«Star Trek (2011)» für Orchester, 2018 (ePlayer-Realisierung)

Abb. 1 (SH) Elite (Mr. Spock), 2018

Kompositions-Software Music Mirror (T. Katsuda), Cubase
MIDI-Editoren MidiEditor (M. Schwenk), MIDIPLEX (Stas’M), Sekaiju (kuzu), Cubase
Temperierung gleichschwebend, aber alle Saiteninstrumente [^1] sind einen Viertelton (50 Cent) tiefer gestimmt als der Rest des Orchesters
Sample-Bibliotheken Vienna Symphonic Library Special Edition, außer Marimbafone (VSCO2) und Klaviere (Sonatina)
Faltungshall Large Stanford Stairwell

Kompositionsnotiz

Der Titel
Zum ePlayer
Kompositionstechnisches
Biografisches

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Der Titel

Abb. 2 Die ursprüngliche Betitelung der Reihe «Jahreszahlen» wurde inspiriert durch die Art und Weise, wie Robert Fripp seine Frippertronics-Tracks auf dem Album „Let The Power Fall“ benannte. Obwohl das Album 1981 erschien, nannte er die Stücke „1984“, „1985“ etc. Daraus leitete ich das Prinzip ab, die «Jahreszahlen» inkrementell nach Jahreszahlen zu benennen, beginnend mit «2003», dem Jahr, in dem das erste Stück entstanden war. Auch als Entstehungsjahr und Betitelung begannen, auseinanderzufallen, behielt ich dieses Prinzip bei.

«2011» setzt die Reihe der «Jahreszahlen»-Kompositionen, die im Jahr 2003 mit dem Orchesterstück «2003» begann, fort. Aber warum heißt das Stück dann 2011, wo es doch im Jahr 2018 komponiert wurde? Nun, irgendwann, nachdem ich jahrelang kein neues Stück zuwege gebracht hatte, beschloss ich, die Betitelung der «Jahreszahlen» dennoch beizubehalten, aber als rein numerische Ordnung. «2011» ist also keine Vertonung dessen, was ich in diesem Kalenderjahr so erlebt habe. Angesichts einer fehlenden Semantik kann Instrumentalmusik ohnehin generell nichts vertonen, was intersubjektiv verlässlich wiedererkennbar wäre bzw., wie der hierzulande leider ziemlich unbekannte französische Musikphilosoph Jankélévitch sagen würde: „Es gibt eine ‚musikalische Sprache‘ genau in dem Sinn, in dem es eine Blumensprache gibt.“
Die «Jahreszahlen» sind eine Reihe, wie etwa der „Tatort“, und keine Serie, wie etwa die „Lindenstraße“. Der Unterschied liegt in der narrativen Struktur: Eine Serie erzählt eine mehr oder weniger lineare Geschichte mit einem Anfang und einem Ende, eine Reihe umkreist ein Thema, einen Stoff oder sonstwas und ist ansonsten frei. Ihre Einzelbestandteile sind eben keine Ab-Folgen, sondern in sich geschlossene Entitäten. Lustigerweise fiel mir aber beim Anhören nach Abschluss der Arbeit an «2011» dann ausgerechnet eine Fernsehserie ein: „Star Trek“ bzw. „Raumschiff Enterprise“, wie es in meiner Kindheit in schwarzweiß aus dem Televisor suppte. Ich koppelte diese Wahrnehmung mit der existenzialistischen Einsicht, dass man sich zur fröhlichen Bejahung der Kontingenz durchringen sollte, wenn man ihr schon nicht entkommen zu können scheint. Und so habe ich die Komposition schließlich «2011 (Star Trek)» für Orchester genannt, obwohl ich mir in keinster Weise vorgenommen hatte, eine musikalische Hommage an diese Fernsehserie zu komponieren.

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Zum ePlayer

Abb. 3 Im Herzen einer Sample-Bibliothek: Hinter „EH staccato“ in der rechten Bildhälfte steht bsp.weise die Aufnahme aller möglichen Töne, die ein Englischhorn hervorbringen kann, staccato in diversen Lautstärken eingespielt von einem echten Englischhornisten. Links die zugehörige Matrix (1A, 2A,…), mit der sich diese Samplesammlungen (im Programm „patch“ genannt) nach Wunsch zu Artikulationen choreographieren lassen, auf die dann in Echtzeit bsp.weise via MIDI zugegriffen werden kann. Für etwas bessere Auflösung bitte auf das Bild klicken.

