Ichknast | Version 1.0

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[Stand 2016-06-03T23:55:00]

Vorbemerkung

Dieser Text hat stark resümierenden und bilanzierenden Charakter. Ich versuche mit seiner Hilfe, begriffliche Struktur und eine gewisse Einsicht in mein individuelles und leider auch recht idiosynkratisches neurologisches So-Sein zu gewinnen – ganz im Sinne des Thomas-Bernhard-Diktums „Mit klarem Denken durch den Morast.“

Das ist schwer und anspruchsvoll, aber, soviel ist jetzt schon klar, in jedem Fall ein Gewinn – für mich. Noch schöner wär’s, wenn noch mehr Menschen davon profitieren könnten, auch solche, die mich nicht persönlich kennen.

Die meisten meiner in der Folge geschilderten Idiosynkrasien werden einem eher gewöhnlich und nicht sonderlich besorgniserregend vorkommen: „Was hat er nur? Das kenne ich doch auch, das hatte ich auch mal.“ etc. Der Unterschied liegt hier im Wörtchen „mal“. Ich schildere hier nicht Phasen, Episoden oder Krisen, sondern den Alltag, will sagen, den Normalfall, das tägliche Empfinden und Erleben, mein neurologisches Hintergrundgeräusch sozusagen.

Der Text will so wenig wie möglich mit (dysfunktionalem) Narzissmus oder gar Exhibitionismus zu tun haben, er versteht sich vielmehr als eine Form von Aufklärung. Speziell und vor allem fragwürdig wird diese Aufklärung natürlich dadurch, dass Aufklärer und Aufzuklärendes identisch sind. Dem Streben nach Wahrheit sind hier epistemologische Grenzen gesetzt, die nicht überschritten werden können – dem nach Wahrhaftigkeit allerdings nicht.

Der Text enthält viel psychiatrische Fachterminologie. Warum? Nun, ich versuche dadurch, die intersubjektive Anschlussfähigkeit meiner Introspektion sicherzustellen, was weder eine poetische Privatsprache noch der gängige, allein das subjektive Empfinden verherrlichende und verabsolutierende Psychojargon leisten können. Mein Ideal wäre, mich in einer Fremdsprache ausdrücken zu können, ohne das Deutsche wirklich zu verlassen – was aber unmöglich ist. Die Verwendung von Fachbegriffen bietet einen gewissen Ausweg aus diesem Dilemma. Sie schafft Distanz zum Alltag. Und genau darum geht es hier.

Trotzdem möchte ich von so vielen wie möglich verstanden werden, weswegen ich Wikipedia-Links zu Fachbegriffen eingefügt habe, wo mir dies notwendig erschien. Auch ist deren Verwendung für mich kein Selbstzweck, ich folge hier vielmehr einer Variante von Ockhams Sparsamkeitsprinzip: „Verwende Fachbegriffe nur da, wo ein Sachverhalt nicht anders ausgedrückt werden kann.“

Sollte jemand feststellen, dass ich einen Fachbegriff falsch oder missverständlich verwendet habe, bitte ich um Mitteilung. Vielen Dank im Voraus 🙂

Ichknast

Ich leide unter Zyklothymia, die vermutlich Folge oder Begleiterscheinung einer erst spät (nämlich 2008) erkannten ADH-Störung ist. Es handelt sich dabei um Stimmungsschwankungen, die selbständig, d. h. von äußerlichen Vorkommnissen weitgehend unabhängig, auftreten, ähnlich denen bei einer bipolaren Störung, aber vermutlich nicht so intensiv. Mir sind sie freilich intensiv genug, aber alles, was mir von bipolar Gestörten bekannt ist, deutet darauf hin, dass es da noch ganz andere Dimensionen vor allem im manischen Spektrum gibt, die mir – Gottseidank! – komplett unbekannt sind.

Bei mir wechseln sich depressive mit hypomanen Episoden ab. Es gibt aber auch immer mal wieder ausgeglichene, will sagen, emotional unspektakuläre Tage. Hypoman bedeutet eben nicht manisch, sondern lediglich „von gehobener Stimmung“. Das trifft es ziemlich gut. Ich fühle mich dann leicht euphorisch, glücklich, leicht erregbar, redefreudig, geistig sehr wach, einfallsreich, schöpferisch, leicht etc. – weiß aber gleichzeitig stets um die Unnatürlichkeit dieses Zustandes: „Da stimmt doch was nicht. Was ist nur los?“

Gleichzeitig grüble ich dann permanent darüber nach, was es wohl zu bedeuten hat, dass ich das weiß etc. Diese Verschachtelung von Introspektionen führt mitunter geradewegs in eine Denklähmung. Von dort ist es dann nicht weit zur depressiven Verstimmung: Die Pseudokomplexität iterierter Metakognitionen hat meinen mentalen Arbeitsspeicher gecrasht.

