Field Recording Eigene Aufnahmen vom Sommer 2014 in Międzyzdroje (Polen)
Audio-Editor Audacity 2.1.0
Klanggeneratoren Rndtone (Steven Jones), Surf-oxy (David R. Sky)
Effekt Reverse Bouncing Ball Delay with Tone Shift (David R. Sky)
Faltungshall Schellingwoude Kerk Amsterdam (F. van Saane)
Kompositionsnotiz
Das Stück knüpft thematisch und geografisch an die Soundscape 21 „Kiesel auf Rügen“ aus dem Jahr 2010 an. Es handelt sich um musique anecdotique im Sinne des großen Luc Ferrari. Die zugrundeliegenden Field Recordings habe ich im Sommer 2014 im polnischen Ostseebad Międzyzdroje (Misdroy) auf der Insel Wolin (Wollin) gemacht.
Aufnahme 1 entstand, indem ich mich in der Nähe von einem der damals überall in Międzyzdroje herumstehenden Air-Hockey-Spieltische positionierte. Akustisch angelockt wurde ich durch die beiden elektronischen Glockentöne, mit denen der Spielautomat die Aktionen der Spieler begleitet. Um die Aufnahme ein wenig zu verrätseln, schickte ich sie durch David R. Skys Reverse Bouncing Ball Delay with Tone Shift. Es entstand ein knapp dreiviertelstündiger, chaotisch glucksender und bimmelnder Audioklumpen von ganz allmählich abnehmender Dichte und Tonhöhe, den ich „Glitched Air“ nannte.
Nun musste ein scharfer, sozusagen „rationalistischer“ Kontrast her: Steven Jones‘ Plugin Rndtone, welches zufällige Wolken aus bis zu 100 Sinustönen generiert, kam da gerade recht. Ich „würfelte“ solange, bis mir eine Klangwolke besonders gut gefiel. Sie dauerte knappe 10 Minuten – was sogleich als Maß für die Länge des ganzen Stücks herhalten musste. (Es ist für mich mittlerweile kein Problem mehr, so elementare kompositorische Entscheidungen wie die Länge eines Stücks von einem Algorithmus treffen zu lassen. Früher dachte ich immer „Nein, das darfst du nicht, du musst die Stücklänge ’subjektiv‘ festlegen. Du darfst dir doch von einem Algorithmus keine ästhetische Entscheidung abnehmen lassen. Heute denke ich, solange ich es bin, der die Entscheidung trifft, diese Entscheidung dem Algorithmus zu überlassen, geht das vollkommen in Ordnung.) „Glitched Air“ wurde mithilfe des Audacity-eigenen Effekts „Change Tempo“, der die Dauer eines Samples beeinflusst, ohne dass sich, wie etwa bei einem Tonband, dessen Tonhöhen dabei ändern, entsprechend „komprimiert“, d. h. alle Einzelereignisse von „Glitched Air“ blieben erhalten, erklangen nun aber innerhalb von 10 statt wie bisher 45 Minuten.
Zur Soundscape eines Seebades gehört natürlich die Meeresbrandung – aber mir stand keine derartige Aufnahme zur Verfügung. Also stöberte ich weiter im Plugin-Archiv von Audacity und stieß dabei auf David R. Skys kuriosen Algorithmus „Surf-oxy“, zu dem der Autor schreibt:
Jean Michel Jarre put out a hauntingly beautiful electronic album in 1976, „Oxygène“. One section of this album had a repeating surf sound: a sweep from the right to the left audio channel, a pause, and then a deep crash in the right channel. After another pause, this cycle is repeated many times. […] This sound generator plug-in emulates that surf cycle, …
Nun, Jarres „Oxygène“ gehört auch zu meinen ganz frühen, durchaus prägenden Musikerlebnissen und ich erkannte das Klangpattern auch gleich wieder, nur hatte ich es damals nicht als „Meeresbrandung“ identifiziert. Ich hatte es aber auch nicht mit irgend einem anderen kohlenstoffweltlichen Objekt oder Phänomen in Verbindung gebracht. Es war (und ist) für mich einfach jenes Klangpattern X, das an der Stelle Y in Jarres Komposition auftaucht und an der Stelle Z wieder verschwindet. Sei’s drum, der Output von „Surf-oxy“ faszinierte mich, weshalb er sogleich als „Bordun“ in die Komposition integriert wurde.
