Die Filterblase als Ursprung und Grenze der Welt(sicht)

Der von der Weltsicht seit Jahr & Tag geschätzte soziologisch informierte (Luhmann-Schule) Web-Entrepreneur Christoph Kappes wartet in diesem Text mit einer überraschenden Beobachtung auf, die ich von meinem alltäglichen Internet-Nutzungsverhalten her nur bestätigen kann:

Stabiler und instruktiver Inhalt findet sich häufig in der Wikipedia, die in den ersten Tagen eines Ereignisses halbwegs neutral und gesichert guten Überblick bietet. Ich jedenfalls beobachte bei mir, dass ich ein aktuelles Thema bei Wikipedia nachlese […].

Gut, ich recherchiere zwar meist eher zu nicht tagesaktuellen Themen aus Philosophie, Musik und Naturwissenschaft, aber dennoch erscheint mir das Informationsangebot der bekanntermaßen durch vielerlei Checks and Balances regulierten Online-Enzyklopädie oft alternativlos.

Damit hätte sich das, was wir Journalismus zu nennen gewohnt waren, erübrigt, obwohl es, so Kappes, „keinen Anhaltspunkt“ gibt, „dass Journalisten dümmer oder schlechter geworden wären.“ Faszinierend.

Ich spreche hier in erster Linie von der sich selbst gerne als „Qualitätsjournalismus“ bezeichnenden Arbeit der Print-Journalisten von ZEIT, WELT, SÜDDEUTSCHER und FAZ, in der es nicht um Tagesaktualität und Schnelligkeit geht, sondern um die Analyse von Kontextualitäten (früher auch „Aufdecken von Hintergründen“ genannt). Seit vielen Jahren lese ich keines der oben genannten vier führenden deutschen „Intelligenzblätter“ mehr (die WELT habe ich allerdings nie regelmäßig gelesen) und deren Online-Angebot nutze ich auch nicht. Dennoch habe ich nicht den Eindruck, seitdem „schlechter informiert“ zu sein über die Dinge, die mich wirklich interessieren. In die Bresche gesprungen sind Facebook (bzw. meine hochgradig personalisierte Variante davon), meine ebenso hochgradig personalisierte Variante der Blogosphäre und einige wenige, handverlesene Podcasts – ja, und eben die Wikipedia. [Ergänzung 2016-07-11: „sowie YouTube und Vimeo“]

Die „Tagesschau“ sah und sehe ich täglich, benutze sie aber als reinen Newsfeed, d. h. sobald kommentiert wird, drehe ich den Ton ab (kein Scherz). Der Neutralität bzw. Objektivität dieses Feeds bringe ich weiterhin Vertrauen entgegen. Nicht nur, weil ich an das Prinzip „öffentlich-rechtlich“ glaube, sondern weil ich feststelle, dass sich all meine Meinungsfeeds stets weiter auf diesen Primärfeed beziehen. Taucht in meinen Meinungsfeeds einmal ein Thema auf, dass die Tagesschau nicht kennt, werde ich sofort misstrauisch. Es gilt aber auch das Umgekehrte.

So versuche ich – auf evtl. etwas unterkomplexe, dafür aber praktikable (d. h. zeitlich nicht allzu übergriffige) Art – ein eigenes kleines System von Checks and Balances in meine tägliche Informationsdiät einzubauen und am Laufen zu halten.

„Siehst du, auch du lebst nur in einer Filterblase!“, höre ich populistische Ignoranten und Provinzialisten jetzt triumphieren – aber DAS IST NICHT DER PUNKT. Zu keiner Zeit hat irgendein Mensch jemals komplett außerhalb irgendwelcher Filterblasen gelebt. Dieses Feeling bleibt Gott* vorbehalten – falls es ihn gibt**

Um so wichtiger, sich über Entwurf, Konstruktion und Instandhaltung dieser Blase gehörig den Kopf zu zerbrechen (evtl. ist das sogar wichtiger als das Kopfzerbrechen über den Content, also die Probleme selbst).

Auch das Projekt Wikipedia hat evtl. seine besten Tage schon hinter sich, wird aber – da bin ich optimistisch – rechtzeitig durch etwas anderes (das wir uns heute technisch noch gar nicht vorstellen können) abgelöst werden.

Kurz gesagt: Ohne Filterblase keine „Welt“, sie ist sowohl ihr Ursprung als auch ihre Grenze***.


* Gottesdefinition für das 21. Jahrhundert: Als Gott bezeichnen wir eine Entität, die zur Gewinnnung von Information nicht auf die Konstruktion von Filterblasen angewiesen ist.
**  Als glücklicher Agnostiker verfüge ich bekanntermaßen (?) über das sichere Wissen, die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen zu können.
*** „Grenze“ steht hier für die naturgemäß endlichen kognitiven Kapazitäten des Einzelnen, nicht für „Beschränktheit“. Ich plädiere hier nicht für diese neumodische Art von „Ignoranz mit gutem Gewissen, weil ja sowieso alles viel zu komplex ist“, ganz im Gegenteil.

 

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3 Kommentare zu „Die Filterblase als Ursprung und Grenze der Welt(sicht)

  1. Ich kenne die Arbeit der Wikipedia-Autoren im Einzelnen leider nicht. Wie ist es möglich, zu oft kontroversen Themen einen Konsens zu finden? Wenn ich manchmal mitbekomme, wer alles an der Wikipedia mitarbeitet, dann frage ich mich schon, wie die jeweilige Meinungshoheit eines Artikels zustande kommt.

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  2. @Gerhard: „Wie ist es möglich, zu oft kontroversen Themen einen Konsens zu finden?“ – Das kannst du am besten im Wikipedia-Artikel „Wikipedia“ nachlesen. Es gibt da ein sehr durchdachtes redaktionelles System, das mit dem peer reviewing der Wissenschaft verwandt ist. Bei Artikeln wie z. B. „Scientology“ kann das aber schon mal happig werden und es kommt zu sog. edit wars. Aber genau das spiegelt dann ja ebenfalls soziale Realität! Kein perfektes System, aber das am wenigsten schlechte, das mir einfällt.

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