Die Neue Musik ist tot, es lebe die Kunstmusik (Art music)

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Ein bekanntes Werk der Appropriation Art aus dem Jahr 1989: „Untitled (cowboy)“ von Richard Prince

Ich finde es befremdlich, wie wenig sich Kunstmusik-KomponistInnen oft mit zeitgenössischer bildender Kunst beschäftigen oder gar auskennen, denn eigentlich sind doch Darmstadt und Donaueschingen ganz exakte Äquivalente etwa zur documenta oder zur Biennale in Venedig. Nur hat man bsp.weise in Darmstadt (wo ich letztes Jahr war) den Eindruck, hier wird als heißer Shit diskutiert, was an Kassel schon 1980 „durch“ war (Konzeptualismus, Postmoderne). Der Komponist Hannes Seidl sieht das durchaus, wenn er im kürzlich publizierten E-Mail-Wechsel mit Johannes Kreidler „‚Neue Musik‘ ist meistens etwas hinterher“ seufzt (MusikTexte 152).

So hat bsp.weise die Appropriation Art, eine durchaus einflussreiche Strömung in der Bildenden Kunst der letzten 30 Jahre, nach meinem Kenntnisstand bisher nur sehr wenige Kunstmusikkomponisten inspiriert, obwohl sich die Sampling-Technologie hier zur Umsetzung geradezu anbietet. Dasselbe gilt für Neo-Geo, aber auch für restaurative Tendenzen wie etwa die Neue Leipziger Schule (die man musikalisch mit neo-tonalen Ansätzen parallelisieren könnte): Wer macht sowas „als“ Musik? Ich denke, es wäre keine Schande für die Kunstmusik, sich hier umzusehen und einfach mal zu machen, auszuprobieren, zu experimentieren, um Anschluss zu finden.

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Neo-Geo: „Mondrian, Amsterdam 2016“ von Peter Schuyff

Immer wieder habe ich als externer Beobachter der „Neue Musik“-Szene den Eindruck, deren ProtagonistInnen haben es aufgrund der starken Institutionalisierung dieser Kunstgattung einfach nicht nötig, mal über den Tellerrand zu schauen und auf Trends im zeitgenössischen Kunstgeschehen zu achten, um im „Geschäft“ zu bleiben. Allein der Begriff „Trend“ dürfte vielen Neue-Musik-Menschen, denen ich begegnet bin, als Inbegriff des Oberflächlichen und deshalb Abzulehnenden erscheinen. Lieber strebt man nach „Überzeitlichkeit“ und vertont Paul Celan, Friedrich Hölderlin, Anne Sexton oder Sylvia Plath (wogegen ich nichts einzuwenden habe, aber die Vertonung hermetischer Lyrik sollte nicht als alternativlos gelten).

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Die Neue Leizpiger Schule mag ich zwar nicht, aber zeitgenössische Kunst ist sie zweifellos: Neo Rauchs „Ordnungshüter“ aus dem Jahr 2008

Die Welt der alten „Neuen Musik“ scheint mir in den letzten 25 Jahren mehr und mehr zu einem Sammelbecken von Reaktionären und Gegen-den-„Zeitgeist“-Schwimmern geworden zu sein, deren ästhetische Erziehung mit etwas abgeschlossen war, was man in der Bildenden Kunst Abstrakten Expressionismus nannte. Und der hatte bekanntlich in den 1950er-Jahren seine große Zeit.

Kein Wunder, dass nun viele Junge aus der eurozentrischen Neuen Musik „austreten“ wollen, wie der Musikpublizist Michael Rebhahn bereits 2012 richtig feststellte: gut so. Gleichzeitig bleibt ihnen aber nichts anderes übrig, als in die globale Kunstmusik / Art music „einzutreten“. Denn einen dritten Weg sehe ich nicht.

7 Kommentare zu „Die Neue Musik ist tot, es lebe die Kunstmusik (Art music)

  1. Interessanter Text. Ich würde lieber von zeitgenössischer Musik sprechen. Und da auch Lieber an den Rändern hören, wo sich diese Musik mit dem Jazz trifft. Die grenzen sind fließend..

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  2. Mmmh…
    Ich bin ebenfalls externer Beobachter und außerdem Laie in Sachen (auf dem Papier) komponierter Musik bzw. „Neuer Musik“ wie sie bei den Ferienkursen aufgeführt wird. Und genau dort habe ich natürlich auch festgestellt, dass ich viele als „neu“ oder „heißer Shit“ eingeführten Klangwelten bereits aus dem subkulturellen Szenen (internationalen Konzerten in Jugendzentren, experimentellen DJs etc.) kannte, besonders bei den letzten zwei Versionen des ‚Atelier Elektronik‘.
    Allerdings sehe ich da in der Aufführung und Herangehensweise eben Unterschiede (im „klassischen Programm“), weswegen ich dieses Nachziehen verstehen kann. Die Musikerinnen und Musiker, welche oftmals auch Musikstudierende sind, bringen ihrerseits die Einflüsse in den reaktionären Bereich der „Neuen Musik“ ein und versuchen (von außen betrachtet) somit dieses Genre zu verändern.
    Nach meinem Laien-Verständnis bezieht sich „Neue Musik“ auf einen gewissen historischen Kontext, während „Kunstmusik“ für mich zwar auch akzeptabel ist, letztlich bei mir aber nur ein weiterer Genre-Begriff in der iTunes Datenbank wäre; neben Avantgarde, Art-Rock, Modern Classical oder allen Erweiterungen um „Future-“ (Jazz, Garage, etc.).
    Just my 2ç.