Exkurs über (mindestens) zwei Arten des Hörens
Heute weiß ich, dass mein damaliges Hörverhalten durchaus nicht der Norm entsprach. Es existieren wohl zumindest zwei Arten des Hörens, die ich hier einmal provisorisch „Absoluthören“ und „Realhören“ betiteln möchte. Der Realhörer ist in erster Linie an Kontext und Funktion des Gehörten interessiert, er möchte das Gehörte identifizieren und klassifizieren, der Absoluthörer erfreut sich dagegen stärker an der bloßen Klanglichkeit („Sonizität“?!) des Gehörten, ohne dieser sofort eine außermusikalische Bedeutung geben zu müssen. Natürlich ist jeder Mensch eine Mischung aus Absolut- und Realhörer, denn ganz ohne klangidentifizierende Kompetenz könnten wir nicht überleben, aber die Gewichtung beider Bereiche fällt wohl – so scheint mir – bei den Menschen sehr unterschiedlich aus.*
Ich bin wohl eher Absolut- als Realhörer. So erklärte sich zumindest meine immer schon vorhandene instinktive Vorliebe für „absolute“ Musik, die am besten auch noch ohne Gesang auskommt. Ich vermisse in dieser Musik nichts und empfinde meine sonische Erfahrung als reich und vollständig, während ein typischer Realhörer hier ein beunruhigendes Mangelerlebnis hat, denn seine instinktive Suche nach einem „realen“ Pendant zum Gehörten führt bei absoluter Musik zu keinem Ergebnis. Analog dazu fühlte und fühle ich mich in der Oper bzw. im Musiktheater – obwohl ich natürlich weiß, dass hier eine „multimediale“ Erfahrung gemacht werden soll – immer durch Sprache, Kostüme, Bühnenbild und Handlung unnötig vom „Eigentlichen“, also der Musik, abgelenkt. Ähnlich geht es mir mit Filmmusik, was zu dem Kuriosum führt, dass ich zwar gelegentlich Filmmusik komponiert habe, aber Filme ohne Filmmusik sehr oft als angenehmer empfinde als solche mit Filmmusik .**
Vielleicht lässt sich mit diesem Gedanken im Hinterkopf auch der aktuelle Streit zwischen „immanentistischen“ auf der einen und „relationistischen“ (bzw. konzeptualistischen oder „diesseitigen“) KomponistInnen auf der anderen Seite auflösen. Beide Seiten müssten nur zugestehen, dass es mindestens zwei grundverschiedene Hörertypen (vielleicht ließen sich diese heutzutage sogar neuroanatomisch nachweisen, etwa durch fMRT) mit grundverschiedenen Hörbedürfnissen gibt: Für Typ 1 bietet die isolierte Wahrnehmug von Klang höchsten Genuss, für Typ 2 erhält Musik erst dann ihren „eigentlichen“ Wert, wenn sie „relationale“ Aspekte hat, also funktionierender Teil eines größeren Ganzen ist, welches auch Nicht-Musik beinhalten kann und soll.
Dabei sollte auf eine Wertung oder Hierarchisierung verzichtet werden. Der Absoluthörer hört nicht besser, aber anders als der Realhörer. Es mag Menschen geben, die beiden Lagern angehören und je nach Lebenslage blitzschnell umschalten können. Auch gibt es ganz sicher Menschen, die mit „absoluter“ Musik rein gar nichts anfangen können und dennoch im klassischen Sinn hochmusikalisch sind und/oder das „absolute Gehör“ besitzen. Mir sind auch drittens Individuen bekannt, die abstrakte musikalische Vorgänge äußerst sensibel empfinden und auch beschreiben können, aber im klassischen Sinn komplett unmusikalisch sind.
*
Eigentlich war das Stück jetzt fertig, ich war aber noch nicht zufrieden: Die Komposition hörte sich nun – wie so oft bei mir – fürchterlich erhaben und dabei fast zwanghaft linear und repetitiv an, ähnlich einer großen Leinwand voller mehr oder minder regelmäßiger Linien und Figuren, vor der man gefälligst in Ehrfurcht zu erschauern hat. Wogegen nichts einzuwenden ist. Es ist aber auch ein wenig langweilig.
Nun erinnerte ich mich glücklicherweise an ein weiteres, ganz andersartiges Audiomitbringsel aus Wollin: die Aufnahme eines Straßenmusikers, der eine melancholische (slawische?) Weise auf seinem Akkordeon nicht sonderlich virtuos, aber doch irgendwie zu Herzen gehend zum besten gibt. Sehr deutlich sind dabei die Schritt- und Sprechgeräusche der achtlos an ihm vorüberspazierenden Menschen zu hören.
Ich stellte also ein unbehandeltes Fragment dieser Aufnahme 2 ganz ans Ende der Komposition, wo es nun ganz prima als musikalisches Äquivalent zu dem funktioniert, was man in der Literaturwissenschaft „romantische Ironie“ zu nennen pflegt.
Und so muss ich am Ende der Soundscape 22 jedes Mal lachen.
Warst du schon immer ein Hörer des Typs 1? Wenn nein, was hat dazu geführt, es zu werden? Ich meine hierbei nicht nur Hörerfahrungen,sondern auch Tendenzen in dir selbst.
Inwieweit bildgebende Verfahren konstitutive unterschiede im erfassen von musik ausmachen können, die von der nächsten Versuchsanordnung wieder relativiert werden könnten, ist die Frage. Aber andererseits hat man in letzter Zeit doch durchaus Erfolge gehabt, eine „abbildung“ von unterschiedlichem Verhalten zu finden, etwa bei der gesteigerten Lernfähigkeit von Jugendlichen.
Etwas ungelenk mit Handy geschrieben:-(
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@Gerhard: Meine Lieblingsmusik als Jugendlicher in den frühen 1980er-Jahren war Musik der sog. Berliner Schule, also Klaus Schulze und Tangerine Dream, mitunter auch Sachen von Eberhard Schoener. Auch den abstrakten Passagen von Pink Floyds „Wish You Were Here“ konnte ich viel abgewinnen, ebenso dem frühen Jean Michel Jarre (siehe oben). Erst viel später habe ich angefangen, mich mit dem Prinzip „Song“ auseinanderzusetzen, das ich der erhabenen Instrumentalmusik gegenüber instinktiv immer als nachrangig, weil irgendwie profan und alltäglich, empfand. Ja, meine natürlichen Präferenzen lagen immer ganz klar bei abstrakter, oft beatloser und in jedem Fall „großräumiger“ Instrumentalmusik – ob nun elektronisch oder nicht. Alles andere (Postpunk, Free Funk, Satie, Strawinsky, Debussy, Skrjabin etc.) kam später.
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