«Sonate 2010 „The Big One“» für Klavier (ePlayer-Realisierung)

  1. Satz „Bells“
  2. Satz „Recommencement“
  3. Satz „vigorously“
  4. Satz „Conflict“
  5. Satz „Bells, grounded“
MIDI-Editoren MidiEditor (M. Schwenk), MIDIPLEX (Stas’M), Sekaiju (kuzu), Cubase
Sample-Bibliothek Yamaha CF III-Konzertflügel (Mats Helgesson)
Sample-Renderer SynthFont2 (K. Rundt)
Faltungshall [Software] Saitenresonanz eines Klaviers, ORTF-Studiohall (Urheber jeweils unbek.) [FreeverbVST3_Impulser2]

Kompositionsnotiz

Das Ausgangsmaterial für diese große, weil fünfsätzige Sonate entstammt komplett dem PianoLog 2010-11-06.

Die fünfsätzige Form entstand in intensiver und recht langwieriger Auseinandersetzung mit dieser gut elfminütigen Ausgangsimprovisation, in der Folge „Urtext“ genannt. Das Ziel war, eine hörerfreundliche Variante dieses etwas krausen Urtexts zu entwickeln, ohne Verrat an ihm zu begehen.

Die Sonatenecksätze 1 und 5 speisen sich aus demselben Ausgangsmaterial, wobei der erste Satz eng am Urtext bleibt, der fünfte jedoch stark nachbearbeitet wurde. Zunächst wollte ich nur eine Bassstimme hinzufügen, dann allerdings strich ich die rasch pulsierenden Oberstimmen heraus und schon wandelte das Material seinen Gesamtcharakter von nervös und bedrohlich in entspannt und abgeklärt. Genau das Richtige für einen Schlusssatz.

Die Sätze 2 und 4 handeln vom Widerstreit und arbeiten sich im Wesentlichen am Hauptmotiv der Sonate ab, der rhythmisch etwas stockenden Abfolge zweier Akkorde, deutlich zu hören z. B. zu Beginn des 4. Satzes. Sie sind sich aus diesem Grund in ihrer zerissenen Faktur recht ähnlich und übrigens auch fast auf die Sekunde genau (!) gleich lang, ohne dass ich dies angestrebt hätte.

Im dritten Satz tritt das die Sätze 2 und 4 dominierende Zwanghaft-Grüblerische tritt in den Hintergrund, stattdessen dominieren Spielfreude und eine Lust am Virtuosen.

Exkurs I: Kontrapunkt und Händigkeit

Ein während der gesamten Komposition häufig eingesetztes Ausdrucksmittel ist das kontrapunktische Spiel von linker und rechter Hand, bei dem ich mich stark von der Spielweise des Jazzpianisten Lennie Tristano habe anregen lassen.  Dabei versuche ich jedoch noch weiter zu gehen als der Meister, bei dem die linke Hand letztlich dann doch oft eher Begleitung, also walking bass blieb. Mir aber geht es um das Geben und Nehmen zweier komplett gleichberechtigter einstimmiger Melodielinen, etwa im Sinn von Bachs zweistimmigen Inventionen für Tasteninstrument.

Was jetzt erst mal nach kompletter freiwilliger Selbstüberforderung klingt, gelingt mir in für mich selbst erstaunlicher Weise im Lauf der Jahre immer besser. Und es macht mir eine Riesenfreude, vielleicht auch, weil ich Beidhänder bin, d. h. ein in der Grundschule auf rechts umgeschulter Linkshänder. Ich spiele bis heute mit der linken Hand Tischtennis, Minigolf, Badminton etc., schreibe aber nur mit der rechten Hand.

Nun, wie jeder Komponist empfinde ich das vorliegende Ergebnis als gelungen und bin stolz auf meine Arbeit – ansonsten hätte ich sie nicht publiziert. Dennoch habe ich darüber hinaus diesmal den Eindruck, mit dieser Veröffentlichung eine Art neuer Reifestufe erreicht zu haben, was wohl vor allem dem Einsatz äußerst zeitintensiven Nano-Editings (siehe Exkurs unten) zu verdanken ist.

Exkurs II: Nano-Editing und Transhumanismus

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Screenshot des Standard MIDI Files (SMF) einer Passage des PianoLogs „2010-11-06“ in einem Piano-Roll-Editor. Das große Fenster zeigt die aktuellen Tonhöhen und -dauern, das kleine die relative Anschlagstärke (velocity) der verwendeten Töne bzw. Akkorde. Nicht zu sehen ist die Verwendung des Haltepedals.
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Dieselbe Passage, nun aber nano-editiert und als Ende des zweiten Satzes der «Sonate 2010» eingesetzt. Die Unterschiede muten visuell gering an, sind aber musikalisch durchaus gewichtig.

Unter Nano-Editing verstehe ich die manuelle Nachbearbeitung des Standard MIDI Files (SMFs) einer Klavierimprovisation im Piano-Roll-Editor einer Sequencer-Software. Die Bezeichnung manuell rechtfertigt sich dadurch, dass ich im Verlauf dieses Prozesses wirklich fast jede Note (via Computermaus) „anfasse“, um Korrekturen und Modifikationen vorzunehmen. Quantisierungsalgorithmen finden dabei prinzipiell keine Verwendung, was den Zeitaufwand weiter in die Höhe treibt.

Das Nano-Editing lässt sich ganz gut mit dem Lektorat eines Textentwurfs vergleichen: Offensichtliche Fehler, z. B. der ungleichzeitige Einsatz der Einzeltöne eines Akkordes oder das unregelmäßige Timing der Töne einer regelmäßig gemeinten Tonabfolge werden ausgemerzt, logisch fehlende Töne ergänzt, offensichtliche Vergreifer gelöscht etc.

