Eine aktuelle Konzertkritik von Gastautor Rigobert Dittmann.

Zuvorderst Prof. Armin Fuchs, der in Würzburg seine zweite Heimat gefunden hat, ist es zu verdanken, dass Cage100, die weltweite Feier des 100. Geburtstages von John Cage, auch hier heuer mal die Käfigtüren aufstößt, hinter denen die ‚Bad Boys of Music‘ ansonsten ihr kümmerliches Dasein fristen. „Open Cage“ bot am Dienstag, den 12.06.2012, in der Augustinerkirche mit „Voices & Organ“ die Gelegenheit, einige selten aufgeführte Stücke von Cage in einem dafür wie geschaffenen Rahmen zu hören.
Als Effata (das „Öffne Dich!“ der Taufzeremonie) erklingt die Antiphonie ‚ear for EAR‘ (1983). A capella intonieren zwei Sängerinnen, die eine sichtbar, die andere unsichtbar in der Seitenkapelle, wechselweise die Buchstaben Eee, Aaaa und eRRR. Die Akustik des Kirchenschiffs macht das zu einem Klangzauber, der selbst meiner ungläubigen Seele die Segel schwellt und sie auf den offenen Horizont zusteuern lässt. Danach spielt Martin Gál ‚Souvenir‘ für Orgel (1983). Ungewohnter Cage fordert der Orgel unerhörte Sounds ab. Zwischen repetierten Motiven knurren immer wieder tiefste Bassregister, zuletzt aber fiepen nur noch die kleinsten Pfeifen. In die so in allen Höhen und Tiefen gereinigten Gehörgänge ergießt nun der viergeteilte Kammerchor der HfM Würzburg , beidseitig im Raum verteilt, ‚FOUR²‘ (1990). Jörg Straube dirigiert die Haltetöne der Chorgruppen und beachtet dabei die von Cage vorgegeben ‚time brackets‘. Die Sänger schwingen sich mit Stimmgabeln auf die exakten Tonhöhen ein, und wenn sich die Wellen dann überlagern, erweist sich Akustik erneut als eine der magischen Künste.

‚Variations on America‘ (1891/92) von Charles Ives konterkariert alles bisher Gehörte als so unfrommes wie überschwängliches Orgelprachtstück. Gál fetzt vom Manual Klänge, die sich immer weiter von der anfänglichen ‚God Save the Queen‘-Hymnik entfernen. Wie die verhackstückt wird und mit allerlei virtuosen Schikanen und organistischem Schnedderedeng à la Kirmes, als Flamenco und mit Independence Day-Yippie Yeah! verschaukelt wird, das lässt sich nur mit breitem Grinsen quittieren.
Erik Saties ‚Messe des Pauvres‘ (1895) klingt danach wie der Aschermittwoch nach den tollen Tagen. Aber selbst wenn der Chor hier das Kyrie eleison anstimmt und die jetzt kleinlaute Orgel skurrile Gebete murmelt, Saties Frömmigkeit war einem Spleen verwandter als der Orthodoxie. Als Kirchenmaus seiner eigenen Église Métropolitaine d’Art de Jésus Conducteure betete Monsieur le Pauvre in erster Linie für eine Wiederverzauberung der Welt.
Als Höhepunkt und Ausklang tragen zuletzt zwei Baritone die ‚Litany for the Whale‘ (1980) vor. Wechselseitig buchstabieren sie über die Breite des Kirchenschiffs hinweg sonor ihren Namen und rücken dabei immer weiter drei Schritte längsseits vor. Als würden sich die zwei Letzten einer Art, würdig und erhaben, noch einmal ihre Würde und Erhabenheit bestätigen. Der Raum wird zum Meer, und wieder geht von den wandernden Klängen jener Zauber aus, der sich der Schönheit von Stimmen und der Höhe und Weite des Raums verdankt.
Dass viele Sitze leer blieben, obwohl der Eintritt frei war und das, was da zu hören war, wohl nur alle 100 Jahre zu hören ist, erwähne ich nur zur allgemeinen Beruhigung derer, die Kultur aus Käfighaltung vorziehen. Nein, es bestand zu keiner Zeit Ansteckungsgefahr. Andernfalls hätten jederzeit die Polizisten einschreiten können, die vor der Augustinerkirche die hungerstreikenden iranischen Flüchtlinge im Auge behalten.
Autor: Rigobert Dittmann