07 Kim-Cohen

MyrinxCochlea

An anderer Stelle bin ich hier ja schon mal auf Seth Kim-Cohens 2009 erschienenes Buch „In the Blink of an Ear: Toward a Non-Cochlear Sonic Art“ eingegangen. Ein direkter Vergleich mit Harry Lehmanns drei Jahre später publizierter Musikphilosophie bietet sich an:

Am Frappierendsten erschien mir zunächst das Auftauchen eines – oberflächlich gesehen – recht ähnlichen Begriffs bei beiden Autoren zu sein, der bei Lehmann Nicht-Myrinxale Musik (NMM) heißt, bei Kim-Cohen Non-Cochlear Sonic Art (NCSA). Nach allem, was mir bekannt ist, haben die Autoren diese Begriffe unabhängig voneinander entwickelt, beziehen sich jedoch gleichermaßen auf Marcel Duchamps Rede von der „nicht-retinalen Kunst„, die visuelle (d. h. durch die Retina übertragene) durch intellektuelle Stimulation ersetzen möchte.

Um Duchamps Metapher von der Bildenden Kunst auf die Kunstmusik übertragen zu können, ersetzt Lehmann die Netzhaut durch das Trommelfell (Myrinx). Kim-Cohen bevorzugt die Hörschnecke (Cochlea). Anatomen mögen streiten, welches der beiden Substitute physiologisch korrekter ist  (zum Hören brauchen wir natürlich Trommelfell und Hörschnecke) – mich interessiert hier sowieso nur, welche Art von Musik bzw.  Klangkunst die Autoren mit diesen etwas monströsen Begriffen eigentlich bezeichnen wollen.

Zunächst fällt auf, dass das Begriffspaar einen ganz unterschiedlichen Stellenwert in den jeweiligen Theorien hat: Während Kim-Cohen sein gesamtes Buch dem (seiner Meinung nach alternativlosen) Heraufdämmern der NCSA widmet, erscheint die NMM bei Lehmann nur einmal – als Charakterisierung von „Konzeptmusik“.

Wenn es um die basale konzeptuelle Verfasstheit von Kunstmusik im 21. Jahrhundert geht, sind beide Autoren einer Meinung.  Sie sind Relationalisten und Anti-Essentialisten und lehnen ein „absolutes“ bzw. „immanentistisches“ Verständnis von Musik als old-school-mäßig ab. Kim-Cohens Beleg für diesen Anachronismus ist Pierre Schaeffers musique concrète, bei Lehmann muss Helmut Lachenmanns musique concrète instrumentale herhalten – wieder diese frappierend ähnliche Begrifflichkeit! Auch identifizieren beide John Cages Komposition «4’33″» als ästhetischen Nullpunkt, durch den die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts gehen musste, um schließlich – konzeptualisiert – wiederaufzuerstehen.

Uneins sind sich Lehmann und Kim-Cohen allerdings darüber, welche Kunstmusik denn nun den Anforderungen des conceptual turns (Kim-Cohen) bzw. der „gehaltsästhetischen Wende“ (Lehmann) eigentlich gerecht wird. Beide Autoren präsentieren hier – verdächtigerweise – Arbeiten von Künstlern aus ihrem unmittelbaren Umfeld als Belege für die Richtigkeit ihrer theoretischen Einsichten. Bei Kim-Cohen ist das bsp.weise Jarrod Fowler, bei Lehmann – wer hätt’s gedacht? – Johannes Kreidler. Ich werde skeptisch: Soll hier etwa intellektuell anspruchvollste Theorie lediglich dazu dienen, die Karrieren geschätzter Freunde zu befördern?

Schließlich fällt die fast komplette Komplementarität auf, was die musikalischen Untersuchungsbereiche der beiden Autoren betrifft. Kim-Cohen handelt – stets sehr exemplarisch – musique concrète, Popmusik, Performance Art, Klanginstallation und Sound Art ab, während sich Lehmanns stark abstrahierende Analysen auf die europäische Kunstmusik der Nachkriegszeit beschränken. John Cages «4’33″» dümpelt  als Schnittmenge beider Bücher einsam vor sich hin. Lehmann kann aufgrund dieser stärkeren Fokussierung zwar präziser definieren und genauer formulieren als Kim-Cohen, doch bleibt der Gültigkeitsbereich seiner Gedanken doch recht beschränkt (was meiner Meinung nach allerdings einen behebbaren Mangel darstellt und nicht auf ein Defizit in der Theoriebildung selbst hindeutet).  Kim-Cohen dagegen ist zwar durchgehend „näher am Werk“, doch gelingt es ihm nicht einmal in Ansätzen, dieses profunde Detailwissen in eine allgemeine, soziokulturell fundierte Musiktheorie münden zu lassen.

Es käme für beide Autoren, deren Anstrengungen ich gleichermaßen schätze, nun darauf an, ihre werkanalytisch bzw. musikphilosophisch schon mehr als ausreichend unterfütterten Thesen theoretisch zu präzisieren (Kim-Cohen) bzw. auf eine möglichst breite musikalische Materialbasis zu stellen (Lehmann). Der Durchschlagskraft ihrer Gedanken täte das gleichermaßen gut.

Und der derart theoretisch nobilitierten Musik bzw. Klangkunst, sei sie nun „nicht-myrinxal“ oder „non-cochlear“, ganz sicherlich auch!


Gedanken – Inhaltsverzeichnis

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