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  3. @san: Danke für deinen engagierten Kommentar 🙂

    Was Kunstmusik gegenüber subkulturellem Musikschaffen aber bsp.weise auch gegenüber vielem Jazz meiner Meinung nach auszeichnet, ist ihre (Selbst-)Reflektierheit. Beim „normalen“ Musikmachen geht es eigentlich nur um’s Machen und die Freude daran (was 100% OK ist), Prozessreflexionen werden in der Regel selbst von sehr kultivierten, brillanten und kreativen MacherInnen als eher hinderliche „Kopflastigkeit“ abgetan.

    Natürlich wissen auch diese MusikantInnen genau, was sie tun, aber sie tun es intuitiv und folgen dabei mehr oder weniger bewusst Traditionen oder kämpfen, je nach Gusto, gegen diese an. Die wenigsten kommen dabei auf die Idee, einen Essay über ihr Tun zu verfassen. Warum auch? Das hätte ja nichts mit dem Musikmachen zu tun. Es würde vom Musizieren abhalten. Es wäre Zeitverschwendung.

    Und wenn sie es doch tun, sind sie schon auf dem besten Weg, vom Musikanten zum Kunstmusiker zu werden – ganz unweigerlich! Genau aus diesem Grund wäre „mein“ Kunstmusik-Begriff eben kein neues bzw. altes Genre, sondern eher ein Qualitätsmerkmal. „Kunstmusik“ ist kein Stil wie etwa Metal, im Gegenteil, auch aus Metal kann Kunstmusik werden, wenn er sich nur präzise und gründlich genug der Wahl seiner Ausdrucksmittel bewusst wird.

    Ich hoffe, ich konnte mich verständlich machen…

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  4. Hallo Stefan,
    danke für die Erklärung die meinen Horizont noch einmal erweitert. Das mit den (Selbst-)Reflexionen sehe ich eben auch als ein starkes Merkmal und besonderen Unterschied zu (m)einem Wirken wenn ich intuitiv Field-Recordings bearbeite und zum x-ten Drone-Stück verbaue — zum eigenen Spaß.

    Was ich verdeutlichen wollte war der Unterschied, aus meiner Sicht, dass die einen institutionalisiert Werke auf Papier bringen (die ggf. lange Zeit gar nicht aufgeführt werden können), sie dies in einer Schule o.ä. gelernt haben und einem gewissen Zirkel angehören.
    Andere kommen aus der Kunstszene, nur als ein Beispiel die Gebrüder Lippok, und entwerfen Kunstmusik wie z.B. die Veröffentlichung „Theatermusik“.

    Ob diese mögliche Differenzierung und gewisse Hörigkeit gegenüber dem „ernsten“ (vgl. E-Musik vs. U-Musik) und „gelerntem“ Musikschaffen unbedingt gerechtfertigt ist bin ich mir selber nicht sicher, bezweifle es eher. Du merkst, ich bin selber indifferent. Was auch daher rührt, dass ich jetzt selber wenig über das Thema dieser Begrifflichkeiten reflektiert habe.

    Letztlich geht es für mich darum ob mich die Musik kickt. Interessanter Weise war das zuletzt eher bei den klassischen Konzerten der Fall und seltener bei den fancy, neuen Improvisationen mit ach so coolen Effekten. Das können IMHO die Autodidakten besser. YMMV.
    (auf die Ferienkurse von 2010-2016 bezogen)

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  5. @san: Ich referiere hier im Wesentlichen die Gedanken des Kunstphilosophen Harry Lehmann (mit dem ich gut bekannt bin). Als Lektüre empfehle ich dir in diesem Zusammenhang seinen Essay „Avantgarde heute“ aus den Nullerjahren: http://www.harrylehmann.net/neu/wp-content/uploads/2011/04/Harry-Lehmann_Avantgarde-heute.-Ein-Theoriemodell-der-%C3%A4sthetischen-Moderne.pdf

    Wenn du’s knapper und flapsiger haben willst, dann schau doch mal in meine „Gedanken zu Lehmanns Musikphilosophie“ auf diesem Blog, die ich zwischen 2012 und 2015 aufgeschrieben habe: https://stefanhetzel.wordpress.com/hauptseite-10-gedanken/ Kommentare gerne dort 🙂

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  6. „Die Welt der alten „Neuen Musik“ scheint mir in den letzten 25 Jahren mehr und mehr zu einem Sammelbecken von Reaktionären und Gegen-den-„Zeitgeist“-Schwimmern geworden zu sein …“, dieser Passus ist leider wahr! Im nmz-Blog zu Darmstadt 2016 fiel ebenfalls der Begriff von „reaktionär“. Es scheint, als komme langsam Bewegung in die Szene. Eine akustisch-skulpturale Arbeit, wie die des Klangkünstlers und Radio-Art-Autors Johannes S. Sistermanns bei Donaueschingen 2016, hat Documenta-Niveau, wird aber nicht also solche wahrgenommen und bleibt Beiwerk – da kommerziell nicht verwertbar -, zumal es an die Grenzen der Rezensenten und mitunter auch Rezipienten stösst.

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