„Wer keine Noten lesen kann, ist ein Analphabet!“

Brian Ferneyhough: „Terrain“ (1992), Partiturausschnitt Quelle

Ich bin ein ausgesprochener Notenmuffel. Beim Komponieren vermeide ich die Verwendung von klassischer musikalischer Notation, wenn es irgendwie geht. Und es geht eigentlich fast immer, MIDI und dem Piano-Roll-Editor sei Dank.

Und sollte wirklich mal jemand meine Musik „vom Blatt“ spielen wollen, findet sich ganz sicher eine Expertin, die meine Standard MIDI Files in traditionelle Notenschrift zu konvertieren in der Lage ist. Ich selber kann das nicht. Ich habe es versucht und bin kläglich gescheitert. Die Tonhöhen sind dabei nicht das Problem, aber die Rhythmik oder – besser gesagt – die Metrik. Ich bin zwar in der Lage, rhythmisch bzw. metrisch komplexe Musik zu spielen (bzw. zu improvisieren, also zu „erfinden“) und ich liebe es auch, im Piano-Roll-Editor diese Erfindungen minutiös nachzubearbeiten und zu variieren (d. h. ich „verstehe“ sehr gut, was ich da getan habe, es handelt sich also nicht um zufälliges Herumgeklimper, das ja ebenfalls schwer zu reproduzieren wäre), aber sobald jemand dieselbe Musik in traditionell „korrekte“ Notation transkribierte, wäre ich komplett verloren und auf bizarre Weise plötzlich entfremdet vom eigenen Output.

Es ist ein bisschen so, wie wenn ein deutschsprachiger Autor das erste Mal eine chinesische Übersetzung eines seiner Bücher in Händen hält. Natürlich weiß er, dass jeder Satz, jeder Gedanke und jeder Argumentationsgang in diesem kryptischen Konvolut von ihm selbst stammen – aber was nützt ihm das in diesem Fall?

Der Grund, warum ich die „verschriftlichten“ Fassungen meiner ur-eigenen Schöpfungen nicht „interpretieren“ könnte, ist ebenso peinlich wie hanebüchen: Sie wären für mich viel zu schwierig zu spielen. Ich wäre pianistisch heillos überfordert.

Schon, als ich noch klassischen Klavierunterricht hatte (es ist Jahrzehnte her), gruselte es mich vor den relationalen Komplexitäten, zu denen sich klassische Notation sehr schnell aufschaukeln kann. Sie erinnerten mich an Symbolsprachen aus dem Mathematik-, Physik- und Chemieunterricht, die ich genausowenig checkte. Und so scheiterte ich systematisch an der Übersetzung meiner visuellen Perzeption in motorische Aktion. Gewaltige Frustration staute sich an und ein defätistischer Gedanke drängte sich immer mehr in den Vordergrund: „Sieh’s doch endlich ein, du bist schlicht zu dumm, um anspruchsvollere Musik gedanklich erfassen und damit interpretieren zu können. Also lass es lieber sein, du machst dich sonst nur unglücklich!“

Improvisieren, Jazz und MIDI – langjährige Weltsicht-Leser wissen das – erlösten mich in the long run von diesem Übel. Aber das Problem meines „notationalen Analphabetismus“ blieb davon völlig unberührt und sitzt weiter als Stachel im Fleische.

Umso erfreuter war ich, als ich von der ungewöhnlich breiten Diskussion* um diesen Artikel der jungen (und nach allem, was ich weiß, ziemlich unbekannten) Charlotte C. Gill hörte, der exakt „meine“ Problematik thematisiert: Bis heute, so verstehe ich Gill, diene das Notenlesenkönnen als mächtiger Selektionsmechanismus akademischer Musikausbildung, der einer Menge begabter Menschen speziell aus bildungsferneren Schichten den Weg zu musikalischer Kreativität nachhaltig versperre:

… ; some get notation, others don’t. Neither is indicative of talent, but while we do not find lateral, inclusive ways to engage people – as well as loosening our ideas of what constitutes musical ability – we are losing masses of would-be performers.

Genau so ist es. Und nicht nur „performers“, sondern eben auch „creators“.

Auch lustig:

While there are routes into musical careers for the untrained, and many pop … artists have never studied music formally, there are also dozens of choirs and amateur collectives that put a huge focus on musical notation.

