Gefühlslandschaft

(SH) Montserrat 03, 2005

Um das untenstehende längere Zitat angemessen würdigen zu können, sollte man das Folgende wissen:

  • Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer Rezension des 2012 von B. Ecker et al. publizierten psychotherapeutischen Fachbuchs Unlocking the Emotional Brain (im Text als „UtEB“ abgekürzt).
  • Der Rezensent Scott Alexander ist selber Psychiater und Betreiber des ganz ausgezeichneten Blogs Slate Star Codex (siehe Link unter dem Zitat), das ich vor Kurzem entdeckte.

UtEB’s brain is a mountainous landscape, with fertile valleys separated by towering peaks. Some memories (or pieces of your predictive model, or whatever) live in each valley. But they can’t talk to each other. The passes are narrow and treacherous. They go on believing their own thing, unconstrained by conclusions reached elsewhere.

Consciousness is a capital city on a wide plain. When it needs the information stored in a particular valley, it sends messengers over the passes. These messengers are good enough, but they carry letters, not weighty tomes. Their bandwidth is atrocious; often they can only convey what the valley-dwellers think, and not why. And if a valley gets something wrong, lapses into heresy, as often as not the messengers can’t bring the kind of information that might change their mind.

Links between the capital and the valleys may be tenuous, but valley-to-valley trade is almost non-existent. You can have two valleys full of people working on the same problem, for years, and they will basically never talk.

Sometimes, when it’s very important, the king can order a road built. The passes get cleared out, high-bandwidth communication to a particular valley becomes possible. If he does this to two valleys at once, then they may even be able to share notes directly, each passing through the capital to get to each other. But it isn’t the norm. You have to really be trying.

Scott Alexander: Mental Mountains | slatestarcodex.com 2019-11-26

Alexander findet hier ein m. E. brilliantes Bild dafür, wie Erinnerung im menschlichen Gehirn tatsächlich vernetzt ist (nämlich reichlich mies). Seine Metapher löst eine Vielzahl von Problemen 1  mit einem Schlag 2 , ohne Wissenschaft zu sein. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass WissenschaftlerInnen derartige Analogien häufiger einsetzen sollten, um den wissenschaftlichen Fortschritt zu beflügeln.

Warum das nicht geschieht, scheint mir klar zu sein: Die Wissenschaftlerin sieht sich als „Logikmaschine, obwohl sie weiß, dass sie keine Logikmaschine ist“ (Th. Raab). Wer allzu flowery (Alexander über sein Bild etwas später im Text) formuliert, gilt schnell als unseriös.

Auf der anderen Seite hängen KünstlerInnen immer noch viel zu oft dem Ammenmärchen an, die Kunst wäre freier Ausdruck von Fantasie 3 .

Was fehlt, sind Individuen, die sich für den enormen Raum zwischen diesen naiv reduktionistischen Extremen interessieren.


 

1 Z. B. das Phänomen der Pseudoerinnerung, oder die Tatsache, dass Dinge, die wir jahrzehntelang „komplett vergessen haben“, plötzlich taufrisch in unserem Bewusstsein stehen.

 

2 Dafür sind brilliante Metaphern da, vgl. Wittgensteins Bild von der Sprache als Stadt.

 

3 Wobei sie sich in der Regel nicht die Mühe machen, „frei“, „Ausdruck“ oder gar „Fantasie“ zu definieren. Und beschweren sich dann, wenn man ihnen „Geschwätz“ vorwirft.

7 Kommentare zu „Gefühlslandschaft

  1. Nichts gegen Analogien, sie müssen nur wirklich greifen. Nicht wenn man sie hin und her wendet, gleich an Bedeutung und Relevanz verlieren.
    Feynman war aus meiner beschränkten Sicht jemand, der gut Analogien konnte.

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  2. Das ist mir etwas zu heftig.
    Zwar ist sattsam bekannt, daß das Gehirn (evolutionär work in process) im Grunde suboptimal arbeitet , aber diese Analogie ist mir persönlich etwas zu herb. Beispiele bitte zu den Tälern, die nicht miteinander reden.

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  3. @k&g: Alle türkischstämmigen Menschen, die ich als Kind und Jugendlicher kennenlernte, waren ArbeiterInenn bzw. Kinder von ArbeiterInnen. Viele Jahre später erwischte ich mich dabei, dass ich TürkInnen generell als „der Arbeiterklasse zugehörig“ (d. h. u. a. „bildungsfern“) einzuschätzen gewohnt war. Obwohl meine capital city längst aufgeklärt war, lieferten die Boten aus dem unwissenden Tal der Kindheit offenbar ungestört ihre Daten weiter ins Zentrum. Das änderte sich erst mit Figuren wie Fatih Akin, Sibel Kekilli oder Cem Özdemir: Sieh an, DeutschtürkInnen können Regisseur, Schauspielerin und Politiker sein.

