„Medialismus“, Roman: 27. Kapitel

ralfcschusterIn den folgenden Wochen entspannte sich meine berufliche Situation noch weiter, da ich durch eine glückliche Fügung bei einer Seifenoper gelandet war. Nicht als Kameramann, sondern als Kameraassistent. Damals drehte man Fernsehserien auf 16 mm. Aber ich war bei den Pionieren der Billigunterhaltung gelandet, die erkannt hatten, dass Fernsehreportagekameras für die Umsetzung ihrer banalen Handlungsstränge durchaus gut genug sind.

Die meisten Kameramänner bei den Serienfilmproduktionen waren zehn bis zwanzig Jahre älter als ich und hatten ihr Leben lang immer mit chemischem Film gearbeitet. Aus Angst vor Kontrollverlust misstrauten sie den Videokameras und redeten auffällig oft davon, dass sogenannte Drop-outs entstehen könnten, also schadhafte Stellen auf dem Magnetband, die zu einer Bildstörung führen. Ich war dazu da, den Kameramann von dieser Angst zu befreien und wurde gut dafür bezahlt. Die schauspielerisch gelungenen Takes musste ich daraufhin checken, ob sie technisch gesehen ordentlich aufgezeichnet waren. Wenn ich dann die entsprechende Aufnahme vorspielte und keine Störungen entdeckte, waren alle erleichtert.

Seifenopern dreht man in einem Studio, das man sich als Mischung aus Möbelhaus und Lampenladen vorstellen muss. Unten sind die einzelnen Handlungsorte aufgebaut, also die Stammkneipe, Kinderzimmer, Wohnzimmer, Küche. Oben drüber hängen unglaublich viele Scheinwerfer. Die Schauspieler und diejenigen, die als solche bezeichnet werden, spielen dann ihre Dialoge und werden von drei bis vier Kameras gleichzeitig gefilmt. Ab und zu muss dann doch mal eine Szene in der realen Welt gedreht werden, also auf Straßen oder im Wald, aber auch an Schauplätzen, für die es sich nicht lohnt, sie im Studio aufzubauen: Schwimmbad, Fitnessstudio, Parkhaus. Ich war bei dem Team, das nur diese Aufnahmen außerhalb des Studios drehte, wofür zwei bis drei Tage pro Woche veranschlagt waren, anstrengende, lange Tage, meist Donnerstag und Freitag. In der Regel hatte ich danach fünf Tage lang frei. Also zunächst am Wochenende entspannen und dann blieben noch zwei oder drei Tage für die eigenen Filme.

Im Hinterhofkino startete der Hinterhofkinoprogrammdirektor eine wöchentliche Reihe mit unabhängig produzierten Kurzfilmen. Um sicher zu sein, dass meine Werke regelmäßig vertreten wären, half ich bei der Organisation und versprach, ab und zu auch mal als Vorführer mitmachen zu können. Allerdings stellte sich bald heraus, dass Super-8-Filme nur die Ausnahme bilden sollten und deshalb brauchte ich dringend noch mehr Werke auf 16 mm. Auch in anderen Bars, die sich kulturell ein bisschen aufplustern wollten, hatte man inzwischen einen der unzähligen tschechischen Filmprojektoren in der Ecke stehen, die alle angeblich aus irgendwelchen DDR-Kulturinstitutionen stammten. Je nach angestrebtem Subkulturintensitätsgrad gab es wöchentlich, monatlich oder unregelmäßig Filmabende mit den Werken der cineastischen Basis, zu der ich mich zählen durfte.

Unterdessen hatte ich zwei kurze und sehr einfache Zeichentrickfilme auf 16 mm fertig, der dritte war in Arbeit. Da ich mir in den Kopf gesetzt hatte, diesmal alle Zeichnungen farbig auszumalen, gab es an meinen vielen freien Tagen viel zu tun, damit ich bei vielen Filmabenden mit dabeisein konnte. Viele Zuschauer gab es da leider nicht. Fünfzehn bis fünfzig, manchmal auch nur fünf. Wenn dann die Filme zu Ende waren, kamen Gäste, die nur trinken wollten und quatschten schlau daher. Filme? Wie interessant, was denn für welche, muss ich mir mal anschauen. Aber dann nie wieder auftauchten. Stattdessen kamen immer wieder Bekannte und solche, die es werden wollten. Martins und Achims Vorsprung, was ihr Spezialwissen bezüglich origineller Szenekneipen anging, schrumpfte schnell und bald war ich derjenige, der den besten Überblick hatte, in welchen Kellern und Hinterhöfen die exklusivsten Bars und Veranstaltungsorte zu finden waren. Damals bürgerte es sich plötzlich ein, jeden banalen Tresen, an dem ein paar Trinker lehnten und dabei Musik hörten, als Club zu bezeichnen. Ich verbrachte viel Zeit unterwegs im Nachtleben, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, wo ich mich mit meinen Filmen reindrängeln konnte, um dabei zu sein, wenn einer der vielen Filmabende stattfand.

