Musikpsychologie wird immer mehr zu meiner Lieblingswissenschaft. Vor ca. 3 Jahren hielt der us-amerikanische Wissenschaftler David Huron folgenden ebenso unterhaltsamen wie erkenntnisreichen Vortrag mit dem mutigen Titel „Was ist ein Musikstück?“:
Philosophische bzw. ontologische Definitionsansätze wischt er dabei gleich beiseite (fröhlich, ganz offensichtlich), um schließlich zu dem verblüffenden Schluss zu kommen, ein Musikstück sei schlicht das, woran sich ein Mensch bzw. Menschen als Musikstück erinnern.
Das klingt nur auf den ersten Blick tautologisch (kommt doch das zu Definierende in der Definition vor), denn Huron hat tatsächlich sämtliche Alltagserfahrung für sich – und den Rest der Welt (also Juristen, Musiker, Komponisten und traditionelle Musikologen) gegen sich. Seine Argumentation geht so: Wenn wir uns an dieselbe Melodie mit zwei unterschiedlichen Texten als unterschiedliche Musikstücke erinnern, dann sind es zwei unterschiedliche Musikstücke. Alle Versuche, Musik stilistisch, historisch, soziologisch oder geo-kulturell (diesen Begriff habe ich zum ersten Mal bei dem Musikwissenschaftler Dennis Schütze gehört, er soll die enge Verbindung kultureller Phänomene mit geographischen Gegebenheiten bezeichnen) zu ordnen, sind zwar legitim, so Huron, müssen aber letztlich immer arbiträr bleiben, weil sie der Alltagskomplexität der menschlichen Hörerfahrung nicht gerecht werden.
Warum das?
Eines seiner Beispiele für diese Sichtweise ist die 12-taktige Bluesform: Analysiert man Musik streng funktionsharmonisch, wären Hunderte von Blues-Klassikern plötzlich nur noch ein Musikstück, da alle ausschließlich auf obenstehender Form basieren. Von Bessie Smith bis Gregory Porter: alle hätten immer nur das eine, 12-taktige Musikstück interpretiert (wenn auch äußerst variantenreich). Ganz offensichtlich sind aber sehr viele (wenn auch nicht alle) Menschen der Meinung, es gebe sehr viel mehr als ein Musikstück, das den Namen „Blues“ verdient und – schwupps – sind die Blues-Klassiker wieder da, wo sie hingehören: Im musikalischen Gedächtnis der Hörer (und der Perfomer) nämlich – und zwar als unterschiedliche Musikstücke.
[Philosophische Nebenbemerkung: Huron demonstriert hier wie nebenbei und komplett lässig den notwendigen Konstruktivismus jeglicher wissenschaftlichen Vorgehensweise, denn beides ist ja – auf eine bestimmte Art – „objektiv“ wahr: Funktionsharmonische Einfalt und phänomenologische Vielfalt „des“ Blues.]
Trivialerweise erkennt man immer mehr Unterschiede zwischen den einzelnen Stücken, je tiefer man in eine bestimmte Musikrichtung einsteigt. Deswegen ist es auch kein Wunder, wenn Menschen aus rein außereuropäischen Musikkulturen (die es, gesteht Huron ein, vermutlich gar nicht mehr gibt) zunächst ein Klavierstück von Jelly Roll Morton nicht von einem Klavierstück von Alexander Skrjabin unterscheiden können (ein weiteres schönes Beispiel Hurons): Es liegt nicht an ihrer „Unmusikalität“, sondern an ihrer generellen Unvertrautheit mit Klaviermusik. Sie mögen Klaviermusik als solche sofort identifizieren können (an der Klangfarbe des Instruments), Morton und Skrjabin auseinanderzuhalten dauert dann aber ein bisschen. Leuchtet mir ein, für mich z. B. klingen alle Musikstücke in Florian-Silbereisen-Shows gleich bzw. ähnlich, würde ich aber in der Wolle gefärbten Fans volkstümlicher Musik 10 Aufnahmen des Bill Evans Trios vorspielen, würden diese todsicher dasselbe von dieser Musik behaupten – und hätten sie nicht ebenfalls recht?
Aber soll das nun heißen, dass es keinen objektivierbaren Wert-Unterschied (mehr) zwischen Musikstücken von bsp.weise Tim Toupet und Claus-Steffen Mahnkopf gibt? Nun, Huron würde darauf vermutlich antworten, es gibt exakt den Unterschied, den man selber festlegen will – aber es gibt keine objektivierbare Instanz, die einem sagen könnte, ob die Musikstücke Toupets „prinzipiell“ kulturell wertvoll sind, die Mahnkopfs aber „prinzipiell“ kulturell wertlos (bzw. – wie das die armen Bildungsbürger sehen müssen – exakt umgekehrt).
Ich bin – wie Huron, so mein Eindruck – kein kultureller bzw. ethischer Relativist. Musikalisch habe ich sehr dezidierte Vorlieben und Abneigungen, d. h. einen sog. „Geschmack„. Dieser ist recht stabil (um nicht zu sagen invariant). Gerade deshalb aber lasse ich mich von Hurons musikpsychologischem Konstruktivismus gerne ein wenig darüber aufklären, wie kontingent dieses von mir stets geheiligte und gehegte sowie stets identitätsstiftende Geschmacksding so ist. Es scheint vor allem eines zu sein: möglich, aber nicht notwendig.
So wie alles andere übrigens – außer man glaubt an Gott (was ich nicht tue).
Schön war auch das Beispiel, dass klassische Kompositionen in verschiedenen Interpretationen durch unterschiedliche Tempi, Dynamik, Artikulation etc. von Hörern wie verschiedene Werke empfunden werden können.
Warum kann Musikwissenschaft nicht immer so unterhaltsam, down-to-earth und plausibel sein?
Danke für die Empfehlung!
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