Erst im Spannungsfeld von intellektuellem Konzept und ästhetischer Erfahrung finden jene Sinnsynthesen statt, die einen ästhetischen Gehalt generieren.
(H. Lehmann, „Die digitale Revolution der Musik“, S. 115)
Lehmann schwebt dabei keinesfalls die Ersetzung von Materialarbeit durch Konzeptkunst vor, ihm geht es eher darum, auch die KomponistInnen „Neuer Musik“ daran zu erinnern, dass Kunst im 21. Jahrhundert generell nur eine konzeptuelle, d. h. ihre eigenen Entstehungsbedingungen stets mitdenkende, sein kann.
Neue Musik hingegen, die im Geiste der Klassischen Moderne geschrieben wird und sich durch eine Abgrenzung zur Ästhetik der Klassik, über erweiterte Spieltechniken und über nicht-klassische Kompositionstechniken definiert, fällt hinter diesen Kunstanspruch von Musik zurück.
(H. Lehmann, a. a. O., S. 113)
Aber ist bei der „Neuen Musik“ die Reflexion nicht per definitionem vorinstalliert? Ohne Reflexion der gesamten europäischen Musikgeschichte hätte „Neue Musik“ doch gar nicht erst entstehen können, oder? Und wo gibt es denn bitteschön einen intimeren Bezug zur Philosophie, zur („Hoch-„)Literatur, zur Dichtung etc. als in der „Neuen Musik“? Zu diesen möglichen Einwänden liest man bei Lehmann lapidar:
Auch die Vertonung von Literatur und Dichtung führt in den Stücken der Neuen Musik zumeist nur zu einer poetischen Verdopplung der ästhetischen Unbestimmtheit und hat mit einer konzeptionellen Rahmensetzung nicht viel zu tun. In der Regel wird hier auf einen bildungsbürgerlichen Selbstverständlichkeitskontext rekurriert – sei es nun Homer oder Shakespeare, Hölderlin oder Beckett, – obwohl dieser längst nicht mehr selbstverständlich ist. Vor allem aber ist die Gegenwärtigkeit solcher Literatur ein Problem, das sich nicht einfach durch ein Verweben dieser Texte mit dem Klangteppich der Neuen Musik beheben lässt.
(H. Lehmann, a. a. O., S. 122)
Ein elektroakustischer HölderlinBeckettShakespeareHomer (HBSH) ist eben deswegen noch lange kein Houellebecq, so to speak (womit ich nichts, aber auch gar nichts über die „Aktualität“ HBSHs gesagt haben will). Natürlich kann man HBSH auch im Jahr 2012 „vertonen“, das würde aber, so Lehmann, nur Sinn machen, wenn im Werk mitkommuniziert würde, warum die Wahl gerade auf diese und keine anderen Autoren gefallen ist. Texte von HBSH nur deshalb zu vertonen, weil diese in der Neue-Musik-Szene bereits etabliert sind bzw. die Komponistin sich sicher sein kann, damit auf keine Widerstände zu stoßen, wäre, mit Lehmann gesprochen, ein „naivmodernes“ Unterfangen, das nicht mehr für sich in Anspruch nehmen könnte, Kunst zu sein, sondern bestenfalls Kunsthandwerk bzw. sound design.
Gegen musikalisches Kunsthandwerk ist nun wiederum rein gar nichts einzuwenden, doch würde es der Kunst schlecht bekommen, reduzierte man sie aufs Handwerkliche … was ein Gemeinplatz ist, ich weiß. Doch für wen es zwischen „gut gemacht“ und „gut“ keinen Unterschied mehr gibt (diese Ansicht hört man erschreckend oft, und nicht nur von Banausen!), der hat das wohl vergessen. Also noch mal zum Mitschreiben: „Das war gut gemacht!“ ist keine Aussage über den (ästhetischen) Gehalt von Kunst, „Das war gut!“ aber sehr wohl.
Nebenbemerkung: Wer eigentlich „Das hat mir gut gefallen!“ sagen wollte, aber stattdessen „Ok, das war schon verdammt gut gemacht!“ sagt, stellt sich selbst ein Armutszeugnis aus, indem er ein persönliches Geschmacksurteil vermeidet, um sich nicht angreifbar zu machen. Diese Strategie ist besonders bei Begeisterung für „politisch inkorrekte“ Artefakte, etwa die Filme Leni Riefenstahls oder die Schriften Ernst Jüngers, beliebt. Jemand, der Riefenstahls „Olympia“-Film „gut gemacht“ findet, ist mir allerdings noch unerträglicher als jemand, der ihn einfach „gut“ findet. Mit Letzterem lässt es sich wenigstens streiten.