Im Herzen unbunt

Das schnuckelige Mittelstädtchen Würzburg im Norden Bayerns rühmt sich dieser Tage, um kürzlich reüssierende WügIdA-Demos vergessen zu machen, seiner, äh, soziokulturellen „Buntheit„. Aber wie, äh, „bunt“ ist es eigentlich in den Köpfen der dortigen Kulturschaffenden wirklich? Der promovierte, in Würzburg lebende und arbeitende Musikwissenschaftler Dennis Schütze wollte das wissen und hat über 9 Jahre (2005 – 2014) über 50 einflussreiche AkteurInnen der lokalen Unterhaltungsbranche aus allen Bereichen (außer Musik!) nach ihren 10 liebsten Musikstücken befragt und sich anschließend öffentlich mit ihnen darüber unterhalten.

KFC (Würzburg), 2006
Vor Kurzem erschien nun – etwas versteckt in einem kulturwissenschaftlichen Jahrbuch – eine 13-seitige Auswertung dieser Herkulesarbeit, der sich Schütze (Full Disclosure: Ich bin mit Dennis befreundet und gehörte – als einziger, hm, Musiker – zu den Interviewten; 2 der 51 Abende habe ich selber moderiert; außerdem habe ich die Excel-Tabellen für die Arbeit nach Vorgabe von Dennis gestaltet) im Wesentlichen ganz allein – allerdings mit ein wenig staatlicher Bezuschussung – unterzog, will sagen: Niemand hatte ihn zu diesem Projekt beauftragt.

Um es kurz zu machen: Die musikalischen Vorlieben der dominierenden AkteurInnen der Würzburger Kulturszene lassen sich in zwei Worten zusammenfassen: „Barock“ und „Woodstock“:

Sucht man innerhalb der 510 ausgewählten Tracks nach Mehrfachnennungen von Komponisten, Bands oder Einzelkünstlern, so ergibt sich folgendes Bild (hierarchisch): Johann Sebastian Bach (9/510), Pink Floyd (7/510), Georg Friedrich Händel (5/510), Jimi Hendrix (4/510), Tom Waits (4/510). Deutsche Barockkomponisten kommen zusammen auf immerhin 14 Nennungen unterschiedlicher Werke (keine Doppelnennungen). […] Die klassische Rockmusik von Jimi Hendrix und Pink Floyd kommt zusammen auf 11 Nennungen, wobei hier eine direkte Doppelnennung (Pink Floyd: Another Brick in the Wall, Pt. 2) und eine indirekte Doppelnennung (Hey Joe von Jimi Hendrix und Deep Purple) zu verzeichnen sind.

(D. Schütze: „My Favourite Tracks – Meine allerliebsten Lieder“, S. 256)

Nun, so richtig pluralistisch wirkt das ja nicht – woran natürlich Dr. Schützes fiese Fragestellung Schuld hat. Sie lautete ja nicht (wie üblich): „Was hören sie denn so für Musik?“ (Standard-Antwort: „Natürlich alles!“), sondern „Welche Musik ist Ihnen wirklich wichtig?“ Und – siehe da – aus vermeintlicher Buntheit werden urplötzlich „Fifty Shades of Grey“. Schütze formuliert das natürlich etwas seriöser:

Die Gesamtheit der Track-Auswahlen wird eindeutig dominiert von angloamerikanischer Popularmusik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und modernen Einspielungen mitteleuropäischer Kunstmusik. […] Die eigenwillige „Heterogenität innerhalb homogener Verhältnisse“ der Track-Auswahlen lässt sich als Binnendiversifizierung oder Binnendiversität bezeichnen.

(a. a. O., S. 265)

Will sagen, die Würzburger AkteurInnen legten zwar durchaus gesteigerten Wert auf individuellen Geschmack – aber bitte „innerhalb homogener Verhältnisse“! Denn:

Welche Tracks wurden von den Talk-Gästen nicht gewählt? […] Selten bis gar nicht gewählt wurden Tracks aus direkten Nachbarländern Deutschlands … oder traditionelle europäische Folklore (Jiddische Musik, Gypsy/Sinti-Jazz, Böhmische Polka, Flamenco, Fado, Rembetiko etc.). Selten bis gar nicht gewählt wurden Tracks aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien. In der Gesamtauswahl gibt es nicht einen Track aus den wirtschaftlich aufstrebenden BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Aber auch Tracks mit dezidiert lokaler oder regionaler Provenienz sind auffällig dünn gesät. Selten oder gar nicht wurden Tracks aus Würzburg, Unterfranken, Bayern oder aber auch Süddeutschland gewählt, keine Dialektlieder, wenig oder gar keine deutsche Volksmusik, volkstümliche Musik oder deutsche Schlager.

(a. a. O., S. 264)

Das heißt natürlich nicht, dass die Befragten all diese vielen, vielen Musiken ablehnten – aber sie schafften es eben (vorausgesetzt, die Antworten waren ehrlich) auch nicht unter ihre 10 liebsten Lieder, ganz nah ans Herz sozusagen.

Ich wünsche Dennis‘ Aufsatz viele aufmerksame Leser und bin stolz, Teil dieses mutigen und – vor allem – undankbaren Projekts gewesen zu sein!

David Rodgers: „Dennis on the Prairie“

Ich trage hier, unterstützt von Jochen Volpert an der E-Gitarre, einen Text vor, den der New Yorker Performance-Künstler David Rodgers als Liner Notes für das aktuelle Album „Unsung Songs“ von Dennis Schütze schrieb. Der Ton ist nicht immer gut verständlich, deswegen hier – für Interessierte – der Text als PDF. Die Performance fand am 11. Juli 2014 im Efeuhof des Rathauses Würzburg statt (Efeu nicht sichtbar). Danke an Camilo Goitia für die Video-Dokumentation 🙂

P.S.: David Rodgers hat das Video mittlerweile gesehen und folgendermaßen reagiert:

Hello Stefan and Jochen, many thanks to you guys for trying this one out. It’s great! I think you did a fine job! Since I know the text (ahem) I don’t think it was too hard to understand. I was very psyched to see this link in my mailbox very early on a grim and dreary morning. It cheered me up immensely. Thanks for doing it, and feel free to do it again! Ciao, Gentlemen! And thanks to Dennis for letting me check it out. Bravo!

Schütze interviewt Hetzel (2009)

Eben habe ich nach längerer Zeit einmal wieder das Gespräch gehört, welches Dennis Schütze vor nun auch schon einer halben Dekade im Rahmen seiner mittlerweile eingestellten Reihe „My Favourite Tracks“ mit mir führte – und es machte mir (trotz meiner teilweise hohen Sprechgeschwindigkeit) großen Spaß, nochmal zuzuhören. Vielleicht geht’s euch ja auch so, würde mich freuen 🙂

Aus urheberrechtlichen Gründen habe ich die Musik aus dem Mitschnitt entfernt, sie kann aber über die Playlist des Abends leicht identifiziert und bei Bedarf nachgehört werden.

P.S.: Mein häufigster Begriff in diesem Gespräch ist übrigens „Herangehensweise“, wie mir gerade auffällt.