Was ist eigentlich „gute Musik“?

Gehaltsästhetik nach Harry Lehmann

Seit meiner Lektüre von Harry Lehmanns Kunstphilosophie „Gehaltsästhetik“ 2015 geht mir das Buch nicht mehr aus dem Kopf. Zentrale These des Buches war ja die Feststellung eines postmodernen Moments im Fortgang der Künste („Alles schon mal dagewesen!“), dem mit einer gehaltlichen Aufladung der Werke unter utilitaristischer bzw. pragmatischer Nutzung aller nun zu freier Verfügung stehenden ästhetischen Mittel zu begegnen sei. Nur so lasse sich der kulturelle Stillstand, den die Postmoderne darstelle, überwinden.

Schaut man sich 2019 ein wenig um im Bereich der zeitgenössischen Bildenden Kunst, scheint „Gehaltsästhetik“ das richtige Buch zur richtigen Zeit gewesen zu sein: Allerorten dominiert engagierte bzw. politisch aufgeladene Kunst, meistens von links, aber zunehmend auch von rechts. Für immanentistische Ausdifferenzierungen / l’art pour l’art scheinen sich derzeit weder auf Seiten der KünstlerInnen noch beim Publikum viele begeistern zu können. In der Kunstmusik sieht’s ähnlich aus. Kreidlers „Neuer Konzeptualismus“ ist zwar ein nach vielen Seiten offenes Konstrukt, wurde vom Meister selber aber nicht selten gehaltsästhetisch im Sinne klassisch linker Gesellschaftskritik benutzt („Fremdarbeit“, „Charts Music“) – wogegen freilich nichts zu sagen ist.

Aber ein Großteil derartig politischer oder besser politisierter Kunst und/oder Kunstmusik entspricht gerade nicht den Desideraten der Lehmann’schen Gehaltsästhetik. Warum das so ist, möchte ich in der Folge ausführen.

Gut/gut gemacht

Dem einen oder der anderen wird das nicht in den Kram passen, aber gut gemacht ist keine conditio sine qua non für gute Kunst. Viele Romane und short stories von Philip K. Dick bsp.weise sind schlampig und eilig heruntergeschrieben, gehören aber aufgrund ihres herausragenden Gehalts zum besten, was das 20. Jahrhundert an Literatur hervorgebracht hat. Anders gesagt: Für die qualitative Beurteilung von Kunst ist das Auseinanderhalten von gut und gut gemacht zentral.

Die Demokratisierung einst kostspieliger Produktionsmethoden durch die Digitalisierung hat eine historisch beispiellos gigantische Menge gut gemachter Artefakte hervorgebracht. Manchmal habe ich den Eindruck, das hat die Geschmacksbildung vieler Menschen so verwirrt, dass sie nicht mehr imstande sind, zwischen gut gemacht und gut zu unterscheiden. Vor allem in der Rezeption des zeitgenössischen Mainstream-Kinos fällt mir das auf. Wie oft schon habe ich auf die Frage: „War der Film gut?“ die Antwort „Er war gut gemacht.“ bekommen, aber eher mit einem bewundernden als mit einem kritischen Unterton.

Diese übertriebene, ja übergriffige Wertschätzung des Handwerklichen kommt vielleicht daher, dass man die FilmemacherInnen für die virtuose Beherrschung digitaler Produktionsmittel bewundert, mit denen man selber im Alltag nicht ganz so gut zurechtkommt. Das ist zwar eine psychologisch verständliche Reaktion, die aber das ästhetische Urteil nicht beeinflussen sollte. Das Recht auf ein ästhetisches Qualitätsurteil steht jeder Bürgerin zu, unabhängig davon, ob sie etwas von CGI versteht oder nicht. Ebenso sollte klar sein, dass sich mir die ästhetische Qualität bsp.weise Elektroakustischer Musik auch dann mitteilen muss, wenn ich die Max/MSP-Algorithmen, die die Komposition generiert haben, weder kenne noch verstehe. Falls das nicht möglich ist, hat die Komponistin versagt.