Sieht man etwas nach einem Hiatus von 8 Jahren erstmals wieder an, fallen einem sofort Dinge auf, die man schon längst hätte verbessern können, wenn man sie weiland nur bemerkt hätte. So habe ich denn während des Kompositionsprozesses sämtliche verwendeten Artikulations-Matrizen (Erklärung siehe Text zu Abb. 3) nach meinen Bedürfnissen neu strukturiert. Das größte Problem bleiben die Streicher in ihrer allzu penetranten Ordentlichkeit, die Simulation der sonstigen Orchesterinstrumente hat mich in ihrem Naturalismus schon immer überzeugt und überzeugt mich auch weiter.
Im Prinzip ist «2011», wie alle meine Orchesterstücke, auch von einem konventionellen Sinfonieorchester spielbar, zumindest nach meinem, in diesem Bereich zugegeben nicht sonderlich hohen, Wissensstand. Aber darüberhinaus komme ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass meine Musik vermutlich einfach präziser, moderner und klarer klingt, wenn sie mithilfe eines wie auch immer gearteten ePlayers statt von einem herkömmlichen Klangkörper zum Klingen gebracht wird. Außerdem, ein unschlagbarer Vorteil, bin ich dann mein eigener Interpret und brauche mir keine weiteren grauen Haare wegen eventueller mieser Aufführungen wachsen zu lassen, die die Komposition schlechter aussehen lassen, als sie ist.2 Allerdings um den hohen Preis des Nichtstattfindens von „normalen“ Aufführungen.
Die Frage, ob ePlayer-Simulationen klanglich an „echte“ Einspielungen heranreichen, wird für mich immer unwichtiger, je länger ich so arbeite. Und eigentlich habe ich diesen ganzen Problemkomplex schon in meinem Essay Von der Tomate zur Tütensuppe. Evolution der ‚Neuen Musik‘ aus dem Jahr des Herrn 2012 abgearbeitet. Kurz gesagt: Der Vergleich von ePlayer-Einspielungen mit konventionellen Einspielungen ist sinnlos, da erstere ohnehin ganz allmählich ästhetisch, wenn auch nicht unbedingt klanglich, von letzteren wegdriften werden. Es ist ein bisschen wie mit Fotografie und Malerei: Die frühe Fotografie suchte die Malerei zu imitieren und wurde zurecht als defizitär verlacht. Dann besann sie sich auf das, was Malerei nicht kann. Der Rest ist Geschichte. Und – ganz wichtig – die Fotografie hat die Malerei nicht verdrängt, wie anfangs (von Malern) befürchtet.

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Kompositionstechnisches

Abb. 4 Ein Cubase-Screenshot vom 21. November, kurz vor Fertigstellung des Stücks. Für Ansicht in Originalgröße bitte auf das Bild klicken.

Vieles ist weiter Steve Reich und dem Techno geschuldet, die repetitiven grids, die diesmal besonders aufwendig ausgearbeitet sind, das Komponieren ohne Noten im Sequenzer, die Skepsis gegenüber expressivem Musizieren sowie generell die Vorliebe für modulare Architektur. Und meine Art, Melodien zu bauen (hier folge ich wie eh und je meinem unmittelbaren Ausdruckswillen und je älter ich werde, desto dankbarer bin ich dafür, dass ich mir dieses bildungsferne Ausdrucksmittel über die Jahre bewahrt habe), die von Tristano und Skrjabin beeinflusste Terz-Harmonik (die in einem neunstimmigen Akkordturm in der Mitte des Stücks kulminiert), etwas Mikrotonalität (Details in den Credits oben) sowie ganz allgemein der anti-expressionistische Einfluss Saties und Strawinskys erledigen den Rest.
Erstaunt war ich darüber, wie wenig musikalisches Rohmaterial ich diesmal benötigte. Neben den interlocking patterns für die Klaviere und Marimbas waren nur zwei kurze Improvisationen auf dem Desktop-MIDI-Keyboard notwendig, um ausreichend Stoff für 20 Minuten meist doch recht dicht gewebter orchestraler Musik zu erhalten. Hier kommen alle drei musikalischen Keimzellen als Standard MIDI Files3:

Modul 1: Interlocking patterns  SMF
Modul 2: Einstimmige Melodie  SMF
Modul 3: Mehrstimmige Begleitung dieser Melodie  SMF