    Um in Alexanders Metapher zu bleiben: Es gab sehr lange keine Kommunkation zwischen dem Tal mit der prägenden Kindheitserinnerung „Alle TürkInnen sind ‚einfache Menschen.'“ und dem Tal mit der Direktive „Behandle Menschen nicht nach ihrer Herkunft.“ So war ich denn auch namenlos beschämt, als ich mich zum ersten Mal dabei erwischte, wie ich gegenüber einem türkischstämmigen Menschen meinen Satzbau bewusst vereinfachte, damit er mich auch ja versteht. Denn „eigentlich“ wusste ich ja längst, dass nicht alle TürkInnen aus bildungsfernen Schichten stammen. Aber gleichzeitig wusste ich es offenbar auch nicht, denn sonst hätte ich mich anders verhalten.

    Alexanders Metapher erklärt für mich ein Stück weit, dass das keine exorbitante kognitive Fehlleistung meinerseits war, sondern mit der oft mangelhaften Vernetzung von Erinnerung und Wissen zu tun hat.

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  4. Wären beide Täler gleichwertig und gleichgewichtig, dann hätte die capital city schon viel eher gewonnen.
    M.E. ist diese von Dir genannte Kindheitserfahrung mind. zusätzlich in einer Art „Bewertungszentrum“ hinterlegt und ist so qualitativ anders gespeichert als nur als Erinnerung der Kindheit. Von diesen Qualitäten spricht die Psychologie schon recht lange.

    Manche Überzeugung speziell die der negativen Selbstbewertung ist durch wiederholte positive Erfahrung schwer zu löschen bzw. weigert sich das Gehirn, sich umstimmen zu lassen, also zuzustimmen, daß man ja nun ein anderer geworden ist – und anders dasteht.
    Da helfen auch wie gesagt ein ganzer Waagon an neuen Erfahrungen nicht aus. Der Kern ist unbeeindruckt. So scheint es mir zumindest.

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  5. @k&g: Ich war ja mit meinem Beispiel auch nicht so ganz zufrieden. Andererseits ist hier auch nicht der Platz, darum zu konkurrieren, wer denn nun die höhere kognitionswissenschaftliche Detailkenntnis hat. Also versuche ich, das Ganze noch mal auf den Punkt zu bringen: Alexanders Bild vom menschlichen Gedächtnis als nur grade so zureichend vernetzte und manchmal sogar zerklüftete Gebirgsgegend warf für mich ein neues Schlaglicht auf mein bis ins Erwachsenenalter fortbestehendes unbewusstes Vorurteil, DeutschtürkInnen seien durch die Bank ungebildet. „Unbewusst“ heißt hier, wie ich versucht habe, oben zu beschreiben, die Gleichzeitigkeit einander ausschließender kognitiver Repräsentationen, also in diesem Fall: 1 Alle DeutschtürkInnen sind ungebildet. und 2 Beurteile den Bildungsgrad von Menschen nicht nach ihrer Ethnizität! 1 und 2 gehören unterschiedlichen Kategorien an, 1 ist ein Erfahrungswert, 2 eine abstrakte Handlungsanweisung. Wäre das Gehirn wirklich im landläufigen Sinn „vernetzt“, müsste 2 1 ausradieren bzw. längst ausradiert haben. Das war bei mir aber nicht der Fall, obwohl ich steif und fest behauptet hätte, ich habe keine derartigen Vorurteile, hätte man mich auf mein herablassendes Verhalten angesprochen.

    Das Auseinanderklaffen von abstraktem Wissen und alltäglichem Verhalten (kennt jeder) hat also nicht nur mit (un)günstigen äußerlichen Verhältnissen zu tun, sondern auch mit der internen Struktur unserer Kognitionen selbst.

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  6. Konkurrieren möchte ich schon ein klein wenig, ist so meine Natur, haha.

    Daß ein Vorurteil noch länger als gedacht „innen“ wirkt, wirken kann, kann viele Ursachen haben. Vorurteile schaffen ja auch Gewinne, die gibt man nicht so leicht ab.
    Daß unser Gehirn supoptimal arbeitet, ist bekannt. (Ich kenne ein Buch darüber, was in meiner Bibliothek steht.)
    Ob der Effekt unterschiedlichen Verständnisses der Welt durch isolierte Täler zustandekommt oder auch ganz einfach dadurch, daß erworbenes Wissen nur immer partiell und unzureichend revidiert wird und dann auch noch durch Codeverschaltung, die ihresgleichen sucht (man würde gerne wissen, wie neuronal ein gewisser Geistesinhalt codiert/repräsentiert wird, in welcher Sprache, in welcher Struktur), ist vielleicht nachrangig.
    Das alles ist ungeheuer merkwürdig und wird womöglich immer unverstanden bleiben.

    In der Zwischenzeit pflegen wir alle unsere Meinungen und Ansichten, die bei näherer Betrachtung manchmal so garnicht zusammenpassen.

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