03 Kritik der Postmoderne

Klarenz Barlow (*1945)Wolfgang Rihm (*1952)

Die Aufwertung des ästhetischen Moments in der Postmoderne ist an sich noch keine Verfallserscheinung und kein Krisensymptom, sondern war ein Aufklärungsfortschritt über die Leitbilder und Tabus der historischen Avantgarde, die den Neuheitsanspruch der Neuen Musik nicht mehr einlösen konnte. Dennoch trägt dieser historische Prozess, der seit gut zwei Jahrzehnten [also seit den 1990er Jahren, S. H.] zu beobachten ist, den Keim der Kunstfeindlichkeit in sich.

(H. Lehmann, „Die digitale Revolution der Musik“, S. 91)

Hm, das trifft allerdings nur für den Teil der postmodernen Bewegung zu, der mit dem Neo-Konservatismus liebäugelt (Wolfgang Rihm beispielsweise), nicht aber für postmoderne Komponisten, die die Differenz „differentiell“ denken (Walter Zimmermann, Klarenz Barlow). Die Minimalisten bzw. die Postminimalisten bleiben, wie immer bei Lehmann, außen vor. Aber auch dort gibt es ja ein Schisma zwischen den Neukonservativen Adams, Glass und Nyman und den „Traditionsminimalisten“ Reich, Riley und Young.

Dass ein Kunstwerk ikonografisch ist, sagt nichts über seinen künstlerischen Wert aus, sondern charakterisiert einzig und allein seine Anschlussfähigkeit in der Öffentlichkeit.

(H. Lehmann, a. a. O., S. 128)

Michael Nymans Musik zu Jane Campions Film „The Piano“ von 1993 ist, in diesem Sinne, zweifellos „ikonografisch“, Olivier Tousssaints „Ballade pour Adeline“ von 1976, die durch die Interpretation des Pianisten Richard Clayderman populär wurde, aber auch. Eine intellektuell konsequente Postmoderne müsste eigentlich beiden Kompositionen den gleichen kulturellen Wert zuschreiben. Wenn sie dies nicht tut und etwa behauptet: „Eine gefällige Melodie in C-Dur ist künstlerisch wertvoll, wenn sie von Nyman komponiert wurde, aber künstlerisch wertlos, wenn sie von Olivier Toussaint komponiert wurde.“, widerspricht sie sich selbst, da sie ja gerade mit dem Anspruch angetreten war, „die Gräben zwischen U und E zu überbrücken“ (eine Scheiß-Formulierung, aber sie gehört nun mal zur, äh: – Ikonographie der Postmoderne-Theorie).

Obwohl man an die überlieferten Wertgesichtspunkte der Kunstgeschichte nicht mehr glaubt, so kennt man sich doch mit ihnen aus und verwendet sie distanziert professionell. […] Mit der Zeit werden alle maßgeblichen kunstspezifischen Kriterien, die für die anspielungsreichen Verweisungsrhizome der Postmoderne konstitutiv sind, im kulturellen Gedächtnis verblassen. Entsprechend kann sich dann auch kein Expertenwissen mehr regenerieren, das einer Doppelcodierung folgt.

(H. Lehmann, a. a. O., S. 131)

Eine künstlerisch anspruchsvolle musikalische Postmoderne funktioniert nur bei ausreichend hohem Bildungsstand aller Beteiligten, einschließlich der Hörer. Ist dieser nicht vorhanden, wird die ganze Unternehmung witzlos, weil Hörer mit verblasstem kulturellem Gedächtnis ja gar nicht mehr so recht in der Lage sind, die ironischen und voraussetzungsreichen Werke der Postmoderne von liebloser kulturindustrieller Alltagsproduktion zu unterscheiden. In diesem Sinn ist die Rihm’sche Variante der Postmoderne tatsächlich in the long run „kunstfeindlich“, da sie bestenfalls auf musikgeschichtliches Halbwissen des Hörers rekurriert, damit die eigene Differenzialität bzw. Kontingenz verbirgt und so (ob beabsichtigt oder nicht, sei dahingestellt) letzten Endes den Geniebegriff des 18. und 19. Jahrhunderts zu restaurieren sucht.

Nach allem, was mir, speziell in Bezug auf Rihms Ruhm, zu Ohren kommt, funktioniert das auch im 21. Jahrhundert fatal gut. Wenn in den vergangenen Jahren an irgendetwas kein Mangel herrschte, dann an „Kunstfreunden“, die lieber möglichst blind anbeten (à la „ertrinken, versinken, unbewusst – höchste Lust!“) als verstehend genießen wollen.

Es steht natürlich jedem weiterhin offen, die musikalische Kreativität mit anderen Worten zu beschreiben und sie zum Beispiel auf außergewöhnliche «Intuition» oder das «Genie» eines Komponisten zurückzuführen, doch solche Beschreibungen verlieren ihre soziale Anschlussfähigkeit, sobald sich alternative, naturwissenschaftlich basierte Erklärungsmuster anbieten.

(H. Lehmann, a. a. O., S. 131)

Es würde der Neuen Musik als Kunstform (und dem generellen gesellschaftlichen Verständnis von Kunst sowieso!) gut tun, wenn Lehmanns oben stehendes Diktum mal so langsam gesellschaftlicher common sense würde. Es sieht nur leider (immer noch) nicht danach aus. Im Alltag, in Gesprächen mit „normalen“, d. h. nicht-fachidiotisierten Menschen nach einem gemeinsamen Konzertbesuch, begegne ich diesem Problem ständig. Es kleidet sich für gewöhnlich etwa in folgende Worte: „Ach, das war jetzt so schön, das möchte ich jetzt bitte nicht analysiert haben!“ Wenn ich dann erwidere, dass ästhetisches Empfinden und Verstehen sich für mich nicht gegenseitig ausschließen, sondern bereichern, ernte ich regelmäßig diese ganz bestimmten Blicke zwischen Beleidigtsein und: – Mitleid. Mir wohlgesonnene Menschen sagen dann immer ganz versonnen: „Jaja, du bist halt ein Kopfmensch.“, die anderen zischen hinter meinem Rücken Sätze wie: „Warum muss dieser Pseudo-Intellektuelle nur immer alles kaputtmachen?„. – Aber vermutlich bewege ich mich nur in den falschen Kreisen 😉

Die nicht-restaurativen Postmodernisten der NM haben sich angesichts dieser Malaise längst ins innere (Zimmermann) oder äußere (Barlow) Exil verzogen. Sie wurden von der NM-Community weggemobbt, weil ihre Werke „inkommensurabel“ erschienen. Oder, im Lehmannsprech: Was vom Dispositiv nicht mehr als anschlussfähig empfunden wird, wird exkludiert.


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