
Der große KS Robinson hat einen Klimaroman geschrieben, den ich mir als Sommerlektüre ausgesucht hatte. Aber wir haben erst den 4. August und schon habe ich „New York 2140“ ausgelesen – allerdings weniger, weil mich das Buch so fürchterlich gepackt hätte (obwohl es, zugegeben, nicht schlecht ist, siehe unten), sondern weil ich wegen der gegenwärtigen Hitzewelle zu geistig wirklich herausfordernden Tätigkeiten wie Komponieren einfach nicht in der Lage bin. Lesen geht aber, auch Bücher in englischer Sprache.* Also hatten die aktuellen Auswirkungen des Klimawandels meine beschleunigte Lektüre eines Romans über die langfristigen Auswirkungen des Klimawandels zur Folge, was nicht einer gewissen Folgerichtigkeit entbehrt.
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In gewohnter, aber nicht unmotiviert wirkender panoramischer Breite faltet Robinson eine fiktive, aber mögliche Welt vor uns aus: Das New York des Jahres 2140 ist wg. Klimawandel ziemlich genau zur Hälfte abgesoffen, wird aber weiter zäh bewohnt und halb reißerisch halb zärtlich Super Venice genannt. Dank neuer Werkstoffe können nun unterhalb des Meeresspiegels liegende Downtown-Immobilien recht kostengünstig wasserdicht gemacht werden, während graphen-gestützter Hochbau Uptown-Wolkenkratzer heute unbekannter Höhe nahezu spielend ermöglicht.
Robinsons Szenario ist also sowohl eines des buchstäblichen Untergangs als auch eines des erfolgreichen Krisenmanagements. Und er schafft es das ganze Buch über, diese Ambivalenz aufrechtzuerhalten. „New York 2140“ ist also weder apokalyptisch wie ein Roland Emmerich-Film noch technokratisch-optimistisch wie ein Sachbuch von Marvin Minsky. Der Roman handelt davon, wie die Menschheit angesichts einer selbstgemachten Katastrophe von apokalyptischem Ausmaß trotz enormer Verluste, Probleme und Folgeschäden halbwegs davonkommt. Und genau deshalb halte ich es für ein realistisches Buch zum Thema Klimawandel. Derartige Bücher gibt es leider derzeit zuwenig, es dominieren die Apokalyptiker und die Klimaleugner. Logisch: Tendenziöser Bullshit verkauft sich besser als mühsam austarierte Ideen und Gedanken.
Psychologisch glaubwürdige und gelegentlich unterhaltsame Charaktere (der jugendlich-ungestüme Hedgefonds-Manager, die abgeklärte afroamerikanische Polizeikommissarin mittleren Alters, der knorrige Hausmeister mit traumatischer Berufstaucher-Vergangenheit und zwei draufgängerische Jungs in ihrem Schlauchboot, die an Tom Sawyer und Huckleberry Finn angelehnt sind) ringen um Einfluss, das Kapital schikaniert die kleinen Leute, idealistische quants (Programmierer) hacken gegen dark pools (Kapitalansammlungen unklarer Herkunft) an, superreiche Bewohner von Graphen-Superscrapern versuchen, genossenschaftlich geführte Old School-Hochhäuser zu gentrifizieren etc. – das eigentlich Erstaunliche ist, dass mir diese tendenziell schwarzweiße Welt nicht bald auf den Keks ging. Vielleicht lag es daran, dass zumindest eine Zentralfigur im Verlauf des Geschehens etwas unerwartet, aber plausibel das Lager wechselt und damit eine wichtige Kettenreaktion auslöst.
Streckenweise wirkt „New York 2140“ wie eine Fiktionalisierung von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie. Gegen Ende des Buches macht das eine Figur dann sogar ganz explizit:
Seemingly frozen moments are transient, they break up like the spring ice, and then change occurs. So individuals, groups, civilization, and the planet itself all did these things, in actor networks of all kinds. Remember not to forget … the nonhuman actors in these actor networks. Possibly the New York estuary [Flussmündung, S.H.] was the prime actor in all that has been told here, or maybe it was bacterial communities, expressing themselves through their own civilizations, what we might call bodies.
Diese Sichtweise – eine Flussmündung als Hauptfigur eines Romans – macht „New York 2140“ auf subtile Weise zu einem „ökologischen Roman“ ganz ohne Öko-Klischees und hebt das Buch dann doch aus der Masse aktueller Klimaromane deutlich heraus. Es gelingt Robinson einmal mehr, gesellschaftliche Makro-Entwicklungen mit genuin literarischen Mitteln systemisch darzustellen, ohne dass die Leserin das Gefühl bekäme, einem Ameisenhaufen beim Wuseln zuzusehen. Dafür sind seine Figuren einfach zu lebendig.
LeserInnen mit einem Faible für Technologie und Naturwissenschaft sind dennoch klar im Vorteil, denn ganz am Ende handelt es hier halt doch „nur“ um Science Fiction-Literatur klassischen Zuschnitts (also ohne Elfen), allerdings auf deutlich gehobenem Niveau.