Johannes Kreidler: „Earjobs Documentary“ (2017)

Anfang April warb ich hier für Johannes‘ Aktion „Earjobs. Verdienen mit Musik“. Mittlerweile ist das Ding gelaufen und der Künstler – hier in der Rolle einer Art Lutz van der Horst* der Kunstmusik brillierend und mitunter auch seine HörarbeiterInnen ganz unverhohlen anpöbelnd – hat seine Arbeit sehr kurzweilig dokumentiert und durch einen erhellenden, aber in keinster Weise belehrenden (und vollkommen un-ironischen) Werkkommentar ergänzt:

Mein Höhepunkt des Videos ist Kreidlers Konfrontation mit einer sich als non-materialistic sound artist einführenden unwilligen Hör-Kandidatin ab 2:35, die in kühlem, analytischem Tonfall zu dem Schluss kommt, was Kreidler hier simuliere, sei ja gar nicht Kapitalismus, sondern Totalitarismus (dictatorship). Allein, weil er Bewertungen über Kunst vorgebe, sei er ein „Faschist“ (fascist). Sie als sound artist hingegen könne in allem etwas Schönes finden (I can actually find ways of making it really beautiful.).

Mit einem solchen Begriff ästhetischer Erfahrung darf man dann aber konsequenterweise auch eine sehr gute Interpretation von Schönbergs „Verklärter Nacht“ nicht mehr höher bewerten als bsp.weise unbearbeitete field recordings aus einer Cottbuser Herrentoilette – vorausgesetzt natürlich, Letztere wurden von einem hochreflektierten, akademisch ausgebildeten sound artist mit dem richtigen Bewusstsein aufgenommen.

Es ist ein boshafter Gedanke, aber: Kämpft die Klangkünstlerin hier nicht auch lediglich um ihren Arbeitsplatz? Allerdings nicht um den als Angestelle in Kreidlers zynischer Hörfabrik-Fiktion, sondern um den als Protagonistin staatlich geförderter Hochkultur.**

Johannes Kreidler?


* Sogar seine hochtoupierten Haare ähneln ein wenig der van der Horst’schen Sturmfrisur.
** Vgl. auch die einschlägige Kreidler-Sentenz: „Alle ästhetischen Debatten entpuppen sich irgendwann als Debatten über Geld.“

13 Kommentare zu „Johannes Kreidler: „Earjobs Documentary“ (2017)

  1. @Stefan, es gibt keine Notwendigkeit, alles, was gesagt wird, einer Analyse zu unterziehen.
    Diskutiere doch mal mit jemand, der behauptet: „Alles ist Liebe!“
    Also alles was sich auf der Erde so zeigt an nettem Zwischenmenschlichem. Hatte ich mal so gehabt, brauche ich nicht.

    Was mich nervt, ist Un-Bewusstheit. Nicht zu merken etwa, daß man gerade dabrei ist, sein Ego herauszustellen. Oder wenn man auf Hawkings Endzeitvision aufspringt, weil man eh gern alles schwarz sieht, aber das im Grunde nicht parat hat.

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  2. Ich hatte unlängst eine Diskussion hier im Netz über Hawkings „In 100 Jahren ist die Erde nicht mehr bewohnbar“. Ich meinte darauf, daß die Wissenschaft, wenn man nur genau danach in den Nachrichten sucht, vielerorts und mehrfach daran ist, Verfahren zu entwickeln, um Schäden und Missstände zu beheben. Das anzuführen, führte letztlich zu einem Ausschluß von mir aus dieser Diskussion. Die betreffende Person beharrte auf ihrer dunklen Ansicht – sie gab so schön Nahrung.

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  3. Allgemein auf Wirtschaft bezogen, bin ich (noch) kein Antikapitalist (dazu verstehe ich viel viel zu wenig davon). Aber wo es um Ästhetik geht, finde ich, stört mich der Einfluss von Geld schon immer mehr.

    (Und ich bin froh, mich zumindest teilweise noch unter Kreativen zu bewegen, wo die Kreidler-Sentenz nicht zutrifft.)