Der Rest war „Komposition“ im engeren Sinne, also das Zusammenstellen, Permutieren, Herumschieben und Variieren dieser Zellen im MIDI-Sequencer. Diesmal habe ich hierfür meistens Cubase Elements 6 (unter Windows 7) verwendet und die Abstürze, für die ich vermutlich überwiegend nicht das Programm, sondern meine ADHS-geplagte Motorik verantwortlich machen muss, hielten sich erfreulicherweise sehr in Grenzen. Es gab nur einen größeren Arbeitsunfall, weil ich mal wieder eine Datei geschlossen hatte, ohne vorher abzuspeichern. Cubase hat seinen Schrecken – so viele Optionen, so viele Schalter! – verloren, es macht nun das, was ich will, zeigt nur das an, was ich will und macht sich ansonsten so unsichtbar wie möglich. Es gibt jetzt allerdings auch keinen Interface-Bestandteil mehr, der aussieht wie ab Werk.
Allerdings rauchte mitten im Projekt ohne jede Vorwarnung die externe Festplatte ab, auf der seit vielen Jahren die Vienna Symphonic Library und eine weitere käuflich erworbene Sample-Bibliothek gespeichert war. Erst kurz vorher hatte ich erstere aber klugerweise auf die interne Festplatte meines Laptops kopiert. Also Pfade umstellen und weitermachen. Ich würde in solchen Momenten immer ganz gerne Gott danken, wüsste ich denn, dass er existiert, denn der Glaube, dieser „einzig sichere Weg  zum Glück“ (Wittgenstein), ist mir versagt. Also dankte ich behelfsweise, wie ein alter Grieche, dem Schicksal.

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Biografisches

Acht Jahre liegen zwischen der Fertigstellung meiner letzten Orchesterkomposition «2005» und heute. Eine lange Pause, angefüllt mit reichlich Depressionen, am brutalsten musikalisch dargestellt im ePlayer-Ensemble-Stück «Several Rooms of Sadness» aus dem Jahr 2017. Wer sich für diese Komposition interessiert, sei hiermit gewarnt: Sie will in Teilen unerträglich sein und schafft das meiner Meinung nach auch.
Daran wollte ich hier nicht anknüpfen, sondern an die guten Zeiten der Nullerjahre, in denen der erste Schub der «Jahreszahlen» entstanden war. Aber die Errungenschaften von damals hatten den Reiz des Neuen längst verloren und waren schließlich – vor allem während der Arbeit an «2010» – für mich zur Machart verkommen. Was nicht heißt, dass ich «2010» für ein mieses Stück halte, dass man sich nicht anhören sollte, denn sonst hätte ich es eingestampft, statt es zu publizieren. Es war nur so, dass danach für mich etwas zu Ende war. Was völlig normal und, jedeR KünstlerIn weiß das, vollkommen unvermeidlich ist, wenn man sich über viele Jahre einer Sache widmet. Die Hörerin mag davon gar nichts mitbekommen, doch es war Grund genug für mich, die Produktion erst mal einzustellen, denn ich war nicht mehr in der Lage gewesen, mich selber zu überraschen. Die Dinge gingen zu leicht von der Hand, was im Schöpferischen immer hochverdächtig ist.
Mit den an sich dämlichen Vorsätzen, jetzt endlich mal alles richtig zu machen, an alles zu denken, sich diesmal nicht durch ultrahohe Ansprüche an den eigenen Output selbst zu strangulieren und alle Ideen wirklich umzusetzen ist es mir schließlich dann irgendwann irgendwie gelungen, anzufangen. Und es gelang. Darüber hinaus ging es sogar ein Stück weiter. Und das Ding ist fertig und ich finde es schön, nur das zählt am Ende.

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1 d. h. in diesem Fall Violinen, Bratschen, Celli, Kontrabässe, Harfen und Klaviere
2 Der Horror jedeR KomponistIn!
3 Sollte der Browser diese bei Klick auf das Notensymbol nur herunterladen statt abzuspielen (was die Voreinstellung bei Browsern ist), einfach noch mal auf die heruntergeladene Datei klicken, das müsste dann den MIDI-Synthesizer auf eurer internen Soundkarte antriggern.
Wenn du die Weltsicht unterstützen möchtest, erwirb einen Download meiner Musik im WeltsichtWebShop oder sende mir ein Buch von meinem Wunschzettel.

11 Kommentare zu „«Star Trek (2011)» für Orchester, 2018 (ePlayer-Realisierung)

  1. Geschr. Mit phone
    Ich finde deine reflexionen immer gehaltvoll und mit gewinn zu lesen. Die länge hier taugt, ich kann ihr folgen. Ich hätte Nur gerne häufiger philosophie aus deiner hand. So 1 – 2 mal pro woche, es können auch mal nur 5 Sätze sein. Indem du das nicht tust, enthälst du vor. Ich denke eben, dass genau darin neben der musik deine stärke liegt.
    Es muss auch nicht abgefedertes denken sein. Könntest ja random thoughts dazu setzen o ä.
    Schönen Gruß

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  2. Das ist wirklich so: „Das größte Problem bleiben die Streicher in ihrer allzu penetranten Ordentlichkeit“. Bei der VSL hat man das Problem aber wohl gelöst, indem man kleine „Inkorrektheiten“ mit aufgenommen hat oder dazu gemischt hat, so dass es „lebendiger“ klingt. (Ich kann den Text aber nicht mehr online finden). Aber vielleicht könntest Du auch mit einem Filter arbeiten?

