„Medialismus“, Roman: 6. Kapitel

ralfcschusterDie Wände meines Zimmers waren nun also schön weiß, ich kaufte mir wieder regelmäßig Tabak und kümmerte mich erstmal nicht um den Vorsatz, mit dem Rauchen aufzuhören. Aus Trotz ging ich ausgiebig trinken, mit Tina und dann, ein paar Tage später, auch auf ein Punkkonzert. Von Sabine hörte ich nichts und ich selbst vermied jede Kontaktaufnahme. Aber ich setzte mich an den Schreibtisch und dachte über das Drehbuch nach, das Drehbuch für den Film, bei dem alles falsch sein sollte. Ich würde selbst die Hauptrolle übernehmen, das war bestimmt falsch und es sollte auch eine Frau mitspielen, aber keine junge, sondern eine möglichst alte. Für die Kamera wollte ich nun nicht mehr Martin nehmen, ich brauchte jemanden, der sowas noch nie gemacht hatte, zum Beispiel Tina. Als Punk-Ideologin seit frühester Jugend sollte für sie ein kreativer Ausflug in die Kunst der Bildgestaltung kein Problem sein. Sie wollte immer ein Musikinstrument lernen, hatte aber keine Geduld zum Üben, da bietet sich Filmemachen als Kompensation geradezu an. Schwieriger war es mit der alten Frau, wen sollte ich nehmen? Ich kannte keine Frauen, die in dieser Hinsicht meiner Altersvorstellung entsprachen. Zu professionellen Schauspielern hatte ich kaum Kontakte, das wollte ich auch gar nicht. Mir kam es so vor, als sei die Arbeit mit Laienschauspielern kreativer und authentischer als mit den mittelmäßigen Profis aus dem Provinztheater. Vielleicht war das aber auch nur wieder meine Verweigerungshaltung. Alles ablehnen, was reibungslos funktionieren könnte. Wenn alles funktioniert, dann steckt man fest in der künstlerischen Gestaltungsverantwortung, wenn man Verantwortung tragen will, kann man ja auch Ingenieur werden, oder eine Firma leiten, womöglich beides. Da schienen mir die Unwägbarkeiten der Subkultur verlockender, ganz zu schweigen von dem Sympathievorschuss, der einem als Künstler im Allgemeinen entgegengebracht wurde. Aber etwas Inspiration und Arbeit musste man aufbringen und daran kämpfte ich gerade bis zur beginnenden Verzweiflung, weil ich mich immer noch nicht entscheiden konnte, was überhaupt passieren sollte. Vielleicht gar nichts? Stimmungsvolles Nichts kam in Künstlerfilmen gut. Außerdem gab es auch noch die Idee mit dem Kommissar, der nicht ermittelt, sondern nur darüber jammert, dass der Fall unlösbar sei, und am Schluss wird das Verfahren eingestellt. Die Frau im fortgeschrittenen Alter könnte behaupten, ihr Mann sei ermordet worden, und dann taucht er plötzlich auf. Aber inzwischen hat sie sich soweit in Widersprüche verwickelt, dass niemand an ihre Unschuld glaubt. Außerdem wollte Martin unbedingt, dass seine vielen Gummienten mitspielen würden. Die exzessive Inszenierung der Gummienten erschien mir durchaus passend, solange sie keinerlei Beziehung zu der kriminalistischen Handlung eingehen würden. Zumal geplant war, den Film in Schwarzweiß zu drehen. Wenn gelbe Gummienten einen visuellen Schwerpunkt des Filmes setzen sollten, war das beliebte ORWO-Material aus der DDR unbedingt die falsche Wahl und so steckten schon einige eklatante Fehler in den Eckpunkten dieses Projektes.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits ein paar Rollen ORWO-Super-8-Material abgedreht, jetzt wollte ich den ersten Kurzfilm damit realisieren. Damals gab es Super-8-Filme in der Standardausführung von Kodak oder Agfa in jedem Fotoladen oder im Kaufhaus. Ich kaufte mir damals immer Dreierpacks, das waren gut 10 Minuten Film, die kosteten 40 Mark und die Entwicklung war im Preis inbegriffen. Wem die Gnade der späten Geburt seine Jugend 20 Jahre später bescherte, der konnte sich meist gar nicht vorstellen, dass man nur für die Aufnahme so viel Geld ausgeben sollte. Diese Leute hatten aber auch die DDR verpasst, von der ich noch einiges mitbekam, obwohl ich im Westen aufwuchs. Die meisten Menschen interessierte es gar nicht, wie es da drüben aussah, außerdem bekamen sie das damals von den Medien ausführlich und kapitalismuskonform unter die Nase