„Medialismus“, Roman: 33. Kapitel

Ralf SchusertMeine eigenen Projekte legte ich erst einmal auf Eis und wollte es mir gut gehen lassen, was aber in vielerlei Hinsicht nicht richtig klappte, weil Tina inzwischen zwanzigtausend Kilometer entfernt war.

Ich versuchte, mich mit anderen Genüssen bei Laune zu halten, vor allem mit Whiskey, was damals gut funktionierte und die Zeit schnell vergehen ließ. Als schmerzlich empfand ich den Gedanken an Tina nur, wenn wieder eines der Blätter vom Gummibaum gefallen war. Dann überfiel mich eine plötzliche Melancholie, die allerdings nicht lange anhielt. Ab und zu betrank ich mich mit der Regieassistenz, vor allem dann, wenn wir nach der anstrengenden Arbeit dringend Entspannung zu brauchen glaubten.

An einem der freien Tage besuchte ich Achim, um mich nach seiner Lage zu erkundigen. Da musste ich feststellen, dass er schon wieder ganz in seine ABM-Maßnahmen-Hysterie verfallen war. Vom großen Regisseur wollte er nichts hören, wie der Film voranging, interessierte ihn nicht. Nach seinem unrühmlichen Abgang verstand ich das. Trotzdem hatte ich mir erhofft, dass er einen mitfühlender Zuhörer abgeben würde, da er die verquere Gruppendynamik kannte und vielleicht Freude daran hatte, wenn ich über den zwanghaften großen Regisseur und den eifrigen Eddi lästerte. Aber dem war nicht so.

Trotzdem besuchte ich ihn eine Woche später nochmals, da mir niemand besseres einfiel. Da saß unerwartet Marianne bei ihm im Schlafzimmer und tippte auf einen kleinen, aber ungemein klobigen Laptop ein. Es sei sehr passend, dass ich gerade hereinschneie, sagte sie, der richtige Zeitpunkt, um einen gemeinsamen Kaffee zu trinken. Während sie mir erklärte, dass Achim es tatsächlich geschafft habe, das für ihre Unterbringung gedachte Stipendiengeld in Bargeld zu verwandeln und sie nun dabei sei, Achims Schilderungen der ABM-Maßnahmen in ein Theaterstück zu verwandeln, quälte ich mich in Gedanken mit der Frage, warum die beiden so eine Geheimnistuerei um ihr Projekt machten. Marianne hätte sich längst bei mir melden können. In seiner Geschwätzigkeit hatte Achim immer wieder unbeabsichtigte Andeutungen fallen lassen, aber nie etwas verraten. Stattdessen war er meinen Fragen ungeschickt ausgewichen.

Achim schlafe zurzeit auswärts in einer WG, sagte mir Marianne, bei Kollegen aus seiner ABM-Maßnahme. Aber es seien tägliche Besprechungen zwischen ihr und ihm vorgesehen, um am Text zu arbeiten, oder vielmehr arbeite sie am Text und Achim versorge sie mit Informationen und Hintergrundwissen. Sollte ich sie fragen, seit wann sie sich schon in der Stadt aufhielt? Dass sie mich nicht darüber auf dem Laufenden hielt, wenn sie sich hier einquartierte, enttäuschte mich. Aber ich ließ mir nichts anmerken.

Die Schilderungen von Achims Berufsleben, das ja nur ein vermeintliches sei, eine Simulation, hätten sie beeindruckt, aber weder im positiven noch im negativen Sinn, sondern in ihrer Beispielhaftigkeit für die Entfremdung, die nicht nur symptomatisch für so eine ABM-Maßnahme sei, sondern für weite Bereiche des modernen Arbeitslebens.

Kannte Marianne eigentlich irgendein modernes Arbeitsleben? fragte ich mich. Außer ihrem eigenen, das ja nur darin bestand, zu schreiben und somit ein untypisches war. Woher nahm sie also ihre Weisheiten über Entfremdung und Werteverlust?

Sie behauptete, dass der Zwang zu einer nutzlosen und nur vorgetäuschten Arbeit, wie er ihr von Achim geschildert worden sei, einer Entwertung der Arbeitskraft gleichkomme, ein Prozess, der die Psyche der Betroffenen beeinträchtige.

Dem konnte man kaum widersprechen, diese Aussage war banal. Alles beeinträchtigt die Psyche, sagte ich, auch meine Tätigkeit als Tonmann hätte sich inzwischen als sehr belastend herausgestellt. Das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen, aber es kam einfach aus mir heraus und verhinderte, dass ich mich in kleinlichen Vorwürfen erging, an denen Marianne unschwer hätte erkennen können, dass ich beleidigt war. Der große Regisseur habe uns mit leeren Versprechungen eingefangen, uns versprochen, die digitale Aufnahmetechnologie ermögliche eine kollektive Kreativität, was aber gar nicht stimme, es sei immer nur der große Regisseur selbst, der alle Entscheidungen treffe. Insofern habe sich die Digitalität als Mogelpackung erwiesen.