Abgesehen von meinen Arbeitstagen bei der Seifenoper oder anderen Kameratagelöhnerjobs konnte ich lang schlafen, ausgiebig Kaffee trinken und dann zeichnen. Manchmal kam jemand vorbei, um mir dabei zu helfen, am häufigsten Marianne. Ihr Leben beim Akkordeonlehrer schien gar nicht so quälend zu sein, wie von ihr vorhergesehen. Das gab sie aber nicht zu. So wie sie redete, war die Welt ihr gegenüber grundsätzlich feindselig und stellte sich ihrem Schreibbedürfnis in den Weg. Das Schreiben musste in einem permanenten Kampf gegen diese Widrigkeiten verteidigt werden.

Die Angst, zu versagen und ganz hineinzufallen in die Geborgenheit der kapitalistischen Lohnarbeit kostete uns alle eine Menge Kraft. Marianne war noch ganz unschuldig: Ein paar Semester Germanistik und Kulturwissenschaften, dazu ein paar Literaturwettbewerbe und das Stipendium, da hatte sie noch ein paar Jahre, um sich zu positionieren, aber ich merkte trotzdem, wie sie das, was ihr eigentlich helfen sollte, das Studium und das Stipendium, als Widerstand empfand. Henry dagegen war ganz hineingetaucht in die Propagandamaschinerie des Autokonzerns, und wenn wir ihn ab und zu mal zuhause antrafen, schwärmte er nicht nur von den schier unbegrenzten Möglichkeiten und Budgets, die seiner Agentur zur Verfügung standen, sondern auch von technischen Details und Design-Finessen, die jenen Fahrzeugen, für die er die Werbekampagne bestritt, zu eigen seien.

Er erzählte davon in seiner charmanten intellektuellen Art, während ich an den Bildern für den Zeichentrickfilm herumkritzelte. Es war eine Freude, ihm zuzuhören. Kritisch und bewundernd zugleich beschrieb er, welcher technische und organisatorische Aufwand betrieben wurde, um die bestmöglichen Fotos an den schönsten Orten der Welt zu machen und, sofern nötig, auch noch die schönsten Frauen der Welt daneben zu stellen, neben das Auto. Aber bald sei das ausgereizt, meinte er, inzwischen werde ja jeder Kaugummi mit einem Hubschrauberflug über die Skyline von Manhattan beworben, das ginge nicht mehr lange so weiter. Da kommt dann irgendwann jemand, der macht eine Werbekampagne, die sieht SO aus, und dabei deutete er auf die Trickfilmzeichnung, an der ich gerade arbeitete. Bestimmt nicht, das ist viel zu schlampig, meinte ich, doch Henry ließ sich nicht beirren. Ihm würden die Zeichnungen gefallen, das sei so ein schöner Gegenentwurf zu dem super-perfekten Design, das er bei der Arbeit abliefern müsse. Irgendwann werde ein Marketingexperte diesen Stil als zielgruppenrelevant erkennen und ausnutzen. Auch eine Ästhetik, die aus der Abgrenzung entstanden sei, könne instrumentalisiert werden, es ginge nur darum, die Kommunikationskanäle soweit einzugrenzen, dass die Zielgruppen herausgefiltert werden könnten. Da die Digitalisierung langsam in Fahrt käme, sei er zuversichtlich, dass wir diese Eingrenzung der Kommunikationskanäle noch erlebten und dann werde die Werbung wie ein Kumpel sein und könne auch schäbig, schlampig oder extravagant daherkommen.

Ich widersprach: Alles analog, und deutete auf die Zeichnung, außerdem sei meine Zielgruppe klein und werbefeindlich. Sie solle vor dem Kapitalismus geschützt und ihm nicht ausgeliefert werden. Ich glaube, Henry durchschaute gleich, wie blauäugig ich in dieser Hinsicht war. Er versuchte mir zu erklären, was ich nicht verstehen wollte: Auf meine Zielsetzung käme es gar nicht an, ich habe da alle Freiheiten, aber es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand sich in den Kopf setze, meine Zielgruppe mit meinen Stilmitteln anzubaggern. Jahre später, als ich den Fischfilm, den ich damals malte, ins Internet stellte, erschien daneben tatsächlich eine Werbung für Aquarien und Zierfische. Da fiel mir wieder ein, was mir Henry damals gesagt hatte und atmete auf, denn die Zielgruppentreffgenauigkeit war zweifellos mangelhaft. Ich glaube nicht, dass die Menschen, die meinen Zeichentrickfilm ansehen, Zierfische kaufen wollen.

Die Geschichte des Zeichentrickfilms handelte von einem kleinen Mädchen, das beim Angeln ins Wasser fällt und dabei in das Fischernetz eines großen Schleppers gerät. In der Fischfabrik wird sie in letzter Sekunde gerettet. Das hatte nichts mit Systemkritik zu tun, aber alle, die ich kannte, empfanden es als Erleichterung, dass es eine Subkultur gab, die außerhalb der Mechanismen der Unterhaltungsindustrie existierte. Damit man diese Subkultur als solche erkennen konnte, war es gut, wenn sie kritzelig und ungelenk daherkam. Ich gab mir beim Zeichnen wenig Mühe. Ein begnadeter Zeichner war ich sowieso nicht. Aber genau das war mein Stil, den ich in seiner Schlampigkeit pflegte, um die Distanz zu den professionellen Filmen groß zu halten.

Weil ich auch die Hintergrundflächen in jedem Bild mit Buntstiften oder Wachsmalkreiden von Hand ausmalte, waren die Filme sehr unruhig und flimmernd. Jeder meiner vielen freiwilligen Gehilfen, die ich am Wochenende zu Kaffee, Kuchen und Wein in unsere WG einlud, hatte einen anderen Stil, was diesen Effekt noch verstärkte. Henry kolorierte ganz präzise, aber er hatte gleich einschränkend gesagt, er werde nur Kleinigkeiten ausmalen, zum Beispiel Schuhe oder Mützen, keine großen Flächen. Ulrich war auch ordentlich, allerdings drückte er die Stifte nicht richtig auf, so dass es bei ihm immer blass und nach Pastellfarben aussah. Marianne hingegen war praktizierende Ausmalanarchistin, die sogar große Hintergründe kreuz und quer kritzelte, wie es kleine Kinder machen. Achim versuchte es ordentlich, schaffte das aber nie, manchmal verwechselte er sogar die Farben. Sabine war stilistisch merkwürdig uneinheitlich. Beim ersten Mal hatte sie ihr Kind dabei und schraffierte ein paar große, blasse Flächen, dann musste sie sich um ihre quengelnde Tochter kümmern.

Ein paar Wochen später kam sie allein. Diesmal bemalte sie mittelgroße Flächen von außen nach innen. Wie bei einer Landkarte, sagte ich, und sie meinte: Wie eine Geografin. Ob sie sich denn als Geografin fühle, fragte ich, aber sie meinte, sie fühle sich vor allem als Mutter, auch wenn sie zurzeit einige Seminare besuche. Mehr Seminare als in der Zeit vor der Schwangerschaft. Sie wisse ja gar nicht mehr, was sie damals alles vom Studieren abgehalten habe. Rückblickend erschien es ihr, als sei überhaupt keine Zeit zum Studieren gewesen, ständig Verabredungen und wichtige Veranstaltungen, all diese bedeutenden Kultur-Events, Filmfestspiele, Biennalen und Ausstellungseröffnungen, Wochenendausflüge, Kurztrips quer durch Europa und ab und zu auch mal eine Affäre, wobei die Wochenendausflüge und Kurztrips meist mit den Affären gekoppelt gewesen seien und die Kultur-Events und Ausstellungseröffnungen dazu gedient hätten, diese einzuleiten.

Jetzt habe sie NUR das Kind, das durchaus seine Zeit beanspruche, aber das sei letztendlich eine gute Zeit. Ansonsten kümmere sie sich um das Studium, das so gut wie fertig sei. Und dann? fragte ich, obwohl es mich gar nicht interessierte. Eigentlich wollte ich mehr über Sabines Affären hören, aber das Und dann? war reflexartig herausgerutscht und ebenso reflexartig begann Sabine wieder davon zu erzählen, dass sie sich eine Doktorandenstelle unter den Nagel reißen könne, in Berlin oder anderswo, wobei das anderswo mit dem Kind nicht mehr so günstig sei wie damals, als sie kinderlos war. Während sie erzählte, kreiste ihr Stift beim Ausmalen und sie schaute ihn konzentriert an. Die langen blonden Haare fielen mit den Spitzen bis auf das Papier und bildeten eine Verbindung zwischen ihr und der Zeichnung. Schließlich bemerkte sie, dass ich sie anschaute und warf mir einen kurzen liebevollen Blick zu, dessen Interpretation mich in Zweifel stürzte. Sollte er bedeuten, dass sie dringend die nächste Affäre brauchte, und zwar mit mir, oder war es die kumpelhafte Beschwörung, dass wir uns, nach all den Affären, die sie mit anderen haben würde, immer noch gut verstehen könnten?

Vermutlich Letzteres, denn als sie weiter über ihre Berufsaussichten redete, ließ sie sich doch noch zur Schilderung einer unergiebigen Liebschaft mit einer Person aus dem Lehrkörper, wie sie sagte, hinreißen. Das ließ offen, ob es sich um einen Assistenten, einen Dozenten oder einen Professor gehandelt hatte. Doch wie ich sie inzwischen einschätzte, war es mindestens ein Professor gewesen, wenn nicht sogar der Institutsleiter. Der Sex sei so fade und die dazugehörige Person so eingebildet gewesen, dass sie verbrannte Erde habe zurücklassen müssen und jetzt sei die von ihr zunächst als gut eingeschätzte Jobperspektive extrem aussichtslos. Es sei in der Tat sehr töricht von ihr gewesen, sich auf dieses Verhältnis einzulassen, aber der Charme und die tadellosen Maßanzüge der fraglichen Person hätten sie schwach werden lassen. Im falschen Moment und als strategische Maßnahme zur Verbesserung der Karriereperspektive für einen viel zu kurzen Zeitraum. Er habe es ja darauf abgesehen gehabt, dass sie einmal pro Woche seine Fickgespielin sein sollte, vielleicht auch noch auf zwei Dienstreisen pro Jahr, aber bei ihr sei die sexuelle Anziehung ganz schnell in puren Ekel über die Selbstgefälligkeit der fraglichen Person umgeschlagen. Jetzt habe sie den Salat. Wenn sie bis zum Ende ihrer Diplomarbeit das unkritische Betthäschen geblieben wäre, sähe alles besser aus.

Dann schnappte sie sich eine neue Zeichnung und malte einen Fisch knallrot an, was falsch war, die Fische mussten bräunlich-grün ausgemalt werden. Aber ich war von ihren offenherzigen Ausführungen so überrascht, dass ich darauf verzichtete, sie wegen dieses Fehlers zurechtzuweisen.


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3 Kommentare zu „„Medialismus“, Roman: 27. Kapitel

  1. Mir ist ein witziger „freudian slip“ passiert:
    Ich hatte den Satz: “ Ihr Leben beim Akkordeonlehrer schien gar nicht so quälend zu sein, wie von ihr vorhergesehen“ gelesen als „…wie von ihr vorgesehen“.
    Da der Autor ja offenbar auch gerne ein wenig als Therapeut fungiert, gerade hinsichtlich Marianne, ist dieser slip eigentlich sogar naheliegend.

    @Stefan: ist „nach all den Affären, die sie mit anderen haben würde“ korrekt?

    Dieses Kapitel ist sehr gut. Wir hatten es ja bei Dennis gehört und es nochmal nachzulesen, ist. schon etwas Besonderes.

    Danke

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  2. @Gerhard: Gute Frage. Eigentlich könnte es auch „die sie mit anderen gehabt hatte“ heißen (Bezug: Vergangenheit), aber die Phrase kann sich natürlich (warum nicht?) auch auf die Zukunft beziehen – weswegen ich sie so gelassen habe, wie sie der Autor schrieb. Aber du hast schon recht, es ist eine ungewöhnliche Konstruktion.

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