Anliegen, Stil und Gehalt: Vorschlag einer qualitativen Kategorisierung von Musik

Musik (sowie Kunst im Allgemeinen) bekommt ein Gesicht durch ihren Stil, d. h. durch die mehr oder minder gekonnte Verwendung mehr oder minder anerkannter Ausdrucksmittel. Darüber hinaus sollte Musik gehaltvoll sein, also ein frei wählbares außermusikalisches Anliegen durch ihren Stil vermitteln. Gehaltvolle Musik entsteht durch die Vermittlung dieses Anliegens mit stilistischen Mitteln, anders geht es nicht, denn „Music is a prostitute“ (S. Brown 2009), will sagen, eine überwältigende, aber ethisch und moralisch komplett indifferente Verführerin. Bezahlt man sie nur ordentlich, lässt sie alles mit sich machen, es ist ihr egal. Alles, was die Musik von sich selber weiß, ist, wie sie manipuliert.

Das Verhältnis von Anliegen und Stil kann in mannigfaltiger Art und Weise problematisch sein. Transportiert der Stil das Anliegen nicht, versteht keiner, was die Komponistin gemeint hat. Geht es dem Komponisten eigentlich nur um das Anliegen und die Musik dient nur als Schmiermittel, merkt man die Absicht und ist verstimmt. Ist die Komponistin Meisterin eines speziellen Stils, hat aber darüber hinaus kein Anliegen, lässt sich ihre Arbeit mit Fug und Recht als hochkultiviert, aber leer abkanzeln. Erst, wenn sich Anliegen und Stil gegenseitig kommentieren bzw. bereichern, entsteht wirklich interessante, d. h. gute Musik. Nach diesem Schema lässt sich jede Art von Musik qualitativ in eine von vier Kategorien einteilen.

  • In Kategorie I stehen Anliegen und Stil in einem Missverhältnis. Ein Beispiel wäre etwa uncooler Pop, der zu kompliziert, zu angestrengt und zu intellektuell daherkommt, darüber hinaus auch noch schlecht produziert ist und nicht ins Ohr geht. Neue Musik, die sich auf die Vorführung erweiterter Spieltechniken beschränkt, gehört ebenso hierhier wie sog. intelligente elektronische Tanzmusik, die nicht groovt. Und natürlich sämtliche Formen volkstümlicher Musik, die keine Volksmusik sind.
  • Die Musik der Kategorie II dient lediglich als Schmiermittel für ein Anliegen. Popmusik, die lediglich populär sein bzw. werden will und sonst nichts, ist hier richtig aufgehoben, ebenso politische engagierte Kunstmusik, deren Anliegen man evtl. zwar sogar unterstützt, die aber musikalisch nicht zu überzeugen weiß. Gute Filmmusik, die man aber einfach so, d. h. ohne dabei den Film zu sehen, nicht hören würde, gehört auch hierher, genauso wie animierende, d. h. funktionierende elektronische Tanzmusik, die einen, zuhause in Ruhe angehört, aber nur noch nervt. Und schließlich die meiste authentische Volksmusik, der man noch anhören kann, dass sie einst zur Unterstützung eines gesellschaftlichen Rituals entstand.
  • Handwerkliche und/oder stilistische Meisterschaft in Abwesenheit eines Anliegens charakterisiert Musik, die in die Kategorie III gehört. Hier glaubt man die KomponistInnen ständig „Wir sind wahre KönnerInnen und demonstrieren Ihnen das auch gerne ausgiebig, aber außer für Musik interessieren wir uns eigentlich für nichts.“ sagen zu hören. Gekonnt komponierte Neue Musik gehört hierher, ebenso wie mehr oder minder akademischer Jazz „auf höchstem Niveau“, wie es immer so schön heißt. Weiterhin die meiste Improvisierte Musik und alle Formen mehr oder minder elaborierter (post-)moderner Salonmusik à la Quadro Nuevo, Kronos Quartett etc.
  • Nur, wenn sich Anliegen und Stil gegenseitig befruchten oder hochschaukeln, entsteht Musik der Kategorie IV. Das kann gehaltvolle Musik jeglicher Couleur sein, denn Gute Musik ist (leider) kein Genre, sonst wäre es einfach. Es ist eher so, dass sich irgendwann intersubjektiv ein Erspüren dieser Gehalthaftigkeit einstellt. Und zwar nicht nur bei ExpertInnen. Wichtig dabei ist, dass auch normale HörerInnen irgendwann den Eindruck gewinnen, es hier mit einem guten und nicht etwa nur mit einem gut gemachten Stück Musik zu tun zu haben, denn das würde in die Kategorie III gehören.

