02 Kritik der (Neo-)Avantgarde

Claus-Steffen Mahnkopf (*1962)Helmut Lachenmann (*1935)

Es wird sich zeigen, dass die Leitidee der Neuen Musik im 20. Jahrhundert eine invertierte Idee der absoluten Musik war, was sich exemplarisch am Werk von Helmut Lachenmann rekonstruieren lässt.

(H. Lehmann, „Die digitale Revolution der Musik“, S. 14)

In Bezug auf die Neo-Avantgarde etwa Mahnkopfs heißt es später:

Es werden keine neuen Möglichkeitsräume erschlossen, sondern erschlossene Möglichkeitsräume benutzt.

(H. Lehmann, a. a. O., S. 87)

Und kurz danach sehr schön und bündig:

Es ist diese ’schlechte Unendlichkeit‘ des musikalisch Möglichen, an der sich die Neue Musik immer noch abarbeitet: Eine Unendlichkeit von Klängen, die sich nicht nur immer schwieriger hören lässt, sondern die mit ihrer Kraft zur Negation auch die gesellschaftliche Legitimationsgrundlage verloren hat. Das Resultat sind Manierismen oder Wahrnehmungsexperimente für Spezialisten.

(H. Lehmann, a. a. O., S. 89)

„Schlechte Unendlichkeit“ ist ein Begriff aus Hegels „Wissenschaft der Logik“ von 1816. Sie unterscheidet sich dadurch von der „affirmativen Unendlichkeit“ (in der das „Unendliche“ und das „Endliche“ friedlich ko-existieren können), dass sie „nur durch ein bloßes Weiterschreiten von Grenze zu Grenze in einem unendlichen Progress zustande kommt und … [ihr] der Rückbezug durch das Jenseits der Grenze fehlt“ (Wikipedia). Bezogen auf die Materialhuberei der Neuen Musik heißt das, dass ein jeweils noch minutiöseres Differenzieren von Klängen („Ausloten“ nennt das der Feuilletonist dann gerne) natürlich immer möglich ist – aber es wird irgendwann tödlich langweilig, weil der Bezug zum „Allgemeinen“ immer mehr verlorengeht. Die Neue Musik wird zur mono-professionellen Expertenkultur. Auch der materialbesessenste (Neo-)Avantgardist mag die Langweiligkeit seines Tuns zwar irgendwann spüren, kennt aber als „Gegenmittel“ dann immer nur eine noch differenziertere Differenzierung von Klängen: Er zweifelt nicht an seinem Konzept, sondern an der Qualität der Durchführung desselben. Im Grunde macht er also weiter wie bisher. Und das, so Hegel (so Lehmann) ist: – schlecht (und entspricht darüber hinaus exakt der fatalen Problemlösungsstrategie „mehr desselben„, wie sie der Psychologe Paul Watzlawick in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ 1983 beschrieb).

Da sich die Alltagsästhetik in Mode, Kosmetik und Design aber weiterhin an den klassischen Schönheitsidealen orientiert und auch die neurobiologischen Forschungen für eine naturalistische Basis der Schönheitserfahrungen spricht, erfüllt Lachenmanns ’negativer Schönheitsbegriff‘ zwar ein auf die autonome Neue-Musik-Szene limitierte Funktion, erscheint aber außerhalb von ihr als pure Sprachwillkür.

(H. Lehmann, a. a. O., S. 103)

Altlinke bzw. durch nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie traumatisierte Neutöner werden hier hundertpro „das zuständige Jaulen kriegen“ (eine Formulierung, die David Foster Wallace gerne gebrauchte). „Hier wird biologistisch argumentiert!“, werden sie sagen. Da ist es ja wohl nicht mehr weit zum „gesunden Volksempfinden“, das schräge Mucke sowieso schon immer als „abartig“ und das Hören derselben im besten Fall als „Masochismus“ empfand!

Blödsinn.

Meines Erachtens will uns der Autor hier lediglich auf das (naturwissenschaftlich belegbare!) „ungebildete“ menschliche Schönheitsempfinden hinweisen, dessen sich auch jede künstlerische Ästhetik bewusst sein muss. Gerade, indem Lachenmann dieses Empfinden negierte und in seinem Schaffen ästhetisch „invertierte“, bestätigte er, vermutlich unabsichtlich, dessen Validität. Und das, so Lehmann, ist angesichts der polykontexturalen Komplexität des 21. Jahrhunderts als künstlerische Strategie einfach zu dürftig (bzw., wie das Lehmann ausdrückt, „anachronistisch“):

Es widerspricht also der gesamten Ausdifferenzierungsdynamik des ästhetischen Erfahrungsraums, wie sie von der Moderne ausgelöst wurde, wenn Lachenmann die kulturell präformierten Wahrnehmungskategorien an einem einzigen ästhetischen Wert [nämlich dem der (invertierten) Schönheit, S. H.] misst.

(H. Lehmann, a. a. O., S. 104)


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