Es ist schon merkwürdig: Jedem musikalisch empfindsamen Menschen ist zwar glasklar, dass die flüchtige musikalische Kreatitivät bsp.weise eines inspirierten Blues-Gitarristen, der aber keine Noten lesen kann, turmhoch über den sorgfältig auskomponierten Klavier-Etüden bsp.weise einer mittelmäßigen akademischen Komponistin steht – und zwar unabhängig davon, dass es ohne Zweifel natürlich auch mittelmäßige Blues-GitarristInnnen und inspirierte akademische KomponistInnen gibt. Aber selbst im 21. Jahrhundert bekommt der Kathederkomponist als seriöser Repräsentant einer ehrwürdigen Tradition oft erstmal mehr kulturellen Kredit als der Blueser, dieser Straßenköter. Was für ein Anachronismus, es ist zum Haareraufen!

Ich denke, in den Köpfen vieler Menschen mit europäischem Migrationshintergrund spukt immer noch eine falsche Analogie herum: Musik sei eine Sprache, deswegen sei Notenlesenkönnen soziokulturell ebenso bedeutsam und elementar wie Lesenkönnen. Komponieren, also Noten schreiben, sei demzufolge vergleichbar mit dem Schreiben eines Romans.

Unsinn.

Denn: Sprache „hat“ bzw. „ist“ Semantik, Musik nicht. Es gibt bsp.weise kein musikalisches Analogon für „Eifersucht“, auf das sich mehr als zwei, drei Hörer zur gleichen Zeit einigen könnten. Musik triggert (und das auch nur bei musikalischen Menschen) stets ausschließlich qualitative Empfindungen an, die bestenfalls „vorsprachlich“ genannt werden können.

Die Tatsache, dass jemand „gut über Musik sprechen kann“, beweist zunächst nur, dass er über Sprachkompetenz verfügt. Inwieweit diese Fähigkeit mit genuin musikalischer Empfindsamkeit gekoppelt ist – oder eben nicht – , findet man oft erst viel später heraus.** Umgekehrt mag es musikalisch hochempfindsame und auch kreative Individuen geben, deren Texte und verbale Äußerungen einfach nur peinlich sind. Auch hier gilt: Nur nicht irritieren lassen, eine mühsam dahingestammelte Anmoderation macht die nachfolgende Musik um keinen Deut schlechter.

Kurz: Die Früchte musikalischer und sprachlicher Intelligenz wachsen ganz offensichtlich auf verschiedenen Bäumen. Dass jemand – um in der Metapher zu bleiben – beide in seinem Garten stehen hat, ist eine seltene Gnade.

Doch zurück zur aktuellen Debatte in Großbritannien. Am 5. April erschien diese Replik auf Gills Polemik im Guardian, deren Überschrift „This romanticisation of musical illiteracy is risky“ ihren Inhalt trefflich zusammenfasst: Ganz unumwunden und ohne jede Scheu wird hier das Keine-Noten-lesen-Können mit Analphabetimus, also dem Nicht-Lesen-Können, gleichgesetzt – was dann wohl bedeutet, dass ein nicht unerheblicher Teil des musikalischen Weltkulturerbes*** von Analphabeten (in diesem Sinn) geschaffen wurde.

Die Replik wurde von sage und schreibe 700 (!) Persönlichkeiten des britischen und internationalen Musiklebens unterzeichnet – darunter z. B. Brian Ferneyhough, Unsuk Chin und Simon Rattle. Die Debatte darf also mit Fug & Recht als „relevant“ bezeichnet werden und wird vermutlich auch bald hierzulande geführt.


* Das Kommentarfenster im Guardian ist offenbar  – nachdem 1.133 (!) Meldungen eingegangen waren – mittlerweile zu.
** Anders gesagt: Das Sprechen und Schreiben über Musik – und hier vor allem über Instrumentalmusik – ist ein idealer Tummelplatz für Hochstapler.
*** also z. B. alle Formen oral überlieferter ethnischer Musik, aber auch elektronische Musik (weder die musique concrète noch Techno arbeiteten bzw. arbeiten im Medium der Notation), große Anteile des Jazz, die klassische Arabische Musik, Klanginstallationen, der balinesische Gamelan, Blues, Algorithmische Musik, die klassische Indische Musik, sowie sämtliche Spielarten Improvisierter Musik (also z. B. auch Sessions von und mit The Grateful Dead, Can, The Velvet Underground oder Sonic Youth).

5 Kommentare zu „„Wer keine Noten lesen kann, ist ein Analphabet!“

  1. Hee, gleich am Sonntagmorgen ein schwieriges Thema, aber extrem wichtig.
    Allerdings unverdaulich, wenn nicht in Einzelteile zerlegt.