Weitere neurologische Besonderheiten, mit denen ich mal mehr, mal weniger zu tun habe, sind:

  • Hyper-Hidrose: Diese wird mit zunehmendem Lebensalter gefühlt immer ausgeprägter. Ich kann mich nicht erinnern, als Kind oder Jugendlicher so leicht derart geschwitzt zu haben. Für meinen heutigen Zustand gibt es natürlich auch einen nicht-psychiatrischen Grund: Adipositas. Es kann sich auch (zusätzlich) um die Nebenwirkung eines meiner Medikamente handeln.
  • Prokrastination: Es ist nicht nur so, dass ich zu erledigende Aufgaben oft chronisch verschiebe bis auf den Sanktnimmerleinstag, ich muss währenddessen auch permanent und unter starken Schamgefühlen an diese zwanghaften Aufschübe denken, für die ich in der Regel keine echte Begründung, aber unendlich viele kreative Pseudo-Begründungen finde. Auch hier versuche ich immer stärker, in den Wahrhaftigkeitsmodus überzugehen: Keine Ausflüchte, die schlichte Auskunft „Ich habe eine Blockade“ muss genügen – und zwar nicht nur dem anderen, sondern auch mir selbst. Das mag egozentrisch klingen, erscheint mir aber langfristig sozialverträglicher als endloses Herumgedruckse  bzw. Flunkereien.
  • Stottern tritt extrem erratisch auf, will sagen, stark episodisch. Es ist nicht so, dass ich klassische Stotterer, die praktisch auf immer gleichbleibende (äußerst quälende!) Art und Weise stottern, beneide, das nicht, aber bei ihnen weiß man eben gleich, woran man ist. Das Gegenüber kann sich einstellen. Bei mir dagegen gibt es Stunden / Tage / Wochen, in denen ich ganz einfach gar nicht stottere – und dann wieder andere, wo es ganz massiv der Fall ist. Darauf können sowohl ich als auch andere sich nicht einstellen bzw. vorbereiten. Es hat demzufolge stark irritierende (bei anderen) und zermürbende (bei mir) Wirkung. Wieder mal bin ich schwer einzuschätzen. Meine (relativ neue) Wahrhaftigkeitsstrategie besteht nun darin, mich bei bestimmten Gelegenheiten (öffentliche Reden z. B.) sofort als Stotterer einzuführen, auch wenn ich ganz genau weiß, dass ich gerade in einer flüssigen Phase bin. Das Schlimmste, was dann noch passieren kann, ist der berühmte Schulterklopfer nach der überstanden Rede und der Spruch: „Ich weiß gar nicht, was du da immer hast? Du stotterst doch gar nicht! Denk doch einfach mal positiv!“
  • Zwangsstörungen, vor allem in Form sich bohrend aufdrängender repetitiver Gedanken mit unsinnigem, aber stets variablem Inhalt. Oft geht es in ihnen um relativ geringe Kontrollverluste, die unverhältnismäßig große Angst-Attacken auslösen. So war mir einmal eine kleine Geldmünze durch ein Loch im Futter in den Mantelsaum gerutscht, wo ich sie zwar von außen erfühlen, aber nicht ohne weiteres befreien konnte, ohne den Mantel zu beschädigen. Dieses von mir als durchaus banal  bzw. marginal empfundene Missgeschick triggerte über einen längeren Zeitraum ganz gewaltige Wellen von Angst an, die mit massiven Schweißausbrüchen, einem flauen Gefühl in der Magengegend und – vor allem – mit dem demütigenden Gefühl, aus vollkommen nichtigem Anlass den Verstand verloren zu haben, einhergingen. Es handelt sich bei mir also nicht um fixe Ideen wie z. B. „Immer wenn ich ein Kind sehe, bekomme ich Angst, ich könnte ihm etwas antun.“ oder „Sobald ich diesen Teppichrand berühre, wird etwas Schreckliches geschehen“ bzw. „Wenn ich diesen Teppichrand jetzt nicht berühre, wird etwas Schreckliches geschehen.“ etc. Ich habe derartige Menschen im klinischen Kontext kennengelernt: Sie ticken definitiv anders als ich, sind unbeweglich und mental erstarrt in ihrem Monozwang. Ihre unsichtbaren Qualen sind monströs und sie verdienen jede Art von Mitgefühl.
    Zwanghaft zu sein beinhaltet stes eine Art Bewusstseinsspaltung: Einerseits weiß man um den objektiv lächerlichen Anlass des repetitiven Gedankens, andererseits bewirkt dieses Wissen in keinster Weise, dass dieser subjektiv verschwindet oder auch nur leichter zu ertragen ist. Auch diese Problematik hat langfristig ausgesprochen demoralisierende Wirkung, bekommt man doch den Eindruck, keinerlei Macht über die eigenen Gedanken zu haben. Es denkt, es zwängelt (Psycho-Jargon, aber nicht falsch), nicht du bist es. Es ist etwas in dir, in deinem Kopf, das relativ unabhängig von deinem Willen tut und lässt, was es will. Du weißt zwar, dass es sich dabei nur um eine Art neuraler Kurzschlüsse handelt, die an sich harmlos sind und die die meisten Menschen – in abgeschwächter Form – schon das eine oder andere Mal erlebt haben: „Hab‘ ich nun abgeschlossen oder nicht? Ich muss das dringend noch mal schnell kontrollieren!“, dennoch kommst du mit diesem inneren Autopiloten, der dich fast nach Belieben herumkommandieren kann, ganz und gar nicht klar.
    Zwangsgedanken gehören zum mental Kräftezehrendsten, das ich kenne (ohne dass äußerlich irgendetwas vorfallen muss, man kann die ganze Zeit bewegungslos dasitzen und trotzdem im Kopf fast krepieren). Totale geistige Erschöpfung ist die Folge, die sich regelmäßig anschließende depressive Episode dagegen fast schon erholsam (kein Scherz).
    Merkwürdigerweise haben sich meine Zwangsgedanken spürbar gebessert, seit ich Methylphenidat (Ritalin) nehme. Ob das mir schon wesentlich länger u. a. gegen die Zwangsstörung eigentlich verschriebene Fluoxetin diese positiv beeinflusst hat, wage ich dagegen zu bezweifeln. Fakt ist: seit ich Ritalin nehme, hat sich die Zwangssymptomatik auf derart schlagartige Weise verbessert, wie ich es bei Fluoxetin in den vergangenen 20 Jahren niemals erfahren habe.1

