06 Notation

Mit der Erfindung der Liniennotation wurde zunächst die Tonhöhe verschriftlicht, was einen erheblichen Kontrollverlust der Mönchsgemeinschaft nach sich zog und entsprechend ihren Widerstand hervorgerufen hat.

(H. Lehmann, “Die digitale Revolution der Musik”, S. 42)

Mit der Standardisierung der digitalen Schnittstelle für Musikinstrumente MIDI am 1. August 1983 wurde die Partitur digitalisiert, was einen erheblichen Kontrollverlust der Institutionen der Neuen Musik nach sich zog und entsprechend ihren Widerstand hervorgerufen hat.

In einer digitalen Musikkultur findet der Kompositionsprozess nicht länger im Medium von Noten, sondern im Medium von Samples statt – was auch eine neue Aufführungspraxis nach sich zieht.

(H. Lehmann, “Die digitale Revolution der Musik”, S. 43)

Mithilfe des MIDI-Protokolls als technologischer Basis von Sequenzern (z. b. Sonar, Ableton Live, Logic, Reason, Cubase, Magix Music Maker) kann ich Samples im Wortsinne „komponieren“, d. h. zusammenstellen. Der Sequenzer visualisiert diesen Prozess im Piano Roll Editor, dem digitalen Äquivalent von Conlon Nancarrows Papierrollen für das Player Piano. In diesem Sinn stellen diese das missing link zwischen der Partitur und dem Piano Roll Editor dar.

Der „Urtext“ einer Komposition von zum Beispiel Schönberg besteht aus handschriftlichen Zeichen auf Papier. Der „Urtext“ von Nancarrows Kompositionen besteht aus Löchern, die vom Komponisten in einen Papierstreifen gestanzt wurden. Der „Urtext“ meiner PianoLogs (bsp.weise) besteht aus einer MIDI-Datei (künftig: Standard MIDI File / SMF). – Zur Erläuterung des PianoLog-Konzepts zitiere ich mich hier ausnahmsweise mal selbst: „PianoLogs are pieces of piano music that were created on a specific day. The basic material is improvised. The resulting MIDI data is recorded on a sequencer, where I do some post-production work (mainly cutting out redundancies and trying to ’sharpen the image‘).“ Das komplette Konzept der PianoLogs steht hier.

Ein SMF hat deshalb vergleichbar universelle Eigenschaften wie ein Stück Papier, weil es einem Industriestandard folgt, sich also auf allen nach 1982 hergestellten digitalen Lesegeräten abspielen lässt – also auch bsp.weise einem Smartphone oder Tablet PC. Es stellt somit, wie Schönbergs Papierpartitur und Nancarrows Lochstreifen, ein vollständiges Aufschreibesystem im Sinne Friedrich Kittlers dar – allerdings zunächst „nur“ für das Klavier.

Der durch Harry Lehmann erstmals theoretisch beschriebene ePlayer erweitert dieses Aufschreibesystem auf alle „alten Instrumente“, also bsp.weise die Violine, die Posaune, die Kesselpauke etc. („neue“ Instrumente, also bsp.weise das Theremin oder der Synthesizer, sind sowieso „von Haus aus“ midifizierbar bzw. ab Werk midifiziert). Durch die Implementation von KI-Funktionen beim Sample-Manangement besonders „klavierferner“ Instrumente wie etwa klassischen Streichinstrumenten kann ein SMF nun zunehmend jegliche Komposition mit „alten Instrumenten“ zureichend aufzeichnen, aber auch gleichzeitig – und das ist der „skandalöse“ Punkt – beliebig oft exakt wie vom Komponisten intendiert zu Gehör bringen. Die Funktion des reproduzierenden Musikers entfällt hier – wie auch schon bei Nancarrows „Studies for Player Piano“.

Das ruft derzeit ganze Schauer von Panik-Attacken bei konservativen „Musikfreunden“ hervor. Dahinter steht nach meiner Analyse immer dieselbe Befürchtung: Oh Schreck, der musikalische Interpret soll durch den algorithmischen Interpreter ersetzt werden!

Außerhalb der hier beschriebenen recht spezifischen Thematik reiten Autoren wie Frank Schirrmacher ja derzeit erfolgreich auf einer allgemeinen Welle der „Algorithmenangst“ herum. So sei, vereinfacht gesagt, die Algorithmisierung von Börsenabläufen „Schuld“ an der aktuellen Wirtschaftskrise. Michael Seemann hat in seinem Blog ctrl+verlust zu derlei Wirrheiten das Notwendige gesagt. Ich kann das nicht beweisen, aber „anti-algorithmische“ Verschwörungstheorien mögen sich sicherlich auch in den Köpfen vieler konservativer Musikfreunde erfolgreich eingenistet haben.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass selbst überzeugendste ePlayer-Realisierungen klassischer Orchesterstücke von Fachleuten weiterhin als „dünn und der Energie lebender Menschen beraubt“ empfunden werden, so Jan Reichow am 15.04.2013 in einem E-Mail an mich. Dass aber die ePlayer-Technologie noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen ist, zeigt bsp.weise dieses Interview mit Herbert Tucmandl, dem Gründer und Geschäftsführer der Vienna Symphonic Library.

Ob der Interpreter den Interpreten verdrängen wird – keine Ahnung. Aber, und das habe ich anderswo schon mal ausgeführt, die Fotografie hat schließlich auch nicht die Malerei ersetzt – ja, nicht einmal die Schallplatte wurde durch die CD (sie Ruhe in Frieden) und MP3 zum Verschwinden gebracht. Wahrscheinlicher ist also eine friedliche Koexistenz beider Aufschreibesysteme, begleitet von immer wieder aufflammenden blutigen kleinen Scharmützeln.


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