    -Das Soziologische, bürgerliche Distinktion, Musik sei eine Sprache wie die Gesprochene.
    -Unser Denken über Musik-Zeit: ist sie quantisiert (nur in der Wahrnehmung?), wie ändert die Musik ihrerseit die „Abtastfrequenz“.
    -Kommunikation mit dem Interpreten: wie exakt wollen wir ihn festlegen?
    -Warum entsteht keine (dominierende) neue Zeit-Notation. Es werden kurze Zeiten durch lange Symbole dargestellt usw.
    Einerseits: ich hasse Noten (die besten Noten sind die Banknoten); aber Möglichkeiten der Notation sind in einer Hochkultur unerlässlich.
    -Auch MIDI hat Gängelungs-Effekte; es sollte Analysenwerkzeug mitgeliefert werden, mit denen man (versteckte) Zeitbezüge und Pulse verstehen kann.
    und weiteres…..

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  2. @Karl: Herzlichen Dank für deine rasche Replik, die mir Gelegenheit gibt, ein paar Einzelheiten meiner Position zu spezifizieren:

    1. Ich käme niemals auf die Idee, klassische Notation sei durch MIDI-Symbole zu ersetzen (was du ja auch nicht behauptest, aber ich habe das Gefühl, das einfach mal klarstellen zu müssen). Das MIDI-Protokoll wurde in den frühen 1980er-Jahren als Interface-Sprache zwischen Mensch und Rechner entworfen und macht demzufolge naturgemäß „faule Kompromisse“ in beide Richtungen: Für eine wirklich „menschliche“ Sprache ist es zu technokratisch und für eine wirklich maschinennahe Codierung zu beschränkt und zu undifferenziert. Aber exakt diese „Defizite“ markieren die soziokulturelle Erfolgsgeschichte dieses Protokolls (was es im Übrigen mit HTML gemeinsam hat, das ebenfalls von nicht-technikaffinen Menschen als „zu kompliziert zu lernen“ und von „richtigen“ Programmiererinnen als: – richtig, zu beschränkt und zu undifferenziert empfunden wird – see what I mean?).

    2. Wie wäre es, wenn künftig im Musikunterricht der Umgang mit MIDI als legitimes, kulturell gleichwertiges Aufzeichnungsmedium neben dem Erlernen klassischer Notenschrift unterrichtet würde? Denn nur geschätzt die Hälfte aller globalen musikalischen Kreativität besteht heutzutage in zwischenmenschlicher Interaktion, die andere Hälfte besteht darin, dass Menschen Musikmaschinen Befehle erteilen.

    3. Ich bin in keinster Weise „stolz“ darauf, ein so schlechter Notist zu sein (von einem absoluten Gehör bin ich übrigens ebenso weit entfernt), worauf ich allerdings stolz bin, ist, dass mich dies nicht davon abhielt, zu komponieren und mich sogar als „Komponist“ zu bezeichnen, denn eigentlich „darf“ ich das als „Analphabet“ (im oben genannten Sinn) ja gar nicht! Wer keine Noten schreiben kann, darf sich doch nicht Komponist nennen, oder? Fakt ist aber: Keines meiner kammermusikalischen oder orchestralen Werke entstand im Medium der Notation, alle wurden am MIDI-Keyboard improvisiert, anschließend im Sequenzer feingeschliffen und schließlich diversen Sample-Bibliotheken zur Ausführung übertragen. Sind sie darum kulturell weniger wert, als wenn ich sie mit dem Gänsefederkiel auf Büttenpapier eingeritzt hätte? Und das ist keine rhetorische Frage.

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  3. Dass bei dieser Streitschrift (?) ausgerechnet Leute wie Brian Ferneyhough unterzeichnet haben, ist einigermaßen amüsant.

    Ich war lange der Meinung, dass Notenschrift ein Mittel zum Zweck sei, (und nicht unbedingt das beste, sondern ein historisch gewachsener schlampiger Kompromiss) aber seit ungefähr einem Jahr beginnt sich die Position zu drehen – mitschuld daran ist die Facebook Gruppe „Music Engraving“ – hat nämlich dazu geführt, dass ich Aufmerksamkeit aufs Notenbild gelenkt habe, und festgestellt: Das kann ein wesentlicher Teil der Ästhetik sein. Wie etwas optisch aussieht, kann Auswirkungen haben, wie die Musik dann aufgefasst wird, und das finde ich schon spannend.

