Angeblich gehen alle im Drum and Bass verwendeten Beats auf ein einziges Schlagzeugfragment aus dem Song „Amen, Brother“ der Band The Winstons zurück (Amen break). Und für mich aural erkennbare Derivate des Amen breaks tauchen tatsächlich zuhauf im Track-Korpus des Drum and Bass auf, allerdings auch Beats, die sich in meinen Ohren nur schwerlich oder gar nicht aus diesen Fragment erwirtschaften lassen. Ein sieben Sekunden langer Audioschnipsel aus einem US-amerikanischen Pop-Song der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts fungiert also als Ur- bzw. Erz-Mem eines immerhin einige Dutzend AkteurInnen, viele Hundert Tracks und vermutlich viele Tausend Fans umfassenden Musik-Genres. Wenn das keine digitalisierte Variante einer Genesis ist!
Es spielt für diesen Text keine Rolle, wer diesen Mythos in die Welt gesetzt hat. Sein Wahrheitsgehalt lässt sich vermutlich ähnlich stichhaltig überprüfen bzw. widerlegen wie der der biblischen Genesis. Bemerkenswert und neuartig daran erscheint mir vielmehr die Tatsache, dass sich hier ein sich in den Neunzigerjahren des verg. Jahrhunderts als „neu“ verstehendes musikalisches Genre nicht auf charismatische PerformerInnen, zumindest aber „heilige“ Songs gründen will, sondern auf einen technisch hergestellten Audioschnipsel, also ein Mem im engeren Sinn, wie das R. Dawkins in den 1970er-Jahren mal formuliert hat (A meme is a self-replicating unit with potential significance in explaining human behavior and cultural evolution. [Definition nach Wikipedia]).
In diesem präzisen Sinn ist Drum and Bass dann wohl ein memetic tribe im Sinn von Peter Limberg. Zugegeben, zu einer kompletten „Weltsicht“ gehört ein bisschen mehr als ein dezidierter Musikgeschmack, aber, wenn ich Limberg richtig verstehe, müssen die sinnstiftenden Elemente eines memetic tribes ja durchaus nicht exklusiver Natur sein, wie das für traditionelle Weltsichten wie Katholizismus, Sozialdemokratismus, Agnostizismus, Islam, Kommunismus, ja selbst Veganismus noch obligatorisch war. So wird es ohne Probleme möglich, Mitglied mehrerer tribes zu sein, die dann eben diverse lebensweltliche Sinnbedarfe des Individuums abdecken, ohne im engeren Sinn zu konkurrieren. Es ist aber nicht möglich, gleichzeitig Katholikin und Muslima zu sein.
Ein Platten-Aufkleber mit respektvoller Grußadresse (SHOUTS TO…) an relevante Stammesälteste.
Drum and Bass-Tracks, in deren musikalischem Zentrum das Amen break-Mem wie eine Spinne im Netz sitzt, sind bewusst so gestaltet, dass man dazu nicht ohne Weiteres tanzen kann. Die bpm-Zahl der Drumloops ist meistens viel zu hoch für ein einigermaßen menschenwürdiges Bewegungsmanagement und/oder durch eine Vielzahl nicht-repetitiver Neben-/Sub-/Kontra-Beats angereichert (was an die Spielpraxis von Jazz-Schlagzeugern erinnert), die die „Eingängigkeit“ des Ganzen torpedieren.
Obwohl der Amen break ein Popmusik-Artefakt reinsten Wassers ist, handelt es sich beim Drum and Bass m. E. weder um eine Pop-, noch um eine Anti-Popkultur. Die guerillamäßige Kommunikationspraxis der Drum and Bass-PerformerInnen – Details hierzu im betreffenden Kapitel – scheint diese These zu belegen: Sie wollen ganz offenbar weder die vulgärhedonistisch gesinnten Masssen aggressiv bespaßen noch den aufgeklärten HedonistInnen auf „avantgardistische“ Art und Weise zum richtigen Bewusstsein verhelfen, sondern lediglich einige wenige, geneigte HörerInnen durch eine sehr spezifische Art von Musik / Audio in temporäre Trance versetzen. Ich interpretiere das als eine digitalisierte Variante von Schamanismus.