Andererseits halten mich die unterschiedlichsten Menschen unabhängig voneinander immer wieder mal für hochbegabt, das wurde aber nie getestet und ich habe auch keine Lust dazu, denn was würde sich dadurch ändern? Zweifellos aber zeigte sich bei mir schon seit der 4. Klasse eine deutliche Beeinträchtigung im arithmetischen Denken (Kopfrechnen), die Begleiterscheinung einer Hochbegabung sein kann – oder aber nur auf eine Lernstörung hinweist.
Wenn ich über Begabungen verfüge, dann liegen sie im sprachlichen und musischen Bereich. Ob es sich dabei um Hochbegabung im strikten Sinn handelt, ist, wie gesagt, zweifelhaft. Abstrakte Probleme und Rätsel haben mich immer ausgesprochen fasziniert, aber nur, wenn sie nichts oder wenig mit Zahlen oder Quantitäten zu tun haben. Deshalb vermutlich mein Faible für Philosophie, die ja meist nichts anderes als eine nicht-quantifzierte Architektur abstrakter Begrifflichkeiten darstellt.

Meine neurologische Disposition ist also einigermaßen verzwickt: einerseits defizitär durch die psychiatrisch offiziell festgestellte ADH-Störung, andererseits priviligiert (?) durch gewisse sprachliche und musische Begabungen. Schön wär’s nun, wenn sich Minus und Plus im Alltag ausglichen. Das ist aber nur selten der Fall. Und je älter ich werde, desto schlechter kann ich kompensieren, desto klarer tritt die Disparität meines So-Seins zutage.

