Negative Induktion ist ein Sonderfall der Deduktion: Man leitet aus Gesetzen (die man nahezu beliebig wählen kann, dann aber befolgen muss) Ereignisketten ab, die sich erzählen lassen, …
Dietmar Dath: „Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine“, 2019 (S. 85); Bezüge: Coleridges Ästhetik, Cantors Mengenlehre
Wenn man weiß, was für Gegenstände man im Sinn hat, macht es gar nichts, wenn sie nur dem Bewusstsein zugänglich sind, nicht jedoch der Anschauung. Man muss dann fürs Weitere lediglich klar genug festlegen, welche Eigenschaften sie besitzen und welche ihnen fehlen sollen, der Rest ist Rechnen.
Dietmar Dath: „Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine“, 2019 (S. 69); Bezüge: Coleridges Ästhetik, Cantors Mengenlehre
Das Unwirkliche als gesellschaftlich vorläufig Unerschaffenes rief in Europa im frühen neunzehnten Jahrhundert nach der Kunst wie ein Rechenproblem nach einer Lösung.
Dietmar Dath: „Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine“, 2019 (S. 65)
Weil es den Kunstschaffenden der Romantik um neue Arrangements ihrer Mittel ging, die man in der traditionellen Kunstausübung als Quellen spezifischer Effekte erarbeitet hatte, lag ihnen die Idee nahe, Synthesen des Alten in neuen Effektwelten zu konstruieren, von der »progressiven Universalpoesie« (Friedrich Schlegel) bis zum »Gesamtkunstwerk« (Richard Wagner).
Dietmar Dath: „Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine“, 2019 (S. 63)
Das kommt also heraus, wenn ein Marxist einen Science Fiction-Roman schreibt: Nicht schlecht, Herr Specht. Dass Dath ganz hervorragend schreiben kann, weiß ich seit Die Abschaffung der Arten aus dem Jahre 2008. Allerdings kann ich mich derzeit an keinerlei Einzelheiten aus diesem Roman mehr erinnern. Und ich fürchte, mit „Venus siegt“ (2015) wird es mir ganz genauso gehen. Komischerweise bedeutet das aber kein Qualitätsurteil – in diesem speziellen Fall.
Warum mir Dath so ausgezeichnet gefällt, obwohl inhaltlich nichts hängen bleibt, ist allerdings zu analysieren. Es erinnert mich doch an was … richtig: Die Lektüre von Diedrich Diederichsens Essay-Sammlungen „Freiheit macht arm“ (1993), „Politische Korrekturen“ (1996), „Der lange Weg nach Mitte“ (1999) und „Eigenblutdoping“ (2008). Auch hier: höchstes Amüsement, ja purer Genuss während der Lektüre, danach die große Leere.
Es gibt eine Verbindung zwischen Diederichsen und Dath und die heißt SPEX. Ersterer war dort mal Chefredakteur, zweiterer Autor. Beide gehören also der intellektuellen Gruppierung an, die ich gerne die postmoderne Linke nenne und der ich mich lange Zeit ebenfalls zurechnete, bis ich mich (wie viele andere) irgendwann vom Zeitalter flächendeckender Ironie verabschiedete.
Aber zum Roman: Gut gegen Böse, Links gegen Rechts, Kommunitarismus gegen Liberalismus, Bundwerk gegen Diversitas, Venus gegen Erde, Sowjetunion gegen Drittes Reich, … – und das äußerst varianten- und einfallsreich verkompliziert, ausdifferenziert, variiert und dekonstruiert, das ist „Venus siegt“. Immerhin ein Narrativ. Am Ende, so viel sei verraten, gibt es keinen eindeutigen Gewinner oder Verlierer, die Dinge bleiben, man ist schließlich postmodern, in der Schwebe.
Worauf sich die geneigte Leserin bei Dath einstellen muss, ist Vokabeln lernen. Der erste Teil des Romans ist als Autobiographie eines ehemaligen Bundwerk-Apparatschiks gestaltet, und der verwendet natürlich ohne Umschweife die Begriffe seiner (fiktiven) Epoche, deren Bedeutung man dann im Weiterlesen entschlüsseln muss. Gefällt mir aber, sowas. Kleine Rätselaufgaben lösen. Andere mag es abschrecken.
Eine Zilie ist bsp.weise ein aus Schwarzem Eis errichtetes öffentliches Transportsystem, in dem man sich mit oder ohne Hilfe von Inertialen bewegen kann. Neben B/ und Neukörpern können auch D/Zilien nutzen, während K/ darauf nicht angewiesen sind.*
Ansonsten geht’s um ein Thema, das die zeitgenössische SF als Ganzes derzeit umzutreiben scheint (vgl. meine Newitz-Rezension von Anfang des Monats): die soziokulturellen Folgen einer Emanzipation Künstlicher Intelligenz. Während Newitz jenseits aller Witzischkeit dann doch letztlich als fatalistische Mahnerin und Warnerin auftrifft, lässt Dath das Ding als real existierenden Kybernismus durch äußere Gegner scheitern – und damit erneut alles in der Schwebe. Was den Leser unbefriedigt zurücklässt. Von einem ideologisch derart ambitionierten Autor erwartet man dann doch etwas mehr Vision.
Aber bei diesen postmodernen Linken weiß man – per definitionem – ja nie. Vielleicht will Dath ja auch nur spielen (bzw. dekonstruieren, was mir mitunter auf dasselbe hinauszulaufen scheint). Fragt sich nur, wie lange mir die Zeit dafür noch nicht zu schade ist.
* Schwarzes Eis Venusischer Werkstoff mit schwerkraftbeeinflussenden Eigenschaften) Inertial Sammelbegriff für venusische Transportfahrzeuge B/ „Biotische“, d. h. Menschen Neukörper Experimentelle Kombinationen aus D/, B/ und K/, die die Errichtung des Freiwerks, einer Art von kybernetischem Kommunismus, vorbereiten sollen. D/ „Diskrete“, d. h. Roboter K/ „Kontinuierliche“, d. h. Künstliche Intelligenzen.
Was man sich genau unter Garben vorzustellen hat, habe ich aber bis heute nicht rausgekriegt.
Iannis Xenakis: „Musiques formelles“ – Titelseite der französischen Originalausgabe aus dem Jahr 1963
Merkwürdig, dass mir Dietmar Daths fulminante SF-Groteske „Die Abschaffung der Arten“ erst 4 Jahre nach ihrem Erscheinen in die Hände fiel. Oder auch nicht – das Werk wurde schließlich vom bürgerlichen Feuilleton so mau bis mies besprochen, dass ich schon dachte, es bei diesem Autor mit einem postmodernen Scharlatan, einer Art David Foster Wallace für Arme bzw. Bonsai-Pynchon zu tun zu haben. Nichts davon trifft zu: Das Buch ist beste Unterhaltungsliteratur für die gebildeten Stände, kann, was seine satirische Schärfe betrifft, mit Shteyngarts und Hahns aktuellen Arbeiten locker mithalten bzw. übertrifft diese noch gelegentlich, überbietet Müllers reizend ungeschliffene Freistil-Fantastik weit und lässt Kehlmanns letztes Werk dafür umso schmalbrüstiger und uninspirierter dastehen.
Häufig wird Daths Schaffen mit dem Attribut „krude“ beschrieben. Gar nicht mal so falsch, wenn man „krude“ mit „roh“, „unbearbeitet“ oder „ungeschliffen“ übersetzt, nicht aber wie üblich mit „rabiat“ oder gar „grob“. Dath hat nämlich einfach den Muth (Entschuldigung), seine umfangreichen philosophischen, naturwissenschaftlichen, belletristischen, soziologischen, historiographischen etc. Lesefrüchte ganz ungeniert und wie es ihm eben passt vor dem Leser auszubreiten und diese dann auch noch, sozusagen spaßeshalber, ganz dreist in eine Saga à la „Star Wars“ einzuschweißen. Dass das funktioniert, ist eigentlich ein Wunder, klingt es doch wie der feuchte Traum des Nerds von nebenan.
Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche ästhetischen Schwierigkeiten Mainstream-LiteraturkritikerInnen (Ausnahme, wieder einmal: Iris Radisch) mit derartigen „Ideen-Romanen“ haben, bei denen weder die psychologische Charakterzeichnung von Figuren noch avancierte Sprachbehandlung eine große Rolle spielen – eigentlich haben sie gar keine andere Wahl, als eine derartige écriture als schlicht defizitär zu qualifizieren. Sie sind zu bedauern.
