(Publiziert 1952.)
Die Zeitangaben in allen Protokollen beziehen sich auf die Interpretationen von Nikolaos Samaltanos (Sonaten 1, 4, 5, 9, 10 und 11) und Christophe Sirodeau (Sonaten 2, 3, 6, 7, 8 und 12) aus den Jahren 2003 und 2004, die als MP3-Download erhältlich sind: Sonaten 1 – 6, Sonaten 7 – 12
[Semantisierendes Echtzeit-Hörprotokoll] 0:03 Aufstehen und anfangen, einfach anfangen, die Gedanken ordnen, in eine Ordnung bringen. Hierarchisch, wenn auch mit deutlich melancholischem Grundton. 0:53 Ja, es geht, plötzlich geht es fast zu gut von der Hand 1:13 Etwas irritiert mich, ich bekomme eine Panikattacke, ein wenig Angstschweiß tropft mir in den Hemdkragen hinein, wie widerwärtig. 1:31 Versuch, die alte Ordnung wiederherzustellen, mühevoll. 1:57 Aber jetzt geht es besser, die Dinge ordnen sich jetzt wirklich, fügen sich zu einem erkennbaren Gebäude, einer Architektur zusammen. Ja, die Maschine läuft, alles ist aufeinander abgestimmt. 2:55 Ausgesprochen irritierende plötzliche Kindheitserinnerung, zärtlich und voller Süße, voller Wehmut. 3:35 Ordnungsdrang + Kindheitserinnerung. quasi in Doppelbelichtung. 4:10 So viele Dinge stehen zur Erledigung an, verteufelt viele Dinge! 4:32 Ich werde allmählich hyperproduktiv, hysterisch produktiv, verheddere und verhasple mich immer öfter, dabei zwanghaft Heiterkeit ausstrahlen wollend. Es bricht etwas in mir entzwei. 5:20 Ich muss runterkommen, wieder zur produktiv verschachtelten Ordnung der Dinge zurückfinden. Die Struktur… 6:07 Es gelingt mir, die aktuelle Ordnungsvorstellung mit meiner an sich inkompatiblen Kindheitserinnerung zu verschmelzen (im Kopf): merkwürdiges Gebräu, vollkommen irreal, ahistorisch und ortlos. 7:11 Aufkommende Schwermut. 7:27 Jetzt aber, ich komme zu spät, muss mich eilen, dabei darf ich nichts vergessen! Qual komplexer simultaner Handlungen, dabei von Groll durchdrungen. Wie das wohl von außen aussieht? 8:10 Jetzt bekomme ich es ein wenig mit der Angst zu tun: Schaffe ich das eigentlich alles? 8:40 Kurzes Innehalten, voller Verzagtheit. 9:02 Wieder die paradoxe „geordnete Kindheitserinnerung“, aber ich schaffe es, diese Konstruktion eine ganze Zeit am Laufen zu halten, unter großen Mühen. 9:57 Die „nackte“, primitive Kindheitserinnerung setzt sich auf einmal mühelos und triumphierend durch, verdrängt alles andere, in ihrer Plumpheit, ihrer vollkommen unangemessenen Schlichtheit. 10:42 Ich begehre brutal auf gegen diese unangemessene Regression, intellektualisiere heftigst. 11:07 Ich finde schließlich einen formal „richtigen“ Schluss, aber innerlich ist natürlich wieder nichts gelöst.
Zusatz (gehört nicht zum Protokoll) Einmal mehr zeigt sich, wie oft ich Feinberg hintereinander hören muss, um ihn auch nur halbwegs zu „verstehen“, d. h. die dichte und „unlogische“ Abfolge seiner Gefühlsumgebungen innerlich nachvollziehen zu können. Speziell diese Sonate kommt mir vor wie ein Tonband im Schnellvorlauf: Eben hat man sich „eingefunden“ in den aktuellen „Gefühlshaushalt“ des Stücks, gibt es schon einen rabiaten Schwenk (z. B. von zärtlicher Nostalgie zu dröger Alltagsdisziplin), aber auch alle stabilen Zustände sind stets unterschwellig metastabil, etwas nagt immer an ihnen, das Bild ist niemals monochrom, sondern stets von einer weiteren, oft nicht „passenden“ Farbe unterbrochen, die quasi „von unten“ nach oben in die aktuelle „Laufumgebung“ (O. Wiener) quillt. Diese Verläufe sind „unmenschlich“ anstrengend und so bin ich bereits nach dem zweimaligen Hören des 11-minütigen Werks mental erschöpft. Ich kenne nur wenig Musik, die es schafft, Gefühlszustände in ihrer flüchtigen Komplexität / komplexen Flüchtigkeit so plastisch abzubilden – und dennoch dem eigentlich komplett entgegengesetzten, nämlich „klassizistischen“ Ideal der Sonate irgendwie treu zu bleiben. Ein Phänomen.
„Feinbergiana: Inhaltsverzeichnis und Konzept“ (wurde heute überarbeitet und deutlich erweitert. Wer wissen will, was ich hier eigentlich tue und worum es in dieser Artikelreihe geht, sollte diese Seite lesen.)
„Nach schließlich dann doch irgendwann erfolgter Analyse der “Glücksmusik” stellt sich bei mir stets heraus, dass meine ursprüngliche Euphorie auch intellektuell “berechtigt” war.“
Diese Art Verkoppelung ist mir schon länger bekannt und hat mich immer erstaunt.
Nun kann man sich fragen, welche neurowissenschaftlichen Erkenntnisse diese „Verkoppelung“ erklären könnten. Man könnte vermuten, daß zum Zustandekommen des Gefühls, etwas künstlerisch Schönes erlebt zu haben, diesselben Hirnareale, diesselben Neuro-Strukturen genutzt werden, zumindest in genutztenTeilen. Ein solcher Prozess der Bewertung „Schön, gehaltvoll, stimmig, prachtvoll“ würde ja m.E. nie „in einem Rutsch“ durchlaufen werden, sondern durch ein Werk an vergleichenden „Apparaten“ laufen. Nichts ist da ja gewöhnlich einfach, sondern immer komplex.
Aber es ist schon ein Mysterium, daß sich Schönheitsgefühl oder auch Wahrheitsahnung gut decken kann mit einer rationalen Analyse, die im Nachgang erfolgt.
Das nur mal ganz kurz.
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päh, „genutzt“ war 2x! Sagen wir mal „verwendet“ im 2. Fall…..
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War das jetzt so ein Mist?
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@Gerhard: Ups, jetzt war ich irritiert, weil der von dir zitierte Text ja gar nicht hier steht, sondern auf der Seite „Feinbergiana: Inhaltsverzeichnis und Konzept“. Sei’s drum, danke für dein Feedback. Und, nein, nichts daran war, äh, „Mist“. Aber ich denke mal, wir zwei tappen bei dieser komplexen Materie (Konvergenz von spontaner Begeisterung und reflektiertem Geschmacksurteil) beide gleichermaßen im Halbdunkel. So gibt es immer wieder Musik, die mir spontan (angenehme) „Gänsehaut“ verursacht, aber ganz offensichtlich kompletter Müll ist usw.
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