du ja von Hand aus einige Parameter nach und die Auswahl des ePlayers definiert ja auch eine bestimmte Ästhetik. Also ich tendiere zur materialästhetischen Konzeptmusik; ein Beispiel für Gehaltsästhetik ist es sich nicht.
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@Harry Lehmann: Danke für die Einordnung. Schon faszinierend, wie die von dir entwickelte Terminologie hier zum Einsatz gebracht werden kann, um ästhetische Differenzen in Neuer Musik logisch konsistent zu beschreiben – und eben nicht feuilletonistisch, (post-)adornitisch oder schlapp subjektivistisch (im Sinne von „Gefällt mir / Gefällt mir nicht“). Vor deiner Musikphilosophie wäre folgender Dialog einfach unsinnig gewesen:
Sprecher 1: Also ich denke, diese Komposition ist ein gehaltsästhetisches Musikkonzept, weil … [Begründung in Lehmann’schen Termini folgt]
Sprecher 2: Nein, es handelt sich um materialästhetische Konzeptmusik, weil … [Begründung in Lehmann’schen Termini folgt]
Du hast ein neues Sprachspiel etabliert – Gratulation, Test bestanden, es funktioniert!
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herrje, ich find’s geradezu ein ärgernis, dass der barlow nicht mal eine anständige website macht, auf der man seine arbeiten kennenlernen kann.
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Sein Desinteresse an jeglicher Art von Selbstdarstellung ist Legende. Aber hier gibt’s ein schönes Interview aus dem Jahr 2007. Und natürlich diesen Post in der Weltsicht aus dem Jahr 2011.
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