Als früh Jules-Verne-H-G-Wells-Ray-Bradbury-Arthur-C-Clarke-Samuel-R-Delany-Geprägter (o.k., das war, bevor ich im Deutsch-Leistungskurs ebenso maliziös wie vernichtend gefragt wurde „Würden sie Science Fiction wirklich als Literatur bezeichnen?“) bin ich da eindeutig im Vorteil und kann Daths „unlogische“ und „unplausible“ inhaltliche Volten, Sprünge und Grillen schlicht genießen, statt ständig und penetrant mehr „psychologischen Realismus“ vom Autor einzufordern.
Schon witzig, dass der Autor, der ja als jahrelanger Chefredakteur des Musikmagazins SPEX sicherlich Tonnen von Pop hören musste, ausgerechnet die Musik des extremst pop-fernen griechisch-französischen Komponisten Iannis Xenakis und, im Besonderen, dessen hermetisches theoretisches Hauptwerk „Musiques formelles“ von 1963 (kann man hier komplett als PDF-Scan der Originalausgabe herunterladen) als Blueprint für musikalische Komplexität einfällt – und nicht etwa die Musik von The Deep Freeze Mice oder Madonna. Xenakis wird sogar wörtlich im Roman zitiert (S. 512 – 513):
Musik ist keine Sprache. Mit seinen komplexen Formen, Furchen und eingravierten Mustern auf der Oberfläche und im Innern gleicht jedes Musikstück einem Felsblock, den Menschen auf unzählige Arten entziffern können, ohne je die richtige oder beste Antwort zu finden. Kraft dieser vielfältigen Auslegungen evoziert Musik vergleichbar einem katalysierenden Kristall alle möglichen Phantasmagorien.
Auf Daths eigenem Mist ist dann wohl die Fortspinnung dieser wundersamen Eigenart des Musikalischen gewachsen. Und das geht so (S. 513):
Vielleicht ist die Nichtsprachlichkeit von Musik eine Parasprachlichkeit, wie etwa bei der Mathematik – die ist ja nicht nur eine Sprache, sondern auch der Gegenstandsbereich einer Sprache – die Zahl >1< ist ein mathematischer Ausdruck, dem außerhalb der Mathematik gar kein ontischer Status zukommt.
Und weiter (S. 513 – 514):
Vielleicht ist die Musik so etwas Ähnliches wie das Vokabular der Logik. Logik ist ja weniger eine Objektsprache, also eine Sprache, die Dinge und Sachverhalte ausdrückt, als vielmehr ein Instrument zum Explizitmachen der fundamentalen semantischen und pragmatischen Strukturen einer diskursiven Praxis. Und analog dazu könnte dann die Musik die Funktion haben, die fundamentalen Strukturen des raumzeitlichen Erlebens explizit zu machen. Da sie sich ja in der Zeit abspielt, darauf angewiesen ist wie kaum eine andere Kunst, und andererseits sehr leicht die Illusion von Räumen erzeugen kann. Musik wäre dann die eigentliche Dimensionskunst.
Das kann man natürlich auch für haltloses Blasenwerfen einer überhitzten Intellektuellenfantasie halten (oder gar für „krude“, hehe), vielleicht auch für einen etwas monströsen, hinkenden Hybriden aus Friedrich Schlegel und Ray Kurzweil – mich jedenfalls spricht diese furchtlose, experimentelle (hier passt der Begriff mal, denn man weiß wirklich nicht, was am Ende dabei herauskommt!) Denkweise aus drei Gründen enorm an:
weil sie auf intelligente Art Dinge zusammenführt, die erstmal nicht zusammen passen wollen,
weil sie sich weigert, Unsinniges als sinnlos zu betrachten,
und, vor allem, weil sie neugierig, neugierig und nochmals neugierig daherkommt!
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«… die Musik brauchst du […] nicht als Ausdruckswerkzeug und nicht als Kommunikationsmittel, sondern […] als computationalen Wandler, mit dem [d]ein musterergänzendes Hirn … bestimmte Klassen von inferentiellen Prozessen, betreffend die Beschaffung der Raumzeit und der richtigen Bewegung in ihr, behandeln lernt, die es andernfalls … nicht einmal formulieren könnte.»
Dietmar Dath: „Die Abschaffung der Arten“, 2008 (S. 458)