gerieben: wie unerträglich der real existierende Sozialismus sei, so dass ihnen schon vor der Abfahrt der Spaß verdorben wurde. Alles traurig, hoffnungslos und grau, hieß es. Grau war es wirklich, aber traurig fand ich es keineswegs. Vielleicht lag das an meinen Verwandten, die schienen ganz normal zu sein. Die freuten sich, als ich als Student tatsächlich alleine zu ihnen kam. Vorher war es immer Familienbesuch gewesen, mit meinen Eltern, und Mutter musste die ganze Zeit meckern, weil sie immer meckerte, einerseits über den Fahrstil meines Vaters, andererseits über die Sozialisten, die uns alles wegnehmen wollten, sogar unsere schöne D-Mark, denn die Sozialisten kassierten sie in Form des Zwangsumtausches. Pro Person mussten täglich 25 Westmark in die nutzlose Ostmark getauscht werden, die wir nicht brauchten, da wir ja bei unseren Verwandten schliefen und von ihnen mit Bockwürsten und Bier durchgefüttert wurden. Dass man aber den Zwangsumtausch auch dazu benutzen konnte, Schwarzweiß-Super-8-Filme zu kaufen, das merkte ich erst, als ich alleine im Land war. Während ein Schwarzweißfilm im Westen gut das Doppelte eines Farbfilmes kostete, war das ORWO-Material nach offiziellem Eins-zu-Eins-Umtauschkurs genauso teuer wie das Farbmaterial. Wenn man das Geld schwarz tauschte, waren diese Filme spottbillig. Oder sogar geschenkt, denn meine Verwandtschaft spendierte mir gleich einen Zehnerpack. So nett waren die. Das konnte ja nicht nur an dem bisschen Kaffee liegen, den ich als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Aber der Kaffee war der greifbare kleinste Teil einer großen Vision, die wohl darin bestand, dass die Menschheit von quälenden materiellen Sorgen befreit werden könne und diese Vision wurde auf mich, den Überbringer, projiziert, während ich wiederum die Vision hatte, dass die Nettigkeit meiner Onkels und Tanten ebenfalls Teil einer größeren Vision sei, die die Menschheit von ihren Materialismus befreien möge, da der Materialismus sowieso nicht zur Zufriedenheit führt und viel zu viele negative Nebenwirkungen hat. Das schlussfolgerte ich, weil ich meistens unzufrieden war, obwohl ich doch in der sagenumwobenen Bundesrepublik der ausgehenden 80er-Jahre lebte. In dieser Zeit an diesem Ort hatte man eigentlich keine Probleme, außer der kleinlichen Angst, es könne einen atomaren, alleszerstörenden Krieg geben oder einen Bundeskanzler, der Franz Josef Strauss hieße. Ja, ich gebe zu es, ist eine naive „Früher war alles besser“-Haltung, wenn ich die Vor-Wende-Bundesrepublik als gute alte Zeit empfinde. Aber es ging mir so gut, dass ich nur Wohlstandsprobleme hatte und wenn man mich gefragt hätte, ob ich auch im Osten leben könnte, dann wäre es mir sehr schwergefallen, mit Ja zu antworten, denn erstens gab es dort all die Schallplatten, die schon bei uns in der Provinz nur mit Mühe zu kriegen waren, überhaupt nicht, zweitens hatten die im Osten schlechte Zähne. Später wurde zwar behauptet, das Gesundheitssystem im Sozialismus sei so gut gewesen. An den Zähnen der Durchschnittsbevölkerung konnte man das nicht ablesen. Auf der Straße traf man kaum jemanden, der ein hübsches Lächeln bieten konnte und das Gebiss meiner Tante sah wirklich zum Fürchten aus. Das gefiel mir überhaupt nicht. Drittens war es im Westen inzwischen selbstverständlich, dass man als junger Mensch alleine in einem Zimmer leben durfte. Kein eigenes Zimmer für mich zu haben, schien mir in der Tat als nicht hinnehmbarer materieller Mangel. Wo, oder vielmehr wann sollte man denn in Ruhe onanieren, wenn man die Studentenbude mit einem Kommilitonen teilen musste? Mehrbettzimmer waren in den sozialistischen Studentenwohnheimen die Regel, naja, das hätte ich umgehen können, indem ich erst nach dem Diplom übersiedelte, was aber nie zur Debatte stand. Stattdessen ergab es sich, dass ich gar nicht mehr rüber durfte, was aber auch nicht schlimm war, da sich das ideologisch umstrittene Gebilde DDR etwas später unterwartet von alleine auflöste.


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