Erstmalig publiziert 2019-08-14 im Bad Blog of Musick, danke! Die sich dort anschließenden Kommentare sind durch die Bank auf hohem Niveau, konstruktiv und sehr lesenswert 🙂

Ein Buch und seine Folgen

Buchcover
Wird von KunstmusikkomponistInnen offenbar nicht nur gelesen, sondern auch ernstgenommen: Harry Lehmanns Musikphilosophie „Die digitale Revolution der Musik“ aus dem Jahr 2012. Klick aufs Bild führt zum Verlag, wo die eBook-Ausgabe für derzeit € 14,99 heruntergeladen werden kann.

Jundurg Delphimė, von dem ich weiß, dass er die Weltsicht seit Jahren zumindest gelegentlich wahrnimmt, hat am 28. November den konzisen Aufsatz „Fünf Wege für eine Musik des 21. Jahrhunderts“ in sein Blog gestellt, der jedem ans Herz gelegt sei, der sich für kunstmusikästhetische Fragen der Gegenwart interessiert.

Wer diese Debatte, die ziemlich von Beginn an die Weltsicht mitgeprägt hat, kennt, wird sofort spüren, dass da einer gründlich nachgedacht hat. Aber auch wer sich in der Materie nicht auskennt, wird einen informativen, authentischen und sehr gut formulierten Text finden.

Meine eigenen Gedanken zu diesem Buch, in der Weltsicht publiziert zwischen November 2012 und März 2015, sind hier zusammengestellt.

Probleme gehaltsästhetischen Komponierens

Mein gehaltsästhetisch gewendeter Munich Remix von Karl F. Gerbers algorithmischer Komposition „Giesing Township“ wurde vor Kurzem hier auf der Weltsicht publiziert. Jetzt hat mich Karl vor eine ungleich schwierigere Aufgabe gestellt: Wie ließen sich wohl die Maßkrugsymbole* auf untenstehendem Ausschnitt eines Aushangs der Münchner U-Bahn angemessen sonifizieren?

Es zeigt sich: Lässt man sich erst mal ernsthaft auf außermusikalische Gehalte im kunstmusikalischen Komponieren ein, steht man sofort vor echten kreativen Herausforderungen. Und das ist jetzt nur halb als Scherz gemeint.


* Es handelt sich um die Jahresübersicht 2017 der Verkehrseinschränkungen durch Bauarbeiten auf den Linien U1 und U2, die während des Oktoberfestes aufgehoben werden. Der unbeschnittene Originalaushang steht hier im Netz.

Hirst, Lehmann und der Gehalt – und was keinesfalls passieren sollte

Weiterhin lesenswert: Harry Lehmanns kunstphilosophisches Buch Gehaltsästhetik aus dem vergangenen Jahr, das ich die Ehre hatte, lektorieren zu dürfen 🙂 In Bezug auf Damien Hirsts Skulptur The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living (1991) schreibt der Autor auf Seite 207:

Die Haiskulptur führt exemplarisch vor, über welche beiden Negationen die gehaltsästhetische Kunst aus der Konzeptkunst hervorgegangen ist. Die selbstbezüglichen Konzepte werden durch gehaltvolle Konzepte ersetzt und die Anästhetik wird durch eine gehaltsspezifische Ästhetik überwunden. In diesem Sinne wirkt die Konzeptkunst wie ein Katalysator für eine gehaltsästhetische Wende in den Künsten.

Folgendes aber sollte auf keinen Fall passieren:

Illustration: Christoph Niemann

Rezension der „Gehaltsästhetik“ im Artblog Cologne

covergehalt

Andreas Richartz möchte Lehmanns Buch eigentlich bewundern, findet dann aber doch einige missliebige Aspekte, wie z. B. die angebliche Aussparung der politischen Dimension von Kunst* sowie die stiefmütterliche Behandlung von Subkultur**, die sein Gesamturteil schließlich eher durchwachsen ausfallen lassen, was schade ist.

Auch das leidige Thema der angeblichen „Normativität“ von Lehmanns Kunstphilosophie kocht wieder hoch. Mein Gott. Was soll das überhaupt sein, eine normative Ästhetik? Doch wohl ein theoretisches Regelwerk, das explizit und exklusiv festlegt, was gute Kunst ist und was durch’s Raster fällt. Und genau das ist „Gehaltsästhetik“ nicht.

Im ersten Teil des Buches entwirft der Autor eine allgemeine, an naturwissenschaftliche Erkenntnisse anknüpfende Theorie ästhetischer Erfahrung, im zweiten Teil artikuliert er seine Desiderate an zeitgemäße Kunst: sie müsse gehaltsästhetische Züge haben, um ihrem Kunstanspruch gerecht zu werden, ansonsten handle es sich eben „nur“ um Kunsthandwerk bzw. Design.

Ich habe den Eindruck, was speziell westdeutsch Sozialisierte immer wieder an Lehmanns Position irritiert, ist, dass da überhaupt mal wieder ein Intellektueller präzise definierte Ansprüche an Kunst stellt, anstatt sich auf ironische Kommentare zum Kunstbetriebsgeschehen zu beschränken. Wenn es aber schon normativ – sprich: eine Zumutung – ist, Ansprüche an Kunst heranzutragen, die nicht von der Künstlerin selber willkürlich vordefiniert wurden, gerät das ganze Dispositiv in Schieflage und es kommt früher oder später zu einer „Diktatur der Kunst“ – allerdings nicht im Sinne Jonathan Meeses. Denn die real existierende Diktatur der Kunst ist so gar nicht „geil“, sondern eher bleiern.

Genau diese Malaise spricht Richartz an, wenn er eine „flächendeckend erschreckende Sprachlosigkeit zwischen Künstlern (untereinander) und Publikum, ja eine nahezu vollendete Anschlusslosigkeit von Kommunikation“ beklagt. Klar: Wo „die Kunst“ sich ihre eigenen Regeln gibt und alle das prima finden, erübrigt sich jene Form von substanziellem Gedankenaustausch, die man früher „Kunstkritik“ zu nennen pflegte. Denn wer meint und argumentiert, hat schon verloren, Ende Gelände.

Was übrig bleibt, ist mehr oder minder geistreiches Geplauder. Oder eben gleich Geldverhandlungen.


* Es gibt wohl kaum politischere Kunst als gelungene gehaltsästhetische Werke wie z. B. Lars von Triers „Melancholia“, aber auch Leni Riefenstahls „Olympia“ (meine Beispiele). Freilich handelt es sich hierbei nicht automatisch um politsch korrekte Kunst bzw. um Kunst, deren politische Verortung und Vereinnahmung auf der Hand liegt.
** Hier muss ich dem Rezensenten recht geben. In „Gehaltsästhetik“ sucht man vergeblich nach Namen wie Janis Joplin oder Jimi Hendrix, einzig Steve Reichs Minimal music, die zumindest hierzulande zeitweise unter „Alternativkultur“ firmierte, findet ausführliche Erwähnung (S. 191 – 193). Das spricht allerdings nicht gegen die Allgemeingültigkeit von Lehmanns philosophischer Ästhetik, denn Schönheit, Erhabenheit, Ereignishaftigkeit und Ambivalenz finden sich natürlich auch bei John, Paul, George und Ringo. Gerade die Geschichte der Popmusik lässt sich ganz hervorragend als Abfolge von Medienver- und entschachtelungen beschreiben. Wäre eine schöne Aufgabe für eine akademische Arbeit, fällt mir gerade auf 😉

Wenn du die Weltsicht unterstützen möchtest, erwirb einen Download meiner Musik bei bandcamp oder sende mir ein Buch von meinem Wunschzettel.

Die Ordnung der Query (Gedanken zu Seemanns „Neuem Spiel“)

Michael Seemann (*1977)

Endlich komme ich dazu, das erste Buch des 37-jährigen, in Berlin lebenden Kulturwissenschaftlers Michael Seemann, für das ich in der Weltsicht so ausgiebig die Werbetrommel rührte, nun auch ebenso ausgiebig zu rezensieren.

