Es ist vollbracht: Mit der Publikation der Visualisierung der Komposition «2008» (siehe den Post von heute, 6 Uhr morgens) habe ich mein Magnum Opus «Jahreszahlen» (bzw. das, was davon bereits existiert) komplett YouTube-isiert. Das Ganze hat – inkl. konzeptueller Vor-Überlegungen – 4 volle Jahre (2011 – 2014) in Anspruch genommen und mich – u. a., und im (losen) Anschluss an Kreidlers „erweiterten Musikbegriff“ – zur Idee eines „erweiterten Kompositionsbegriffs“ geführt, den ich gleich ein wenig ausführen möchte.
Kreidler schreibt in „Der erweiterte Musikbegriff“ (2014):
Absolute und autonome Musik spielen sich in einem Kokon ab, der fraglos eine Fülle inhärenter Wirkungen ermöglicht. Doch widerspricht diese Abtrennung einer heutigen Erfahrung, und es beeinflussen ohnehin diverse Kräfte die vermeintliche Monade. Verlässt man nun diese tradierten Vorstellungen von Rahmung und gestaltet aktiv die Kontexte des Klingenden, sei es durch akkompagnierende Tätigkeiten oder durch Auffächerung des Werks selbst, ergibt sich in der Konsequenz ein erweiterter Musikbegriff, der den ganzen Strauß von Wirkungszusammenhängen ergreift: Medienmusik.
Ich habe die Gnade / nehme mir die Freiheit, als gelernter MultiDilettant / PolyProfi ebenso „Komponist“ wie „Fotograf“ wie „Filmemacher“ sein zu dürfen, ohne in irgendeinem dieser Bereiche jemals in den, äh, Genuss einer formalen, gar akademischen Ausbildung gekommen zu sein (warum das so ist – fragen Sie bitte meinen Arzt [aber der darf nix verraten, hehe]). Allerdings lief mein Interesse für diese diversen Ausdrucksformen bis weit in die Nullerjahre hinein unverbunden nebeneinander her (was – im Nachhinein – erstaunlich ist): Ich komponierte (einiges), ich fotografierte (viel), und ich filmte (ein ganz klein wenig, mit der Videofunktion meiner Kompaktkamera). Es bedurfte erst der verwunderten Feststellung eines Freundes im Sinne von: „Warum visualisierst du deine Musik eigentlich nicht mit deinen eigenen Fotografien und stellst sie auf YouTube ein?“, dass mir die Groschen wie Schuppen aus den Haaren fielen.
Die YouTube-isierung ging so vonstatten: Ich ließ eine bestimmte Komposition in Endlosschleife laufen und sah mir dabei so lange meine Fotografien durch, bis es innerlich „Klick“ machte und eine ganz bestimmte Fotografie einen, sagen wir mal, signifikanten Korrespondenzwert zwischen sich und der gerade laufenden Musik generierte (natürlich nur in meinem Kopf) bzw. ich sah mir ein bestimmtes Foto an und hörte dabei so lange meine Kompositionen durch, bis es innerlich „Klick“ machte etc. Das war mental anstrengender, als es sich hier schreibt, denn ich war ständig durch die ästhetischen Eigenwerte des Fotos bzw. der Musik abgelenkt, die ja eigentlich gar keine Korrespondenzen brauchten.
Und was soll „signifikanter Korrespondenzwert“ in diesem Zusammenhang eigentlich bedeuten? Schwierig. Aber eigentlich kennt es jede: Es gibt Bilder, die zu Tönen „passen“ und es gibt andere Bilder, die zu diesen nicht „passen“. Wenn sie „passen“, entsteht im Kopf der Rezipientin eine ästhetische Erfahrung, die durch das alleinige Betrachten des Bildes bzw. das alleinige Hören der Komposition nicht möglich gewesen wäre – es handelt sich demnach um eine genuin neue ästhetische Erfahrung, denn sie ist aus den sie konstituierenden Elementen nicht ohne weiteres ableitbar.
Kubrick unterlegte bsp.weise Bilder einer Raumstation mit Johann Strauss‘ „An der schönen blauen Donau“. Der hier produzierte ästhetische Effekt unterwandert gleichermaßen das Klischee „Science-Fiction-Kino ist ein Nerd-Genre“ wie das Klischee „Musik von Johann Strauss ist nur was für André-Rieu-Fans“. Die Medienkonstellation generiert einen genuin neuen ästhetischen Korrespondenzwert, der sich jedoch – und das ist der Beweis seiner tatsächlichen Existenz! – in Abwesenheit einer der Komponenten sofort verflüchtigt. Ohne die Strauss-Musik bleibt das Kinobild konventionelle SF, ohne das Bild der Raumstation bleibt „An der schönen blauen Donau“ leicht angeranzte Kursaalmucke (das Video unten bricht leider nach gut fünfeinhalb Minuten abrupt ab, belegt aber das oben Gesagte sehr gut):
Es wird jetzt vielleicht klarer, warum ich eingangs betonte, mein erweiterter Kompositionsbegriff schließe nur lose an Kreidlers erweiterten Musikbegriff an. Denn Kreidler geht es um die ästhetische Korrespondenz von Musik und Nicht-Musik (Geräusch, Artefakt, Alltagstätigkeit, politisches Statement etc.), mir – wie gesagt – um die ästhetische Korrespondenz von Musik und Fotografie / Film / Computeranimation etc.
Es ist klar, dass beide Ansätze ihre Tücken haben. Bei Kreidler droht – im ungünstigen Fall – anästhetische Indifferenz, bei mir dagegen kunsthandwerkliche Belanglosigkeit. Doch habe ich keine Wahl: Ich möchte Artefakte schaffen, die ich selber gerne genieße (ja: genieße!), da steht mir halt allzuviel kritische Anästhetik (im Sinne Harry Lehmanns) irgendwann im Weg. Es geht ja nicht darum, dass ich bsp.weise Noise-Musik nicht als Musik akzeptieren würde (ich habe in den 1990er Jahren genug davon produziert), es wäre aber künstlerisch unaufrichtig und reichlich verkrampft, mich heute erneut – aus rein intellektuellen Gründen – der Geräuschmusik zu verschreiben (im Sinne von „Es gefällt mir zwar nicht mehr wirklich, aber das ist nun mal das, was die Zeit jetzt braucht.“).
Es dürstet mich nun Mal seit Jahren nach Schönheit. Andere Komponenten ästhetischer Erfahrung wie das Erhabene, der Schock oder perzeptive Kipp-Effekte sind natürlich immer beigemischt, aber, für mich gilt: wenn es nicht schön (genug) ist, wird’s öde / anstrengend / langweilig / uninteressant / fad / ätzend etc.
An den folgenden Samstagen werde ich nun alle «Jahreszahlen»-Videos in numerischer Reihenfolge nochmals bloggen, wer sich alle auf einmal ansehen will (dauert 1 h 40 min), geht bitte hierher. Die stets verfügbare HD-Version macht sich übrigens gut auf einem handelsüblichen Flachbildfernseher, das habe ich ausgiebig getestet 🙂 Er sollte nur halbwegs anständige Boxen haben 😉
P.S.: Selbstverständlich bleibt offen, ob die Medienkonstellationen, die ich als passend empfinde, von der Rezipientin ebenso empfunden werden („Für mich haben Bild und Ton nichts miteinander zu tun“, „Vollkommen beliebige Zusammenstellung!“, „Was soll der Mist?“, „Schwachsinnscollagen!“ etc.). Aber exakt darin liegen Reiz und Risiko ästhetischer Kommunikation.