Bis zu meiner Pubertät war ich zwar zappelig und unduldsam gegenüber Gegenständen (ich soll unheimlich viel einfach kaputtgeschlagen haben als Kleinkind, nicht aus Aggressivität, aber aus Ungeduld), habe gestottert und hatte „nervöse Zuckungen“ (Tics), galt aber nicht als verhaltensauffällig. Aber, hej, das waren die 1960er Jahre, heute würde mich Mutti aber sofort zum Ergotherapeuten, Logopäden etc. schicken. Auch hatte ich bis zur vierten Klasse nur gute bis sehr gute Schulnoten, außer in „Schrift“ und „Werken“. Letzteres lag, wie ich heute weiß, daran, dass ich in der ersten Klasse zum Schreiben mit der rechten Hand genötigt wurde, von Haus aus aber Linkshänder bin. So spiele ich bis heute links Tischtennis, Badminton, Minigolf etc., habe das Schreiben mit der rechten Hand aber beibehalten – mit nicht ganz unerheblichen Folgen: Meine Handschrift ist im Lauf der Zeit immer unkontrollierter geworden, so dass ich heute meine – auch gerade deswegen weiter bewusst gepflegten – handschriftlichen Notizen oft selbst nicht entziffern kann. Die Finger meiner rechten Hand machen, während ich schreibe, ständig autonome Bewegungen, ich habe keine Echtzeitkontrolle über das Schriftbild, weswegen ich es eine Zeitlang in einem zweiten Durchgang zwanghaft nachkontrollieren und -korrigieren musste, aus Angst, die chaotischen Fahrer könnten „etwas über mich verraten“. Schon nach kurzer handschriftlicher Tätigkeit verspüre ich regelmäßig deutliche Schmerzen in Fingern, Handgelenk und Unterarm, die sich auch durch sorgsames Ausschütteln und häufige Pausen nicht wirklich beheben lassen. Das beidhändige Tippen auf einer Tastatur dagegen macht Spaß, gelingt mühelos und ich kann sehr schnell sein. Schmerzen treten dann trotz Ausdauerbelastung so gut wie nie auf. Allerdings vertippe ich mich sehr häufig, was den Geschwindigkeitsvorteil wieder zunichte macht.

Im Alltag spüre ich oft eine unsichtbare Barriere zwischen mir und meinen Mitmenschen, da mich viele intuitiv nicht vernünftig einschätzen können. Ihre an neurotypischen Persönlichkeiten geschulte Menschenkenntnis kommt mit meiner Neurodivergenz2 einfach nicht klar. Und zwar ganz und gar nicht, auch und gerade wenn ich gar nichts von ihnen will und mir Mühe gebe, mich konventionell zu verhalten (was nie gelingt). Manche neigen dann aus purer Ungeduld zu Extremurteilen: Zwischen „Genie“ und „Versager“ ist da meistens alles drin, beliebt sind auch „arrogantes Arschloch“ und „Psycho“. Ich bin es demzufolge gewohnt, dass man mir als Person entweder mit vollkommen überzogenen Erwartungen oder aber ebensolchem Misstrauen begegnet, manchmal sogar mit beidem gleichzeitig, womit besonders schwer umzugehen ist. Früher oder später, so meine Erfahrung, fühlt sich der Andere enttäuscht  oder getäuscht von mir und ich werde mal wieder von quälenden Schuldgefühlen geplagt, weil ich versagt habe – ohne allerdings zu wissen, worin eigentlich genau.3

Ich bin mitunter zu guten bis sehr guten Leistungen und regelrechten Höhenflügen fähig, kann dieses Niveau aber nie sehr lange halten, weil z. B. grade mal wieder eine vollkommen anlasslose depressive Verstimmung ihr Recht fordert, ich aus dem Nichts heraus den Faden verliere, ein sinnlos bohrender Zwangsgedanke schweißtreibende Panik-Attacken hervorruft oder mir urplötzlich bei sehr einfachen Dingen Fehler unterlaufen, die anderen in kompletter Ratlosigkeit die Haare zu Berge stehen lassen, hatten sie doch eben noch beobachten können, wie ich weitaus Komplizierteres mühelos bewältigte. Ein solches Verhalten erscheint unlogisch und inkohärent bzw. erratisch oder gar chaotisch und macht Menschen, mit denen ich zu tun habe, nicht selten selber hippelig. Dann – ebenso plötzlich und übergangslos – bin ich wieder ganz da und zu den tollsten Dingen fähig. Bis zum nächsten Einbruch halt.