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  3. Ui! Gefällt mir sehr gut.
    Ordentlich finde ich die Streicher eigentlich gar nicht. Jedenfalls nicht in einer Weise, die mir negativ auffällt.
    Was Aufführungen angeht, klingt es für mich nach etwas, was in einer Mischform funktionieren müsste: also ein Teil „echtes“ Orchester, und die komplexen Rhythmen der Technik überlassen (glaube, dass da außer Spitzenschlagzeuger*innen sonst niemand so recht damit glücklich wäre).

    Meine Klangassoziation war in den ersten paar Momenten Henze, aber nur ganz entfernt. Im weiteren Verlauf fiel mir Alvin Currans „book of beginnings“ ein, das ich ja in Donaueschingen mal gehört hab – allerdings, wo ich es jetzt gerade auf youtube gesucht habe, stelle ich fest, dass ich nicht wirklich sagen kann, was da eigentlich die Ähnlichkeit genau sein soll. Vielleicht die Art und Weise, wie das Klavier als Teppich hinter dem Orchester liegt.

    Naja, jedenfalls: Ich mag das Stück. Ich glaube, ich sollte es mir die nächsten Tage noch ein paar Mal anhören.

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  4. @JD: Danke, ein Lob aus deinem kritischen und wohlinformierten Mund wiegt doppelt schwer.

    Ich finde den Klang der Orchesterstreicher hier auch relativ in Ordnung, v. a. das Portamento trägt doch sehr zum naturalistischen Eindruck bei.

    Die Marimba/Klavier-Grids dürften tatsächlich vermutlich sauschwer zu spielen sein, ich habe da Reichs Phasenverschiebungskonzept (allerdings ohne graduelle Verschiebungen) ohne Rücksicht auf Verluste (ein ePlayer kennt keinen Schmerz) auf die Spitze zu treiben versucht.

    Mehrere perkussiv eingesetzte Klaviere, die im Hintergrund eines größeren Ensembles loopen, das ist ein Stilmittel aus dem Umfeld der Minimal music, das mich stets faszinierte. Ich bezeichne meine Sachen ja gerne (und ohne alle Ironie) als postminimalistisch, ohne das jemals definiert zu haben, aber der Begriff fühlt sich für mich genau richtig an. Er soll bedeuten, dass ich durch die Erfahrung der Musik vor allem des mittleren Steve Reich (d. h. seiner Werke zwischen „Music for 18 Musicians“ und „Tehillim“), aber auch von Sachen wie „White Man Sleeps“ von Kevin Volans, „Koyaanisqatsi“ von Phil Glass, „Fratres“ von Arvo Pärt, „Attica“ von Frederic Rzewski und der Musik für Peter Greenaway-Filme von Michael Nyman hindurchgegangen bin und anschließend „ins Freie“ wollte. Den Namen Alvin Curran assoziiere ich zwar auch aus dieser Zeit, doch ist mir kein Werktitel mehr erinnerlich. Aber im Prinzip passt Curran schon rein in dieses postminimalstische Dispositiv.

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  5. Zweites Hören:
    – Assoziationen zu Currans „book of beginnings“ (kenne von ihm eh sonst nichts) haben sich entgegen meiner Erwartungen verstärkt. (Ich glaube, es liegt an den vielen Chorälen mit durch die Vierteltönigkeit unsauberen aber prinzipiell tonalen Klängen. Gleich der allererste Klang ist glaub ich einer, der dort auch öfter vorkommt.)
    – Assoziation mit Henze: Okay, das liegt am Harfenpart ganz zu Beginn. Sonst eigentlich nicht.
    – Ich mag besonders den Teil bis (und einschließlich) der vertrackten Rhythmen, gegen Ende stellt sich Müdigkeit ein. Ist wohl auch einfach vom musikalischen Gestus her so.

    Irgendwann will ich auch für e-Player schreiben. Ich habe bislang nie die Geduld gehabt, mich in die Technik einzuarbeiten – und hatte halt auch Spaß mit Midi-Standardklängen, was eine gute Ausrede darstellt, mich davor zu drücken.

    Jundurg

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  6. @JD: Das mit der „Müdigkeit“ stimmt. Die zweite Hälfte des Stücks bringt kein neues Material mehr, sondern permutiert nur noch das vorliegende. Wollte ich so. Erst wird mit großem Aufwand etwas aufgesetzt – und dann läuft der Rest halbautomatisch ab. Berg hoch, Berg runter.

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  7. @Stefan: Es wirkt nach dein Stück. Geheimnisvoll, mysteriös, manchmal fast schon bedrohlich, getrieben und in der Mitte erinnerte mich eine kurze Sequenz an Carl Orff. Bombastisch, gewaltig, ein tiefer, dunkler Schlund.

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