Das sei ein falscher Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, widersprach Marianne. So wie sie Achims Schilderung der Dreharbeiten verstanden habe, sei es völlig egal, ob die Kamera digital oder analog arbeite, es gehe einfach darum, dass sie billig sei. Und dass nicht nur die Technik billig sei, sondern auch die Leute, die damit arbeiteten, speziell der Klappenschläger.

Da musste ich Marianne Recht geben, warf aber ein, dass diese Verbilligung, sei sie nun technischer oder personeller Natur, mit einem Qualitätsverfall verbunden sei. Schon während dich das sagte, erschien mir mein Argument fragwürdig, aber es ergab sich wohl aus dem Gefühl heraus, dass ich mich vom großen Regisseur als billiges Tonangelhaltepersonal verheizt fühlte.

Marianne schlug mit ihrer Antwort genau in diese Kerbe: Dass ich selbst doch genau immer diese Lücke gesucht habe, also Rahmenbedingungen, unter denen der persönliche künstlerische Ausdruck über die technologischen und kommerziellen Rahmenbedingungen triumphiere – und nun würde ich das glatte Gegenteil behaupten! Denn wenn ich eine Verbilligung der Technik kritisch sähe, dann sei das ein Bekenntnis zur klassischen Künstler-Zweiklassengesellschaft: die einen hätten Zugang zu den Produktionsmitteln, die anderen nicht.

Weil ich Marianne leider erneut Recht geben musste, gelang mir nur noch ein kleiner, unwichtiger Einwand, indem ich darauf hinwies, dass die Bildauflösung unserer Kamera nicht einmal die einer analogen Videokamera erreiche, trotzdem stünden alle, die damit arbeiteten, wie hypnotisiert im Bann des Zauberwortes Digitalität. Damals war es in der tat so, dass die digitale Technik im Videobereich noch weit hinter den klassischen, aber teuren Analoglösungen hinterherhinkte. Erst zehn Jahre später ging es der verstaubten Filmtechnik so richtig an den Kragen und sie erlebte die gleiche Umwälzung, die die Audiotechnik bereits hinter sich hatte.

Die Diskussion zwischen Marianne und mir wurde unterbrochen, weil Achim nach Hause kam, oder sollte ich sagen: zu Besuch? Er brachte Kuchen und Gebäck mit und sollte eigentlich von seinen aktuellen Erlebnissen aus dem ABM-Alltag berichten. Durch meine Anwesenheit und die vorherige Diskussion ergab es sich aber, dass wir stattdessen erst einmal über meine Arbeit beim digitalen Spielfilm redeten. Diesmal tat Achim sehr interessiert und hatte einiges beizutragen, um Marianne den Eindruck zu vermitteln, dass er inmitten der strebsamen Zweit- und Drittliga-Filmkarrieristen, die sich dort versammelt hätten, fehl am Platz gewesen sei.

Als meine Kaffeetasse leer war, ließ Marianne Bemerkungen fallen, die mich zum Aufbrechen motivieren sollten. Sie müsse dringend weiter am Text arbeiten und zwar gemeinsam mit Achim, der noch seinen täglichen Rapport abzuliefern habe. Ich nahm das zur Kenntnis und leitete die Verabschiedung ein. Mein Versuch, mit den beiden eine Verabredung für das folgende Wochenende zu vereinbaren, erwies sich als schwierig, weil ich selbst noch nicht wusste, ob und wann ich zu arbeiten hatte und die beiden auch noch in einige ungeklärte Terminfindungsprozesse verwickelt waren. Immerhin meinte Marianne, bei der täglichen 16-Uhr-Kaffeepause störe ich nie, da könne ich an allen Wochentagen ohne Anmeldung vorbeikommen, und diese pauschale Einladung hellte meine getrübte Laune auf.

Als ich das Haus verließ, schien die tiefstehende Abendsonne warm und angenehm. Am liebsten hätte ich mich gleich in ein Straßencafé gesetzt, um ein Bier zu trinken. Die eine Szenekneipe, die bei Achim um die Ecke lag, hatte allerdings noch nicht geöffnet, die andere lag im Schatten. Also nahm ich erst einmal die U-Bahn und fuhr so, dass zwischen der Station, an der ich ausstieg und Tinas Wohnung ein schöner Biergarten lag. Allerdings sank die Sonne zu schnell. Genau in dem Moment, als mir die Bedienung das Bier auf dem Tisch stellte, verschwand sie hinter dem Schornstein der gegenüberliegenden Häuserzeile. Schon beim ersten Schluck fröstelte es mich. Ich hätte gleich nach Hause gehen sollen, sagte ich mir, obwohl ich keine Idee hatte, was ich an dem angefangenen Abend allein mit mir anfangen sollte. Außer müßigen Gedanken über Marianne nachzugehen und mich zu langweilen. In dem Biergarten langweilte ich mich nicht nur, ich fror auch noch.