Ich habe recht früh festgestellt, dass ich hyperfokussieren kann, wenn ich frei auf einem Klavier oder Keyboard improvisiere (den Fachbegriff kenne ich freilich erst seit kurzem). Ähnliches gilt für die Beschäftigung mit bestimmten Arten von Software, vor allem für MIDI-Editoren und Bildbearbeitungsprogramme, merkwürdigerweise auch für den Vorgang der bloßen Installation von Software, der oft ein besonders beglückendes Gefühl kindlicher Selbstvergessenheit verursacht. Auch beim Lesen verfalle ich gelegentlich in diese Trance (denn um nichts anderes handelt es sich beim Hyperfokus). Es fällt mir dann relativ leicht, in ein Flow-Erleben zu geraten, das nicht selten so intensiv ist, dass ich selbst das Trinken (!) darüber vergesse4. Ausgeprägte Erschöpfungszustände inkl. Schuldgefühlen, Heißhungerattacken und Hypersomnie können folgen, wenn dieser Zustand zu lange andauert.

Interessanterweise erstreckt sich mein Hyperfokus nicht auf (Computer-)Spiele. Und nicht nur das: Ich kann nicht einmal behaupten, dass ich sie nicht mag, so wenig interessieren sie mich. Fassungslos und nicht ganz ohne Neid nehme ich immer wieder war, dass ein nicht unerheblicher Teil der Menschheit seine bewusste Existenz hauptsächlich spielend verbringt – und dabei schlicht eine Menge Spaß hat. Dieses ausgesprägte Desinteresse für die Welt des gamings unterscheidet mich ganz gravierend von sog. Nerds, mit denen ich – bei allen sonstigen Gemeinsamkeiten – deshalb oft kein gemeinsames Gesprächsthema finde 😦

Nicht wenige Menschen, vor allem die mit hoher Intelligenz, aber wenig Empathie Gesegneten, können sich auf eine derartige seelische Struktur einfach keinen Reim machen. Sie fühlen sich irritiert und ratlos, vielleicht auch auf unklare Art und Weise überfordert und genervt. Andere glauben, ich würde sie mutwillig auf den Arm nehmen bzw. provozieren und reagieren aggressiv. Ich habe für diese sehr spezifischen Irritationen meiner Mitmenschen, die vom relativ harmlosen Ausgelachtwerden bis hin zu nur schwer erträglichem offenem Ekel gehen können, leider im Lauf der Jahrzehnte eine ausgeprägte Überempfindlichkeit entwickelt bzw. aus Gründen des Selbstschutzes entwickeln müsen. Das ist nicht gut und führt in the long run natürlich zu fehlangepassten (ich liebe dieses behavioristischste aller Adjektive!) paranoiden Denkmustern: „ALLE sind IMMER gegen mich.“

Früher habe ich bei kommunikativen Schieflagen – ich quatsche meine Geprächspartnerin tot oder werde, von innerer Erregung getrieben, rhetorisch fortgeschwemmt – stets instinktiv Gegenmaßnahmen eingeleitet, die vor allem darin bestanden, mich selbst zu ironisieren, um die Anspannung aus der Situation herauszunehmen (im Englischen gibt es dafür den schönen Ausdruck self-deprecating humour), was aber dazu führte, dass mich irgendwann niemand mehr so recht ernst nahm: „Schau nur, da kommt wieder dieser Clown!“ Nein, kein Weg.

Später ging ich dann den Dingen, d. h., den Menschen, einfach nur noch aus dem Weg: (halb-)freiwillige splendid isolation, um das fortgesetzt attackierte Ich zu retten. Nebenwirkung: weitere Entfremdung, die langfristig logischerweise auch zu weiterer Selbst-Entfremdung führt, denn banalerweise hat noch kein Mensch allein in sich selbst die Lösung seiner Probleme gefunden. So geht’s natürlich auch nicht.

Mittlerweile, mit fast 50 Jahren, ist mir nun doch noch was Drittes eingefallen 😉 : Ich versuche, das, was ich über mich selbst gelernt habe, anderen in möglichst verständlicher Art und Weise mitzuteilen, um ihnen den Umgang mit mir zu erleichtern – z. B. mit diesem Text hier.

