Zum 11. September 2016

Als Beinahe-Augenzeuge und daher zufälliges Nicht-Opfer dieser namenlosen Barbarei, die sich heute zum 15. Mal jährt, habe ich diesem üblen Entrée ins 21. Jahrhundert schon vor Jahren eine Art Internet-Denkmal auf meiner Homepage gesetzt:

Our 9/11

Ralf Schuster (Bild) & ich (Musik) ich haben „unseren“ 11. September 2001 drei Jahre später in einem experimentellen Dokumentarfilm verarbeitet, an den heute einmal mehr erinnert sei. Wir hatten uns am 9. oder 10. September 2001 eine Weile am Fuß des World Trade Centers aufgehalten, dort entstanden auch die Filmaufnahmen mit der Stretchlimo, der Hochzeitsgesellschaft etc. Während der eigentlichen Katastrophe schliefen wir sicher in unseren Betten im Gershwin Hotel (das mittlerweile The Evelyn Hotel heißt). Ralfs Film in seiner komplett unpathetischen und auch unsentimentalen, aber nicht unempathischen Chaotik zeigt für mich exemplarisch, wie schwer es ist, einem Ereignis von derart elementarer Disruptivität künstlerisch beizukommen:

Ich kam mir nie in meinem Leben mikrobenhafter vor als am 11. September 2001 und den Tagen danach, denn es wurden mir zwei Dinge klar:

  1. Dass du jetzt lebst, verdankst du einem glücklichen Zufall.
  2. Wärst du unter den Opfern gewesen – die Welt hätte sich weitergedreht. Also nimm dich teufelnochmal nicht so wichtig.

Johannes Kreidler: „Stockhausen – 9/11 – Hypermodern Art“ (2014)

In dieser dichten und gelungenen Passage seines siebenstündigen Musiktheaters „Audioguide“ (welches übrigens – als Ganzes – hervorragend als sanfter, aber nachhaltiger Exorzismus des Dispositivs „Neue Musik“ funktioniert) verbindet Kreidler auf wohl erwogene Weise drei Monstrositäten:

  1. den Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001
  2. die Äußerung des „Neue Musik“-Komponisten Karlheinz Stockhausen, dieser Anschlag sei „das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat“
  3. Bedingungen der Möglichkeit wahrhaft zeitgenössischer, also hypermoderner Kunst

Besonders interessant dabei die m. E. nur halbironisch vorgebrachte Behauptung, 9/11 sei deswegen – im Gegensatz etwa zum 2. Weltkrieg – kaum zur Inspirationsquelle für die zeitgenössische Kunst geworden (Steve Reich bildet hier eine löbliche Ausnahme), weil es eben, obwohl von Atta und seinen Spießgesellen nicht so konzipiert, selbst schon Kunst gewesen sei. Hatte Stockhausen also recht mit seiner monströsen Aussage? Hat ihn die Geschichte letztlich bestätigt?

Weiterhin heißt es ab ca. Minute 9, die interessanteste Kunst des 21. Jahrhunderts „doesn’t primarily operate in the art mode.“ Als Beispiele werden u. a. genannt:

  • „the totality of the David Letterman Show“
  • „Porn is the expressionism of 21st century“
  • „the lifework of Bach music imitation programmer David Cope including the controversy“

Bei aller performativen Vehemenz, mit der diese Ansichten vorgebracht werden, bleibt doch aber immer kunstvoll in der Schwebe, welche Meinung Kreidler selber vertritt – was ich aber nicht als Mangel, sondern gerade als genuin ästhetische Leistung wahrnehme.

Denn weder verurteilt dieses Musiktheater, noch verherrlicht es. Es erhebt keinen Zeigefinger oder spricht gar aus der Position moralischer Überlegenheit. Es ist nicht sarkastisch oder zynisch, oder gar Schlingensief’scher Neo-Fluxus, sondern eine auf äußerste Frivolität hin optimierte Komposition vorgefundenen und eigenen Materials, zu der sich der Zuschauer gezwungen sieht, eine Meinung zu haben.

Johannes Kreidler: „Audioguide“

Kreidlercollage für das Programmheft von «Audioguide»
Eine besonders gelungene, vor Sarkasmus triefende Collage Johannes Kreidlers für das Programmheft von «Audioguide»: Wie lässt sich der 11. September als «Neue Musik» vertonen? Jedenfalls *muss* das Zahlenverhältnis 9:11 *unbedingt* in der Partitur vorkommen!

Am Montag, den 4. August wird Johannes Kreidlers neue Musiktheaterproduktion „Audioguide“ in Darmstadt das Licht der Welt erblicken. Nach Auskunft des Komponisten handelt es sich dabei um „eine inszenierte Talkshow über ästhetische Effekte des Terrorismus, turbokapitalistische Kunstproduktion, hypermoderne Zahlen, Musikpsychologie, Feminismus, die Kreisbewegung, Hass auf Altes, Sozialnetzwerkdiskussionen politischer Kunstaktionen, Schönheitsideale, Waldgang, Geld, virtuelle Fremdarbeit, Macbeth, Stockhausen, Derrida und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft.“ – Hm, fehlt noch was?

Die Aufführung wird 7(!) Stunden in Anspruch nehmen, was aber, so Kreidler, aufgrund des klanginstallations-artigen Charakters einiger Passagen (will sagen: mitunter passiert längere Zeit nichts Szenisches, weil „nur“ Audio- oder Videoeinspielungen laufen) dann seinen Schrecken schnell verliert. Bayreuth-artiges Dauersitzen ist nicht erfoderlich: „Ein- und Ausgehen ist möglich.“

Also hingehen, eingehen und ausgehen, wer kann!

Steve Reich meets 9/11

„WTC 9/11“ ist eine Montage aus Streichquartett-Partitur und Zuspielband (mit elektroakustisch nachbearbeiteten Funksprüchen, Stimmen von Augenzeugen und geistlichen Gesängen aus dem Umkreis des Elften Septembers), die man hier für 2,94 EUR als MP3 bei Amazon herunterladen kann. Als Jugendlicher musste ich für meine ECM-Schallplatte von „Music for 18 Musicians“ noch ein Vielfaches bezahlen … Die Arbeit geht ästhetisch über „Different Trains“ von 1988 nicht hinaus, fällt aber auch nicht dahinter zurück. Wer sich für den „späten“ Steve Reich in Höchstform interessiert, dem sei das „Double Sextet“ von 2007 empfohlen, dynamisch interpretiert vom Chicagoer Neue-Musik-Ensemble Eighth Blackbird.

Und hier talkt der Meister ein wenig über „WTC 9/11“ und wundert sich, dass er 10 Jahre nicht auf die Idee kam, eine Komposition zu einer Katastrophe zu machen, die sich vor seiner Nase ereignete: