Feinbergiana 06

(Publiziert 1923.)

Die Zeitangaben in allen Protokollen beziehen sich auf die Interpretationen von Nikolaos Samaltanos (Sonaten 1, 4, 5, 9, 10 und 11) und Christophe Sirodeau (Sonaten 2, 3, 6, 7, 8 und 12) aus den Jahren 2003 und 2004, die als MP3-Download erhältlich sind: Sonaten 1 – 6, Sonaten 7 – 12

[Semantisierendes Echtzeit-Hörprotokoll] 0:10 – Etwas sehr minimal, das Ganze (0:27). Nur drei Töne, wie Glockenschläge einer alten Standuhr. 0:49 – Einer dieser Ausbrüche. Dann wieder die Glockenschläge (1:02). Unangenehme Angespanntheit jetzt. Der nächste Ausbruch kommt bestimmt, in gewohnter Heftigkeit. Da ist er auch schon (1:51). Anschließend (2:05) ein ganz merkwürdig vegetatives Zucken, das aber nicht besonders lange anhält. 2:20 – Die üblichen Zerrissenheiten und Aufgeregheiten, diesmal aber als relativ strenge Varianten der Glockenschläge. 3:58 – Unvorbereitetes und unerwartetes Hereinbrechen eines Dur-Akkordes; hat was Absurdes, Gekünsteltes. 4:27 – Das entspannte Gegenthema, im falschen altväterlichen Plauderton, aber es hält sich nicht lange … oder doch (5:00)? Ja, doch, es kämpft an gegen die ewige Hysteriebereitschaft, den ewigen Willen zur Apokalyptik, die sich jedoch ab 5:20 wieder sehr hübsch und hemmungslos allmählich Bahn brechen darf. Aber nie so ganz, ohne im Dialog mit dem fremdartigen Dur-Akkord zu sein. Dynamisches Gleichgewicht aus Chaos und Erhabenheit nun (6:00), wie eine akustische Doppelbelichtung zweier Bilder, die nichts gemeinsam haben. 6:55 – Die Glockenschläge sind zurück, verunklärt von querliegenden, zerstreuten Akkorden, die von irgendwo her kommen, keine Ahnung woher. 7:50 – Die Harmonik bekommt etwas Metallisches, das ist neu. 8:10 – Unangekündigte Kompletterschöpfung, aber nur kurz, dann verzagte Grübeleien über das Glockenschlagthema. 8:50 – Entfernter mysteriöser Metall-Akkord. Woher kommt jetzt der wieder, aus welchem entfernten Hirnwinkel? 9:00 – Sich weiter entfernende Erinnerung an die Glockenschläge. 9:50 – Der Metall-Akkord macht sich immer breiter. 10:20 – Beunruhigte Selbstbefragung, kurz kehrt der alte Aufruhr wieder, dann wieder das gravitätische Gegenthema, das aber niemals ausreden darf, um seine sedierende Wirkung wirklich entfalten zu können, permanent wird es von Panikattacken unterbrochen. 11:00 – Tumult komplett unvereinbarer Empfindungen. 12:05 – Stille, natürlich ganz unvermutet. 12:10 – Noch entferntere Erinnerung an das Glockenthema, verunklart und verschmiert mit Metall-Akkorden, die kein Oben und kein Unten mehr kennen. Eher Erschöpfung als Beruhigung. 13:00 – Die Dinge verlieren ihre klare Form, die Form überhaupt löst sich auf, es gibt nur noch locker miteinander verbundene (?) unklare Eindrücke. Der sedierende Dur-Akkord und sein metallischer Gegenspieler lösen sich nun permanent gegenseitig ab, ohne dass einer die beiden langfristig die Oberhand zu gewinnen vermag. Dann – ganz am Ende – doch der Dur-Akkord, um des lieben Friedens Willen. Und ein einzelner Basston.

Zusatz (gehört nicht zum Protokoll) Die Chaos-Krise der vierten Sonate, der die Laschheit und Unentschlossenheit der fünften folgte, scheint Feinberg hier, hm, überwunden zu haben, er gestaltet wieder mehr, anstatt sich komplett dem Strom widersprüchlicher Empfindungen zu ergeben. Insgesamt eine der besten Sonaten aus den mittleren Jahren, denn sie schafft es über ihre Viertelstunde, die psychologische Spannung aufrechtzuerhalten, ohne in Klischees zu verfallen (gut, manchmal ist es nahe dran). Eine Art apokalyptischer Mystizismus scheint sich anzukündigen, der jedenfalls nichts Romantisches mehr hat, aber auch nichts klassisch Modernes, eher schon ließe sich von esoterischer Gegenaufklärung sprechen, aber – wie gesagt – das wird nur als Möglichkeit angedeutet und nicht mit vollem Herzen ausgeführt. Erneut diese meisterhaft auskomponierte Verstörtheit / Zerrissenheit, hier liegt Feinbergs vermutlich singuläre Qualität, denn es ist eine viel schutzlosere, auch „nervigere“ Verstörtheit als etwa die dies „Sacre“ Strawinskis, die immer genau weiß, was sie da tut. Psychologisch (nicht musikalisch) erinnert mich das eher an Bartóks “ Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ (die allerdings erst 13 Jahre später erschienen).


Konzept und Inhaltsverzeichnis des Projekts „Feinbergiana“

5 Kommentare zu „Feinbergiana 06

  1. Die Feinbergiana-Hörprotokolle inkl. nachgestellter Zusätze finde ich sehr interessant, offen, ehrlich, phasenweise auch schmerzhaft introspektiv bzw. selbstanalytisch. Bzgl. musikalischer Reflexion auf jeden Fall mal ein für mich neuer Zugang, der mich stark an das Prinzip des Stream of Consciousness (Bewusstseinsstrom) erinnert. Das funktioniert vermutlich mit unbekannter, instrumentaler Musik am besten, vollkommen werkimmanent und hermetisch, geradezu isolatorisch. Spannend zu lesen, aber wie ist es für dich, wenn die Musik gehört und das Protokoll geschrieben ist? Ein gelungenes Experiment? Oder ein harter Ritt? Kannst du das schon beurteilen?

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  2. @Dennis: Danke für das Feedback. Ja, das Ganze ist eine Art Creative-Writing-Übung nicht ohne Härten, aber mit letztlich therapeutischer Wirkung!

    Jetzt bin ich ja mit der Hälfte durch und ich merke bereits, dass sich meine Wahrnehmung der Musik geändert hat. Gerade die sechste Sonate z. B. konnte ich schon nicht mehr ganz so unbefangen wahrnehmen wie bsp.weise die fünfte, die ich erst einmal oder zweimal gehört hatte. Da hatte sich wirklich bereits eine (minimale) „Hörgeschichte“ zwischengeschaltet. Habe versucht, dem sprachlich im Protokoll Ausdruck zu geben: „Einer dieser Ausbrüche“ impliziert ja, dass man „weiß“, was jetzt kommt.

    Auch hatte ich gerade bei diesem Protokoll Mühe, jegliches Bildungswissen herauszuhalten. Nicht, dass Bildungswissen falsch wäre, aber bei den Protokollen (siehe Konzept) geht es ja gerade nicht um sowas, also die Bildung abstrakter Analogien zu vorhandenem musikalischem Wissen, sondern ausschließlich um die Gefühlsebene! Gleich mehrfach rutschten mir Passagen wie „Klingt nach Rachmaninoff / Cecil Taylor / Beethoven“ etc. rein, die ich dann wieder gestrichen habe. Sie hätten dann im Protokollzusatz, der sozusagen im „Normalmodus“ läuft, Platz.

    Bei der Gelegenheit fiel mir – jetzt mal ganz allgemein gesprochen – auf, wie oft ich Emotionen, die Musik in mir hervorruft, sofort durch eine Bildungsanalogie „ruhigstelle“. Interessanterweise geschieht dies weniger bei Passagen, die mir gut gefallen (da scheint dieser Mechanismus nicht „notwendig“ zu sein, aber warum?), sondern bei Passagen, die unklare, widersprüchliche oder negative Emotionen auslösen. Reflexhaft versuche ich dann, diese Emotionen sofort zu intellektualisieren, um sie ihrer (schädlichen?) Wirkung zu berauben.

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  3. Gewöhnlich ist das so, daß man dem Schrecken einen Namen gibt.
    Man schiebt nicht Integrierbares ab.
    Ich habe erst heute einen kleinen Artikel gelesen, in dem eine Therapeutin davon spricht, sich zwar unbedingt emotional vom Patienten berühren zu lassen, dabei aber die Verstrickung hin zum Mitleiden aus dem Weg zu gehen, um so besser helfen zu können.

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  4. @Gerhard: Logisch, kein Therapeut würde es aushalten, immer komplett „mitzuleiden“. Das ist übrigens auch meine Kritik am christlichen und wohl auch buddhistischen Imperativ des „Mitleidens“ – neben allem Sinnvollen hat diese Forderung auch etwas Unmenschliches, denn sie erfordert eine Art „Übermenschen“, also jemanden, der komplett einfühlsam ist und dennoch immer das Heft des Handelns in der Hand behält. Solche Persönlichkeiten mag es geben – ich gehöre aber jedenfalls nicht zu ihnen, das ist schon mal klar.

    Echtes Mit-Leiden – so meine Erfahrung – kostet richtig Kraft, es ist eine echte Anstrengung und immer auch ein wenig Abenteuer mit offenem Ausgang, denn man weiß ja nie, was das Elend des Anderen in einem so antriggert. Ich bin in dieser Beziehung (leider) hochsensibel und muss mich ständig schützen. Das passt nun aber so gar nicht zu meiner rabiaten Neugier und meinem schnellen Gelangweiltsein, will sagen, meinem gargantuesken Bedürfnis nach Abwechslung … und schon haben wir ein habituelles (d. h. chronisches, nicht etwa situatives) Problem – mit dem ich sicher nicht allein stehe, oder?

    Als ich oben zu Dennis sagte, die Feinberg-Protokolle hätten eine „therapeutische Wirkung“, so meinte ich das im Sinnne einer geregelten Selbstbeobachtung, also einem „Experiment mit sich selbst“ (siehe Konzept), bei dem ich (das haben Selbstbeobachtungen nun mal so an sich) gleichzeitig Proband und Versuchsleiter bin. Wissenschaftlich imprägnierte Menschen mögen einen derartigen Versuchsaufbau für kompletten Humbug halten, da scheinbar die objektive Kontrollinstanz (z. B. ein externer Versuchsleiter) fehlt, aber ich beziehe mich hier, ich sagte es bereits, auf die durchaus ernstzunehmende wissenschaftliche Denkpsychologie in der Tradition von Otto Selz, Oswald Wiener und Thomas Raab, von der wir in den kommenden Jahren evtl. noch etwas mehr hören werden 🙂 Diese beschäftigt sich zwar bisher hauptsächlich mit der Selbstbeobachtung bei der Lösung möglichst exakt umreißbarer Sachprobleme (Lösung mathematischer Aufgaben z. B.), ich denke aber, meine „Echtzeit-Hörprotokolle“ sind nicht allzu weit von diesem Ansatz entfernt (wenn auch natürlich nicht im engeren Sinn als „wissenschaftlich“ zu bezeichnen).

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  5. Mit widerstreitenden Gefühlen bist Du sicher nicht allein. Ich bin ein angstvoller Mensch, leide manchmal unter den Grenzen, die mir diese Angst auferlegt. Nachdem mir aber gelegentliche Grenzüberschreitungen gezeigt haben, daß sie gefährlich für mich sind, vermeide ich die „Axt im Walde“ und begnüge mich.
    Keiner aber sagt oder sage, daß ein zurückhaltendes Leben gleichbedeutend ist mit „nicht gelebtem Leben“. Das sehe ich definitiv nicht so. Da nehme ich mich raus.

    Elend konnte ich früher besser an mich ranlassen. Das ist jetzt, so denke ich, nicht mehr so einfach. Da das „Ich“ ständigem Wandel unterlaufen ist, können sich da durchaus Dinge verschoben haben. Das muß einen nicht wundern!

    „Selbstaufschreibung“, so nenne ich es mal, kenne ich, aufgeschnappt, als eine der vielen therapeutisch-dialogischen Methoden. In jedem Fall beachtenswert, diese Versuche.
    Vielleicht vergleichbar mit einem Tagebuch, bei dem man vor allem deswegen schreibt, um durch den Schreibprozess ein Stück mehr von sich zu erfahren. Das Schreiben kann weiten und Aspekte bemerkbar machen, die bei blosser Gedankesarbeit so ohne Weiteres nicht sichtbar werden.

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