Lüge und Wahrheit als „kaum zu definierende Primärbegriffe“

Helden der Kopfarbeit: Den Gebrüdern Strugazki verdanken wir u. a. die Vorlage für Andrei Tarkowskis Film „Stalker“

Das Märchen von der Troika von den Strugazki-Brüdern aus dem Jahr 1967 ist alles andere als Science Fiction. Es liest sich eher wie eine ziemlich deftige Gesellschaftssatire, fast ein Bauernschwank, „Szenen aus dem ländlichen Russland“ oder so. Dennoch ein in keinster Weise nostalgisches Leseerlebnis. Und zwischendurch lassen die Autoren eine ihrer infamen Figuren Sätze über Wahrheit und Lüge verkünden, die wie eine Definition von „Postmoderne“ im Trump’schen Sinn klingen:

Was ist eigentlich Lüge? … Lüge ist Leugnung bzw. Verfälschung der Tatbestände. Und was ist ein Tatbestand? Kann man denn unter den immer komplizierter werdenden Bedingungen unseres Alltags überhaupt noch von Tatbeständen sprechen? Ein Tatbestand ist eine von Augenzeugen bestätigte Erscheinung oder Handlung. Es kommt mitunter vor, dass Augenzeugen voreingenommen sind, habgierig, oder ganz einfach nur dumm und einfältig. Ein Tatbestand wird auch von Dokumenten beglaubigt, wobei die Dokumente gefälscht oder fabriziert sein können. Ein Tatbestand ist letztlich eine Erscheinung oder Handlung, über deren Gültigkeit ich persönlich bestimme, wobei aber auch mein Instinkt mitunter wackelig, ja sogar durch unvorhergesehen eingetretene Umstände irrig sein kann. Daraus ergibt sich, dass der Tatbestand eine höchst gebrechliche Rolle spielt. Der Tatbestand ist ein verschwommener, unzuverlässiger Begriff, den wir in Hinkunft gänzlich abschaffen werden. Lüge und Wahrheit werden dadurch zu zwei primären, mit allgemeinen Argumenten kaum zu definierenden Begriffen.

Da soll sich noch einer wundern, warum Trump so auf den Ex-KGB-Agenten Putin steht, für den Lüge und Wahrheit ebenfalls „kaum zu definierende Primärbegriffe“ sein dürften.

5 Kommentare zu „Lüge und Wahrheit als „kaum zu definierende Primärbegriffe“

  1. Ich halte es bei diesem Thema mit Hannah Ahrendt:

    Im Lügner selbst hat die Wahrheit ihre letzte Zuflucht gefunden.

    Hannah Arendt

    Aus: „Wahrheit und Politik“ von Hannah Arendt (1963)

    Wollte man den Satz: »Es ist besser, andere zu belügen als sich selbst«, den ich für wahr halte, durch Argumente zwar nicht beweisen, aber stützen, so müßte man zu dem, was Dostojewski sagt, nämlich, daß nur der kaltblütige Lügner sich noch des Unterschieds zwischen Wahrheit und Unwahrheit bewußt ist, noch hinzufügen, daß der Wahrheit mit dem Lügner besser gedient ist als mit dem Verlogenen, der auf seine eigenen Lügen hereingefallen ist; sie ist doch nicht ganz und gar aus der Welt herausmanövriert, in dem Lügner selbst hat sie ihre letzte Zuflucht gefunden.

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  2. @Gerhard & Volker: Das wahrhaft Verstörende an der Rede der Strugazki-Figur ist ihre Indifferenz gegenüber der Wahrheit, die ich für wesentlich destruktiver halte als bsp.weise Notlügen oder bewusste Irreführung. Sie ist in diesem präzisen Sinne ein bullshitter, wie ihn der Philosoph Harry G. Frankfurt in seinem Text On Bullshit 1986 beschrieb.

    Putin, Trump und Berlusconi sind natürlich ebenfalls derartige bullshitter, im deutschsprachigen Raum bleibt meiner Meinung nach Karl-Theodor zu Guttenberg das prächtigste Exemplar dieser Menschengattung.

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