Ob das funktioniert, weiß ich (noch) nicht. Aber ich probier’s halt, denn ich kann nur gewinnen. Am liebsten hätte ich eine kompakte Gebrauchsanweisung, die ich allen Menschen, mit denen ich zu tun habe, als erstes in die Hand drücken könnte, um die gröbsten Missverständnisse zu vermeiden.
Oder ich häng‘ mir ein Schild um den Hals: „Vor Gebrauch bitte das Folgende lesen: […].“

Stefan Hetzel, 2016-05-26ff.


1 Das hängt natürlich auch mit der ganz unterschiedlichen Wirkweise dieser Medikamente zusammen. Methylphenidat wirkt schnell und direkt, Fluoxetin langsam und indirekt.
2 „Neurodivergenz“ steht hier für ein meist intuitiv wahrgenommenes „Anderssein“ eines Individuums, das sich aber nicht dingfest machen lässt und deswegen oft nachhaltiges Unbehagen bei neurotypischen Individuen verursacht, die sich untereinander aber stets darüber einig werden: „Irgendwie ist er/sie ein Freak, oder?“ Ich verüble dies niemandem, denn es ist vernünftig, vorsichtig zu agieren, wenn man nicht weiß, wen man vor sich hat.
3 Ich versuch’s jetzt trotzdem mal, wenn auch reichlich abstrakt: Der Neurodivergente „versagt“ darin, dem Neurotypischen ausreichend nonverbale Signale zu liefern, die seine Zugehörigkeit zur Gruppen der Neurotypischen sicherstellen würden. Der Neurotypische „spürt“, dass da „etwas“ ist, was er nicht versteht, was „unlogisch“ ist, „nicht zusammenpasst“ etc. Es hängt dann extrem vom soziokulturellen Hintergrund des Neurotypischen ab, wie er diesen Datenmangel kompensiert. Mögliche Reaktionen sind Kommunikationsabbruch und/oder Feindseligkeit, aber auch Formen übereilten „Verständnisses“ bzw. oberflächlicher „Empathie“. Angemessen wäre ein iteriertes „Beobachten statt Verstehen“ im Sinne Luhmanns.
4 „Vergessen“ heißt hier: Ich verspüre zwar Durst und sage mir selbst „Du musst jetzt trinken.“, tue es dann aber nicht. Dieser Mechanismus wiederholt sich in kurzen Abständen recht unverändert.

7 Kommentare zu „Ichknast | Version 1.0

  1. Ich habe das jetzt zweimal gelesen.
    Sicher habe ich nicht alles präzise aufnehmen können, aber auf manches kann ich schon antworten/reflelektieren.
    „weiß aber gleichzeitig stets um die Unnatürlichkeit dieses Zustandes“:
    Wie fühlt sich denn dieses „freudig erregte“ an? Ist es erdig und fest oder wirkt es „geklont“, wie eine aufgetragene Farbe. Wirkt es flüchtig oder zu Dir gehörig?

    „Gleichzeitig grüble ich dann permanent darüber nach, was es wohl zu bedeuten hat, dass ich das weiß etc“
    Das hört sich fast wie eine „Entzündung“ an. Es scheint generiertes Gedankengut zu sein. Anders kann ich es jetzt im Moment nicht benennen.
    Hyper-Hidrose:
    Dies kann auch von Diabetes herrühren. In der Tat würde eine deutliche Gewichtsabnahme diese s Schwitzen beseitigen können. Ich empfehle eine 20-minütigen strammen Walk abends „um den Block“, idealerweise dann, wenn ohnehin mal geistig wenig geht.
    Prokrastination:
    Kenne ich so kaum. Ich erledige meist sofort, was auch zwanghafte Züge hat.
    Stottern ist mir persönlich noch nicht aufgefallen. Wenn da mal was war, habe ich das auf „Schüchternheit“ geschoben. Ich bin manchmal befangen und dann präsentiere ich mich gefühlt „unter Wert“, sage dann entweder Banales oder nicht besonders Bedeutsames und auch Unrichtiges.
    Zwangsstörungen sind mir leider nur zu gut bekannt, weshalb ich mich dazu nicht äussern werde, sonst müsste ich ein großes Fass aufmachen.
    Das mit dem „Hochbegabt“ muß ich relativieren. Du hast m.E. vielmehr einen unersättlichen Hunger nach Wissen und einige starke Begabungen. Allerdings scheint zum „Hochbegabten“ auch immer dazuzugehören, daß er einige Probleme hat…und die hast Du ja.
    „Ihre an neurotypischen Persönlichkeiten geschulte Menschenkenntnis kommt mit meiner Neurodivergenz einfach nicht klar.“
    Ich denke, damit sind tatsächlich die meisten Menschen überfordert. Aus meinem Bekanntenkreis kenne ich auch ein, zwei Leute, die ich „nicht begreife“. Zwar habe ich durchaus genug Kenntnisse über diese Personen, um gewappnet zu sein, aber man tappt dann doch immer wieder in die Falle, sich abzureagieren, wenn die Erwartungen nicht erfüllt sind..
    „dass ich selbst das Trinken (!) darüber vergesse“
    das kann ähnlich in Keramiksessions passieren, die ich mit meiner Partnerin nächtens veranstalte. Oft steht das volle Glas stundenlang rum. Entspricht zwar nicht ganz, denn irgendwann trinke ich dann schon. Also ich strebe nicht die Totalverweigerung an.
    „von innerer Erregung getrieben, rhetorisch fortgeschwemmt “
    Ich neige auch dazu, schnell ausufernd zu werden, spüre dann aber recht schnell, wenn es genug war. Meinen Fauxpas hier aber gestatte ich mir, denn fehlerhaft darf man durchaus sein. Da gibt es eigentlich nichts zu entschuldigen.

    So!
    Ob ich in manchen Entgegnungen hier „Thmeneverfehlung“ beging, weiß ich nicht, aber das kann durchaus sein.
    Ob Dein Psychogramm Früchte trägt, also besseres Verständnis Deiner Person „in einer aktuellen Schieflage“ ermöglicht, ist abzuwarten.

    Unser Leben ist unterschiedlich schwer. Schwer aber ist es eigentlich in jedem Fall. Der Mensch lebt in einem ständigen Spannungsfeld.
    Deine Störungen haben Dir trotzdem erlaubt, viel zu erreichen. Und das ist doch trotz der vielerlei Beschwerden ein echtes Pfund! Ein Pfund, auf das ich stolz wäre.
    Ein gelungenes Leben, meine ich aus meiner Sicht.

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  2. @Gerhard: Ganz lieben Dank für deine ausführlichen Anmerkungen. Ich freue mich sehr, dass da wohl wirklich einiges rübergekommen ist von dem, was ich rüberbringen wollte.

    „Wie fühlt sich denn dieses „freudig Erregte“ an?“ – Wie gesagt, eher künstlich und unmotiviert, übertrieben, aufgesetzt. Also das Gegenteil von erdig. Weder so richtig zu mir gehörig noch wirklich fremd.

    „Generiertes Gedankengut“ – Ja, gar nicht schlecht gesagt. Es sind iterierte Irritationen, die die Tendenz haben, ins Zwangsgrüblerische umzukippen.

    „Dies kann auch von Diabetes herrühren.“ – Hätte ich Diabetes, wäre das sicher bei einer der vielen Blutuntersuchungen, denen ich mich im Verlauf des letzten Jahres unterziehen musste, festgestellt worden.

    „Das mit dem „hochbegabt“ muß ich relativieren.“ – Ja, mache ich ja selber im Text. Ich habe diese Sache nicht erwähnt, um anzugeben, sondern weil ich seit meiner Kindheit zu hören bekomme, wie begabt ich doch sei, angefangen von meiner Großmutter! Fakt ist, dass ich bei einer bestimmten Sorte von Menschen offenbar immer wieder den Eindruck der Begabtheit erwecke. Und dass ich nie gelernt habe, mit dieser Einschätzung angemessen umzugehen. Ich denke, da liegt der Hund begraben … Ich wecke systematisch Erwartungen, denen ich nicht gerecht werden kann, das drückt meinen Selbstwert.

    „… aber man tappt dann doch immer wieder in die Falle, sich abzureagieren, wenn die Erwartungen nicht erfüllt sind.“ – Na dann bin ich ja heilfroh, dass du dich an mir bisher noch nicht abreagieren musstest. Toitoitoi 😉

    Von Themaverfehlung kann keine Rede sein, lieber Gerhard. Ich danke dir nochmals für deine offenen, respektvollen und einfühlsamen Bemerkungen – und nehme sie als weiteres Geburtstagsgeschenk an 🙂

    „Ein gelungenes Leben, meine ich aus meiner Sicht.“ – Wow, das hat mir noch niemand so gesagt, danke 🙂

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  3. Während dem Lesen hab ich auch ständig diesen Drang zu sagen: „Ah, ich auch!“ oder „Hm, okay, ich nicht!“ – ich will mich also hier nicht ausbreiten, sondern einfach nur danke sagen für den interessanten Beitrag. Ich hab in den letzten Jahren festgestellt, dass es schon enorm hilft, zu lesen, wie es anderen Leuten mit ihren jeweiligen Macken geht, und hab mir auch vorgenommen, da selbst Ehrlichkeit zu üben, aber das braucht noch ein bisschen Zeit.

    Ahja, und Gratulation… fürs erfolgreiche Überleben des 50. Lebensjahres. (Ironisches Understatement? Könnte beleidigend wirken? Nu? … )

    Grüßle!

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  4. „ich will mich also hier nicht ausbreiten“
    Aber genau darum sollte es gehen! Damit meine ich natürlich nicht, Stefan „die Schau stehlen“ zu wollen durch die Schilderung eigener Macken, sondern darum, die Macken in ihrem Aufbau und ihrer Gestalt, ihren Bedingungen zu schildern, um so den menschlichen Geist, das Gehirn besser verstehen zu können. Letztlich deutet ja „Ich-Knast“ auch das Phänomen an, daß man in gewisser Weise seinem Neurodschungel ausgeliefert ist. Gut, dieser Wildwuchs ist modulierbar, ist also plastisch, aber diese Plastizität hat auch seine Grenzen.

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  5. „Wie fühlt sich denn dieses „freudig Erregte“ an?“ – Wie gesagt, eher künstlich und unmotiviert, übertrieben, aufgesetzt. Also das Gegenteil von erdig. Weder so richtig zu mir gehörig noch wirklich fremd.
    Von woher kommen denn dann Deiner Meinung her die Gefühle? Fühlt sich das so an, als wäre eine Gehirnregion überaktiv? Für mich hört sich das so an, als würde da „etwas feuern“, so etwa wie überreizte Nerven, die chronisch ständig Schmerz melden.
    Könnte das beruhigend wirken, zu wissen, daß da eine Region überaktiv ist? Man wäre dem ja ausgeliefert fast wie bei Schwitzen oder Körperschmerzen…Funktionen, die halt schlicht nicht rund laufen.

    Diabetes würde ich dennoch nicht ausschliessen. Im September lit ich sehr unter Schwitzen – ein Phänomen, das ich schon länger kannte. Im Dezember die Diagnose „Diabetes“, obwohl ich ja wegen dem Schwitzen schon 2012 vorstellig war.
    Ich habe dann durch bloße Bewegung (ich war mit 30 Bewegungsjunkie) mein Gewicht schnell reduziert und die Blutwerte gingen accordingly hin zum Guten. Jetzt kann ich sogar wieder Pullover tragen, ohne triefend nass zu werden.
    20 min Bewegung am Abend (im Zeitraum 21:00 – 22:00) hatten auch den Vorteil, Stillstand im Aufnehmen und schlicht Müdigkeit bis zum Abwinken entgegenzuwirken. War also eine Win-Win-Situation.

    „Ich wecke systematisch Erwartungen, denen ich nicht gerecht werden kann, das drückt meinen Selbstwert.“
    Ich denke, man muß zulassen können, daß man auch mal recht „blass“ daherkommt, also man sich manchmal über lächerliche Aussagen von einem selbst nachträglich wundern muß. Ich versuche, da gnädiger mit mir zu sein. „So wie der Vater schützend seine Hand über seinen Sohn (in dem Falle das innere Kind) ausbreiten würde! (ein gutes, hilfreiches Bild). Vielleicht sollte man sogar systematisch üben, andere zu enttäuschen, also viel kleiner daher zu kommen als man wirken möchte. Vielleicht wäre das eine angemessene Übung.
    Es gab mal den Ausdruck „Großmannssucht“. Das meinte zwar eher, einen bestimmten gesellschaftl. Status, meist beruflich, erreichen zu wollen. Aber sitzt denn nicht auch dieser Gnom in uns, der unbedingt will, daß wir uns aufblähen, GROSS werden? Das wäre nach Eckhard Tolle eine ungute Instanz in uns, die und letztlich in Schmerz gefangen halten will. Aber das jetzt nebenbei.

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