Stern/Neubauer über die Erblichkeit von Intelligenz (2 von 2)

Laut der Verdummungsthese, die immer wieder mal ins Feld geführt wird, nimmt die durchschnittliche Intelligenzleistung im Laufe der Zeit ab, wenn Menschen, deren Intelligenz in der unteren Hälfte der Skala angesiedelt ist, sich häufiger reproduzieren als Menschen, deren Intelligenz über dem Durchschnitt liegt. […] Dennoch ist … die große Verdummung in den westlichen Ländern nicht eingetreten, obgleich Menschen mit Universitätsabschluss tatsächlich im Durchschnitt weniger Kinder bekommen als der Rest der Bevölkerung. […] Hochintelligente Menschen hatten bei der … Befruchtung einfach Glück – sie haben von jedem Elternteil das Optimum bekommen, und die Gene konnten ihre Wirkung entfalten. Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass auch sie Träger von Genen sind, die sich weniger günstig auf die Intelligenzentwicklung auswirken, die jedoch bei ihnen nicht zur Wirkung kamen. […] Auch Eltern, die aufgrund ihrer genetischen Ausstattung selbst einen niedrigen IQ haben, geben mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht alle ihre »schlechten« Gene an ihre Kinder weiter. Hinzu kommt, dass sie mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Träger von »guten« Genen sind, die bei ihnen selbst nicht zur Ausprägung kamen, die sie aber an ihre Kinder weitergeben können. […] Schon eine Generation weiter nimmt die Ähnlichkeit deutlich ab, und keinesfalls lässt sich ein auf sehr komplexe Weise vererbtes Merkmal wie Intelligenz über mehrere Generationen vorhersagen.

Stern/Neubauer: „Intelligenz – Große Unterschiede und ihre Folgen“ (2013), Pos. 356241773297664

7 Kommentare zu „Stern/Neubauer über die Erblichkeit von Intelligenz (2 von 2)

  1. Zu dem Thema lässt sich vieles sagen.
    Nur ein Gedanke: Bei vielen Hochbegabten wird man, so glaube ich, durchschnittliche Eltern vorfinden. Aus meiner persönlichen Erfahrung kenne ich ja mind. 2 solcher Leute, von deren Eltern keine schöpferische Veranlagung bekannt ist.

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  2. @Gerhard: Stern/Neubauer sagen anderswo im Buch, dass (messbare) *intellektuelle* Hochbegabung und (eben nicht besonders gut messbare) Kreativität nicht sonderlich korrelieren. Das geht sogar soweit, dass oftmals erfolgreiche Kreative (Maler, Musiker, Komponisten) in den entsprechenden Tests eher durchschnittlich abschneiden, während brillant abschneidende ProbandInnen mitunter keinerlei „erkennbare“ Kreativität aufweisen (d. h., sie sind sozial unauffällig). Die Autoren kommentieren das ein wenig spöttisch im Sinne von „Nun, wenn das so ist, was genau messen diese ‚wissenschaftlichen‘ Kreativitätstests dann eigentlich?“

    Und was die eingangs zitierte „Verdummungsthese“ betrifft, hier entkräften die Autoren natürlich eine der zentralen Behauptungen von Thilo Sarrazin in „Deutschland schafft sich ab“, dass nämlich sinngemäß „Kopftuchmütter immer nur Kopftuchmädchen“ in die Welt setzen würden.

    [Nebenbemerkung: Eigentlich braucht man gar keine Wissenschaft, um den Unsinn dieser Rede zu beweisen. Die Kinder armer Leute starben bis ins 20. Jahrhundert hinein früher und öfter. Seit die Kindersterblichkeit dramatisch gesunken ist (und weiter sinkt), hätte ja, wäre Sarrazins These war, eine dramatische „Menschheitsverdummung“ einsetzen müssen, da ja nun auch die Kinder „dummer“ Arbeiter, Bauern etc. überleben konnten. Diese allgemeine Menschheitsverdummung ist aber ganz offenbar ausgeblieben, und selbst bildungsfernste Individuen gehen heutzutage lässig mit Smartphones, Twitter-Accounts, Facebook-Profilen, Sat-Receivern, Festplattenrekordern etc. um.]