    Nichtsdestotrotz finde ich, Johannes Kreidler ist wiedermal ein Projekt gelungen, das definitiv zum Nachdenken anregt. Ich hatte da selber überlegt, was zu zu schreiben, aber ich komme nicht dazu… was mir aber beim Anschauen noch durch den Kopf ging, war: Die Aussage, dass durch die Bezahlung das Hören „erstmals“ zur Arbeit umgedeutet wird, stimmt für mich gar nicht. Und ich denke, das wird wohl vielen so gehen, die in irgendeiner Weise in einem Musikstudium stecken – das Hören wird auch hier, im universitären Kontext, zu Arbeit. Es ist allerdings, zugegebenermaßen, meist noch eine freiwillige Arbeit (was jetzt vielleicht in mancher Definition ein Widerspruch ist, aber darauf kommt es mir jetzt gerade nicht an). Schon als 16-jähriger, der noch nicht mal wirklich ernsthaft daran dachte, mal Komposition zu studieren, hatte ich dieses Gefühl, für meine musikalische Weiterbildung Stücke hören zu „müssen“, und diese Bewertung hat durchaus etwas von einer Pflicht. (den Unterschied zwischen Pflicht und Arbeit ignoriere ich jetzt mal)

    Jedenfalls ist die Erfahrung, ein Stück nicht aus intrinsischer Motivation, sondern wegen wie auch immer gearteten Erwartungen an sich selbst anzuhören, mir nicht fremd. Mir kam der Gedanke auch nur, weil ich überlegt hatte, wie es mir in der Rolle der Hör-Arbeiter an Kreidlers Tisch ergangen wäre, und dann eben festgestellt hatte, das es gar keine fundamental neue Erfahrung gewesen wäre. Vermute ich. 😉

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  4. @knopfspiel: Danke für deinen aufschlussreichen Kommentar 🙂 Das Perfide an Johannes‘ „Job-Angebot“ ist ja, dass es sich exakt an die angeblich so „kunst-affine“, ja „kunst-begeisterte“ Klientel eines Avantgarde-Musik-Festivals (hier: „Free Music“) richtet, um es auf die Probe zu stellen. Welches dieser sich angeblich ernsthaft für zeitgenössische Kunstmusik interessierenden Individuen (oder warum sonst besucht man „Free Music“?) würde auf einen (vergleichsweise geringen) monetären Vorteil verzichten, um „Neue Musik“ hören zu können? Wer wäre bereit, ein echtes, wenn auch geringes, Opfer „für die Kunst“ zu bringen? – So gut wie niemand, wie sich im Video zeigt. Außer dem Komponisten Patrick Frank, der sich seine eigene Arbeit (u. a.) anhört. – Schon geil, dieses Ergebnis 🙂

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  5. Dass das ein Avantgarde-Publikum war, war zwar aus dem Trailer ersichtlich – aber irgendwie aus der Dokumentation gar nicht. Jedenfalls kaufe ich diesen Leuten nicht ab, Avant-Garde-Publikum zu sein. (Oha, abkaufen, eine Geldmetapher^^)
    Der Typ der von Cage 4’33 gemeint hat, er habe schon einmal einen Ausschnitt davon gehört, war ja auch der Hammer. 😀

    Ein Komponist, der sich seine eigene Musik für Geld anhört… zynische Kulturbanausen würden das wohl von so manchen Komponisten gerne einfordern.^^

    (offtopic: Bin übrigens grade geographisch näher als sonst, nämlich im Zug grade vor Würzburg. 😉 Und sehr positiv überrascht, dass es hier eine funktionierende Internetverbindung gibt, das hat die österreichische Bahn noch nicht wirklich hingekriegt.)

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    1. @knopfspiel: „Bin übrigens grade geographisch näher als sonst, nämlich im Zug grade vor Würzburg. 😉 Und sehr positiv überrascht, dass es hier eine funktionierende Internetverbindung gibt, …“ – … und manchmal steigen wir hier in Unterfranken sogar von den Bäumen runter und essen aus Tellern 😉

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  6. Wer sagte : „Kunst nimmt die Realität vorweg“? Vielleicht ist Johannes da sogar etwas spät dran.
    Aber musste (einmal) gemacht werden. (Karl Gerber)

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