Aber dann, als mein Bier fast leer war, kam tatsächlich einer der Moderatoren der Poetry Slams vorbei, sah mich und freute sich offensichtlich. Er sprach mich gleich an, denn er wollte am nächsten Mittwoch in einer neuen Bar eine neue Performancereihe eröffnen, und ich sei genau der Richtige, den er jetzt noch brauche, zumal ein anderer Performer, den ich noch nie leiden konnte, unerwartet auf eine Festgage bestand, und die könne er, der Moderator, nicht garantieren. Er hoffe aber auf üppige Einnahmen, weil die Bar ganz gut im Geschäft sei. Er habe schon längst vorgehabt, mich wegen der Teilnahme am Slam zu fragen, allerdings bisher versäumt, es tatsächlich zu tun. Besonders gut würde es ihm gefallen, wenn ich tatsächlich Filmprojektion mit Poetry verbinden würde. Das mache ja keiner außer mir, und das sei wirklich cool.

Er brauchte mich gar nicht zu überzeugen, ich war sowieso scharf darauf, aufzutreten, es gab nur das Problem, dass wir an diesem Mittwoch einen Drehtag hatten und niemand wusste, was der große Regisseur da aufnehmen wollte und wie lange es dauern würde, bis er alle seine Vorstellungen in digitale Videobilder umgesetzt hätte. Die Performance sollte erst um zehn Uhr abends losgehen. Wenn ich erst nach der Pause aufträte, wäre es ausreichend, um elf einzutreffen, wobei vorher die Frage geklärt werden musste, wann und wie der Projektor aufgebaut werden sollte. Ich wusste, dass mir diese Aktion eventuell eine Menge Stress und Scherereien einbringen würde, aber ich konnte nicht nein sagen, weil es mir ein Bedürfnis war, mitzumachen. Ich verabschiedete mich vom Moderator, um nach Hause zu gehen, denn jetzt wusste ich, wie ich den Abend verbringen wollte. Ich würde den Text für Mittwoch überarbeiten und proben.


Inhaltsverzeichnis

4 Kommentare zu „„Medialismus“, Roman: 33. Kapitel

  1. Hallo lieber Stefan/Lektor/Herausgeber,

    am Ende des Textes wurde der Link zum Inhaltsverzeichnis vergessen.
    Das ist insofern gerade heute bedeutend, da ich gestern das Inhaltsverzeichnis komplettiert habe, und jetzt sind die vorläufigen Überschriften bis zum Ende der Geschichte vorhanden. Für alle, die gern im Kontext der Gesamtzusammenhänge lesen, bietet sich jetzt ein grober Überblick, wie es weitergeht, wie lang es noch dauert, etc. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge ist am 27.2.2016 Schluss. Ich überlege schon mal, ob die Stammleser bei der Gelegenheit endlich ihren Kefir-Orden (beliebte Anerkennung ohne Wert in der ehemaligen Sowjetunion, Anmerkung des Autors) bekommen.

    Gruß Ralf

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  2. @Ralf: Tschuldige meine Saumseligkeit, Link wurde eben eingefügt. Habe erstmalig eine neue Software zum Editieren und Hochladen benutzt (einen sog. „Offline-Editor“), da braucht’s noch etwas Einarbeitung offensichtlich. Aber „im Prinzip“ ist das Ding gut (vor allem, weil man Word nicht braucht).

    @alle: Bei der Gelegenheit möchte ich drauf verweisen, dass im Hauptmenü der Weltsicht (also im Headerbereich jeder Seite) ebenfalls ein Link „Medialismus“ existiert, der auch auf die Inhaltsübersicht führt.

    Im Übrigen bin ich erstaunt, wie glatt das bisher alles läuft, als hätten wir nie was anderes gemacht als Romane geschrieben bzw. lektoriert 😉 Na ja, besser man entdeckt sein Talent spät als nie… Auch in meinem Namen hier schon mal ein virtueller Kefir-Orden an die getreue Leserschaft!

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  3. Besten Dank für den virtuellen Kefir-Orden:-)!. Ich weiß jetzt nicht wie’s euch geht, aber ich finde Kefir lecker und werfe darob schon mal die Idee in den Raum, bei Gelegenheit eine Kefir-Fete in’s Auge zu fassen, mit Lesung und weiterem Kulturteil…

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