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  3. Naja, diese scharfe Trennung zwischen Kreativität und Intelligenz behagt mir nicht besonders. Natürlich gibt es Fälle, in denen ein Künstler nichts zu seinem Werk aussagen kann – das sind m.E. aber eher Ausnahmen.

    Intelligenz bedeutet auch das kreative Verwalten-Können von Informationen, solcherart, daß überraschende Zusammenhänge sichtbar werden können. „Das Allgemeine“ in den Erscheinungen wahrnehmen zu können, ist ein Inhalt der Forschung und auch der Kunst.

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  4. Ohne da jetzt mehr als Halbwissen zu haben: Ich sehe Kreativität als eine Spielart von Intelligenz (ebenso wie Musikalität eine, aber eben auch nur eine, Art von Intelligenz ist).
    Was ein bestimmter Test abprüft, ist niemals das facettenreiche Gesamtbild, sondern ein paar miteinander vielleicht zusammenarbeitendeTeile.

    Kreativität ohne Intelligenz ist für mich eigentlich nicht sinnvoll vorstellbar. Der Satz „Grasgrüne Knoblauchautomaten sprühen sonntags gerne Fernsehblasen“ ist „kreativ“… es werden neue Querverbindungen zwischen Wörtern gelegt, die vorher nicht waren. Aber ein wesentlicher Aspekt, vielleicht sogar oft der wichtigere, bei kreativen Arbeiten, ist das Beurteilen auf Sinnhaftigkeit des Ergebnisses.

    (Das könnte man theoretisch auslagern, indem man Angestellten A kreativen Unsinn erdenken lässt, und Angestellter B macht daraus ein koheräntes Werk, ohne selber sonderlich kreativ zu sein… naja, ich glaube für das koherente Zusammenfügen von Ideen ist auch wieder eine Fähigkeit gefragt, die man Kreativität nennen könnte, oder als Teilbereich dessen ansehen.)

    Ansonsten: Yay, Sarrazin hat Unrecht. 😀

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  5. @Gerhard: Stern/Neubauer trennen ja gar nicht „scharf“ zwischen Intelligenz und Kreativität, sie stellen nur fest, dass es keine besonders aussagefähigen psychologischen Kreativitätstests gibt, Intelligenztests aber schon. Daraus könnte man natürlich schließen, dass Kreativität eben ein noch komplexeres Phänomen ist als Intelligenz…

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  6. @knopfspiel: Ich bin halt immer verblüfft, wenn sich Kreativität in einem Individuum hauptsächlich nonverbal äußert, will sagen, aus dem, was das Individuum sagt, lässt sich in keinster Weise auf die Qualität seiner Arbeit schließen. Besonders krass ist mir das bei afroamerikanischen Jazzmusikern aufgefallen. In der ganzen Biografie von Miles Davis findet sich genau eine Selbstaussage zum Thema „Konzept“ bzw. „Theorie“, nämlich, sinngemäß, dass sein lebenslanges instinktives Vorgehen offenbar eine „höhere Art von Theorie“ gewesen sei (damit man mich hier nicht falsch versteht: Ich vermute, die „Nonverbalität“ dieser Gruppe ist vor allem auf die katastrophal miese Bildungssituation ihrer Kindheit zurückzuführen – afroamerikanische Jazzmusiker der Generation Wynton Marsalis sind verbal ungleich kompetenter, Anthony Braxton hat sogar eine veritable Musikphilosophie vorgelegt).

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  7. Kreativität und Darüberreden können, sind zwei Paar Schuhe. Mancher bildender Künstler vermeidet Letzteres, denn er könnte „fehlen“ oder seinem Werk nicht gerecht werden. Es ist auch letztlich wie „nebenan“, in der Psychologie: Man selbst versteht bestimmte Dinge an sich nicht (den kreativen Lebensäusserungs-Output), aber aufmerksame und gewievte Zeitgenossen sowie Experten können bisweilen darin lesen und durchaus manches treffend zuordnen. Über die Schulter gucken können verhilft manchmal so zu mehr Einsicht als das selbstätige Kreisen über seine eigenen Lettern.

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