Dabei komme ich regelmäßig sehr schnell in Bereiche, die keine eindeutige Korrektur mehr erlauben, d. h. es tauchen Passagen auf, in denen ich (z. B. aus Mangel an Spielvermögen) im Urtext nur angedeutet habe, was ich musikalisch wollte. Hier wird’s tricky, aber auch interessant, denn manchmal kann ich in einem solchen Fall meine eigene „Handschrift“ nicht mehr lesen und frage mich dann, was ich hier in der Improvisation eigentlich ausdrücken wollte. Meist hilft dann allerdings die Re-Kontextualisierung der entsprechenden Passage, d. h. ihr wiederholtes Hören im Zusammenhang einiger „Takte“ vor und nach ihr. Um in der Textlektoratsmetapher zu bleiben: Der Sinn eines unverständlichen Satzes lässt sich oft dadurch erschließen, dass man ihn nochmal im Kontext des unmittelbar umgebenden Textes liest.

Ich habe „Takte“ deshalb eben in Anführungszeichen gesetzt, weil ich mich um die vom Sequencer automatisch generierten vertikalen Taktstriche gar nicht kümmere. In diesem Sinn erzeugen die MIDI-Mitschnitte meiner Improvisationen keine Partitur, sondern ähneln eher einer Tonaufnahme ohne Ton: sie zeigen alles exakt so an, wie es eingespielt wurde und erlauben keinen interpretatorischen Spielraum. Das SMF ist – so betrachtet – der digitale Erbe von Nancarrows Player Piano Rolls für seine mechanischen Selbstspielklaviere.

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Nancarrows Stanzmaschine ca. 1977, mit deren Hilfe er seine Partituren (oben) in eine maschinenlesbare Player Piano Roll (unten) konvertierte. Quelle: radiom.org

Nancarrow verstand sich jedoch – trotz klarer Jazz-Einflüsse in seinem Frühwerk – stets als „Algorithmiker“, d. h. er hat niemals improvisiert, sondern stets konstruiert, also seine Musik auf dem Notenpapier errechnet. Zum einen, weil seine Maschinerie ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre, eine Klavierperformance in Echtzeit „mitzustanzen“, zum anderen, weil ihn die Reproduzierbarkeit seiner Inventionen durch einen humanoiden Interpreten sowieso nicht interessierte. Er hat sich ja – der Legende nach – u. a. deswegen überhaupt dem Selbstspielklavier zugewandt, weil er mit den herkömmlichen Interpretationen seiner Kompositionen durch menschliche AkteurInnen so unzufrieden war.

Dieses Desinteresse an „Spielbarkeit“ bildete schließlich sowas wie die Geschäftsgrundlage seines Lebensprojekts, der „Studies for Player Piano“. Nancarrow war einzig an der Erschaffung von Klavierstücken interessiert, deren rhythmische Komplexität alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte und mithilfe des Player Pianos hatte er ein Tool gefunden, das ihm die Realisierung dieser Vision erlaubte. Nancarrow „opferte“ dafür den Interpreten auf dem Altar der Komplexität, was sich aus heutiger Sicht als früher Ausdruck einer transhumanistischen Ästhetik bezeichnen lässt.

Meine Stücke sind insoweit ebenfalls „transhuman“, als sie alle Unvollkommenheiten, die aus dem Urtext herrühren, ausmerzen und mir dabei egal ist, ob das Endergebnis dann noch spielbar ist oder nicht**. Ganz und gar nicht transhuman, sondern sozusagen ultra-human sind sie aber auch, weil sie eben durch und durch auf musikalischer Improvisation beruhen und gerade keine algorithmischen Generatoren anwenden – außer in den Stücken, wo ich das ganz explizit tue und auch zur Schau stelle, z. B. in den Four Movements. Aus der gleichzeitigen Präsenz und somit steten Reibung der  antagonistischen Prinzipien transhuman und ultrahuman versuche ich schließlich, ästhetisch Kapital zu schlagen.

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6 Kommentare zu „«Sonate 2010 „The Big One“» für Klavier (ePlayer-Realisierung)

  1. Ich mag das verspielte im Mittelteil… und den Anfangsteil, aber erst nach ein paar Sekunden, das braucht etwas, sich aufzubauen.
    Wenn ich mehr Zeit hätt grad, würd mir vllt noch was zur Beschreibung zu sagen einfallen, aber jetzt nur knapp: joa, gefällt.

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  2. Improvisierst Du aktuell nicht mehr?
    Halte mich an meinen Vorredner: Gerne Deine „Notes“ gelesen. Spannend.
    Und: Der Begriff „Nano“ ist in aller Munde. Gibt’s da nichts anderes, frischeres? Mikro ist ja durch.
    Für die Zeit gibt es z.B.die Femtosekunde…
    Deine stete Verwendung des Wortes „komplett“ amüsiert mich ein wenig.
    Ansonsten eine sehr ernsthafte Schrift, die mir genau deswegen zusagt.

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  3. Christl und ich haben das 3x gehört jetzt. Sie spielt ja auch etwas Piano, im Gegensatz zu mir.
    Die 2 Wiederholungen gehen auf ihr Konto.
    Aber sie hat noch viel weniger Zeit vermutlich, sich dediziert zu äussern..

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  4. @Gerhard: „Improvisierst Du aktuell nicht mehr?“ – Richtig. Ich habe eine Pause eingelegt, um alles bisher Erarbeitete zu revidieren. Damit ist aber bald Schluss und es wird weiter improvisiert. Hoffentlich dann auf einer höheren Erkenntnisstufe.
    „Christl und ich haben das 3x gehört jetzt.“ – Schön, das freut mich sehr 🙂

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