    Aber natürlich hast du recht, dass das alles eine optionale Sache ist. Ein Kontext-Element halt, so wie Stücktitel oder außermusikalisches Programm oder die Farbe der Kleidung der Aufführenden, usw. Alles verzichtbar, alles aber auch positiv verwendbar.

    Den Vorschlag, MIDI in der Schule zu unterrichten, finde ich klasse! Da bin ich ehrlichgesagt allerdings selbst wieder Analphabet – ironischerweise – obwohl ich seit ich 11 bin MIDI-Stücke schreibe, tu ich dies immer nur über die Notenschrift, da ich nichts anders gelernt habe oder lernen wollte. (Ich seh halt in Noten eher, was da passiert, als wenn es komisch geformte Striche sind – da weiß ich nicht, wie ich z.B. Quintolen „sehen“ sollte, oder halt stark synkopierte Rhythmen… keine Ahnung, ob und bis zu welchen Grad man das nach jahrzehntelanger Übung kann.^^ Weiß nur, dass die Übersetzung von Midi-Input in Notenschrift, wie sie bei Capella und Sibelius eingebaut sind, notorisch schlecht darin ist, N-tolen richtig zu erkennen… selbst Triolen schon :-/ )

    Notenschrift gar nicht lesen zu können, finde ich allerdings immer noch eine Bildungslücke. Ob eins die Notenschrift als Mittel zur musikalischen Verwendung dann einsetzt oder anderen Sachen vorzieht, das würde ich aber dem Individuum überlassen. Ich bin mir aber meiner anderen Bildungslücken bewusst, ich kann z.B. keine Jazz-Notation lesen, oder Gitarrentabulatur und und… auch das könnte man theoretisch als Basiswissen begreifen. Die Notenschrift ist halt gleichzeitig der Schlüssel, um Zugang zu mehreren Jahrhunderten von Repertoire zu haben, das ist ja auch das Problem, warum sie sich großen Neuerungen widersetzt, weil sie rückwärtskompatibel sein muss mindestens bis Bach.

    Schon, als ich noch klassischen Klavierunterricht hatte (es ist Jahrzehnte her), gruselte es mich vor den relationalen Komplexitäten, zu denen sich klassische Notation sehr schnell aufschaukeln kann.<<<<

    Darunter kann ich mir gerade nichts vorstellen. Was wäre denn ein Beispiel dafür? Viele scheitern ja an Triolen vs. Achtel, aber irgendwie kann ich mir grad nicht vorstellen, dass das für dich ein Problem gewesen wäre.

    Ich bin mit improvisierter Musik auch sehr schnell an Grenzen der Notierbarkeit gestoßen – viele meiner „Jugendwerke“ habe ich deswegen bis heute nicht aufgeschrieben, weil ich manche rhythmische Feinheit vereinfachen müsste, … allerdings möchte ich das irgendwann schon tun, weils natürlich auch spannend ist. Bei einem meiner durch Improvisation entstandenen Stücke hatte ich einen Rhythmus drin, den ich nach wochenlangen Herumüberlegen schließlich als 23/16 oder so ähnlich festgelegt hatte – und das, obwohl er nach 4/4 mit Störfaktor klang. Das hab ich dann von den Noten auch nicht mehr reproduzieren können, und wäre ein Beispiel für einen Fall, wo die klassische Notation überhaupt nicht weiterhilft. (Da ich ihn nicht notieren konnte, hat sich der Rhythmus allerdings auch in meinem Kopf in den folgenden Jahren abgeschliffen – eine Originalaufnahme habe ich nicht mehr, glaub ich – wäre ein Fall, wo eine MIDI-Aufzeichnung von Nutzen wäre, da man dort ja quasi die Proportionen kriegt, ohne sie gleich in Bezug zu Takten und Schlägen setzen zu müssen…)

    Was mir wiederum an der klassischen Notation gefällt, ist die Möglichkeit, etwas einerseits präzise anzugeben und andererseits in der Ausführung erheblich davon abzuweichen. Wenn ich ein Notenbild vor mir habe, kann ich drauf aufbauend wieder improvisieren – wenn ich’s exakt im Kopf habe, geht das auch, aber das ist auch schon der einzige andere Fall. (Und es geht dann eben nur bis zu einem gewissen Grad an Komplexität)

    Dafür ist das System, glaub ich, in erster Linie entstanden, um also etwas zu generieren, das sich interpretieren lässt. Und je mehr man versucht, einen Klang exakt zu notieren, desto weniger ist das klassische Notensystem dafür geeignet.

    So, das war eh schon die x-te Abschweifung. Schönen Sonntag. 😀

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