Für Ungeduldige das Fazit vorweg: Es ist ein gutes, hellsichtiges und unbequemes Buch geworden, das sich vor den mulmigen Fragen, denen sich gerade der sogenannte „Netzaffine“ derzeit gegenübersieht, nicht herumdrückt. Für die internet-ferne oder gar internet-skeptisch gesinnte Leserin bietet es dennoch keinen Trost. „Das Neue Spiel“ (ich weiß immer noch nicht, ob das eine Anspielung auf Roosevelts „New Deal“ sein soll, was aber letztlich auch nicht so fürchterlich wichtig sein mag) verbindet in überzeugender Weise u- und dystopische Thesen über den aktuellen sowie den in den nächsten Jahren bevorstehenden soziokulturellen und – vor allem – politischen impact des Internets. Es ist aber keine „Netztheorie“ und nicht einmal im engeren Sinn kulturwissenschaftlich, sondern das öffentliche Räsonieren eines durch und durch politischen, der Piratenpartei nahestehenden, Kopfes, der sich vorgenommen hat, so illusionslos wie möglich darüber nachzudenken, wie es denn nun weitergehen soll. Legt man diese Maßstäbe an, ist „Das Neue Spiel“ sehr gelungen.

*

Die Wege der Daten sind unergründlich.

M. Seemann, Das Neue Spiel, S. 30

…und bleiben es auch, trotz aller Anstrengungen alter und neuer Dispositive (sprich: der Institutionen und der Sozialen Netzwerke), die Zahnpasta in die Tube zurückzuquetschen. Dieser „Kontrollverlust“ sei aber keineswegs eine „Spezialität des Digitalen“, so Seemann:

Stattdessen liegt sein Kern in der spezifischen Struktur von Information selbst. Genauer: in der Irreversibilität der Mitteilung, die übertragen wird.

M. Seemann, a. a. O., S. 17

Im Licht dieser Erkenntnis wird plausibel, warum Internet-Skeptiker bis heute das WWW als bloßen Gerüchtedurchlauferhitzer verunglimpfen – so ganz falsch ist das nämlich gar nicht. Das nachhaltig Irritierende einer Welt-mit-Internet ist nämlich – das sind meine Gedanken jetzt – weniger deren penetrante „Vernetztheit“ – die gab’s immer schon, mehr oder weniger -, sondern die Tatsache, dass Geheimhaltung nicht mehr so richtig zu funktionieren scheint. Und dann ist es wie immer, wenn etwas oder jemand stirbt: Erst danach wird klar, welche Bedeutung sie, er oder es hatte.

„Geheimhaltung“ muss hier so umfassend wie möglich verstanden werden: als Diskretion, Staatsgeheimnis, Privatsphäre, Steuergeheimnis, Kulturtechnik, politische Hinterzimmerabsprache, Patent, Rezeptur. Nun, all diese „Geheimnisse“ tragen dazu bei, die Gesellschaft überhaupt erstmal zu formen. Diese bisherige Ordnung der Dinge, so Seemann, steht nun aber beunruhigenderweise zur Disposition:

Ob wir das gut finden oder nicht, Staat und Internet sind strukturell schwer zu vereinbaren und reiben sich immer heftiger aneinander. Internet und Staat geraten immer mehr in Systemkonkurrenz.

M. Seemann, a. a. O., S. 216

Wer nun „Jetzt übertreibt er aber!“ ausrufen möchte, soll sich Seemanns Argumente lieber noch mal ein bisschen genauer ansehen. Er behauptet freilich nicht, dass „das Internet“ „die Staaten“ zum Verschwinden bringen wird – aber:

Sie werden … eine zunehmend nebensächlichere Rolle im Neuen Spiel spielen. Sie werden nicht mehr der primäre Adressat für Politik sein.

M. Seemann, a. a. O., S. 142

Schon heute, so Seemann, wird allmählich klar, dass der Staat, indem er an der Verdatung der Welt partizipieren muss (kürzlich machte ich meine Einkommenssteuererklärung über ElStEr, ohne auch nur einen Buchstaben zu Papier zu bringen), ganz allmählich zur – und jetzt kommt ein Seemann’scher Zentralbegriff – „Plattform“ wird. Damit der Staat sein Gewaltmonopol überhaupt aufrechterhalten kann, müssen sich hoheitliche Aufgaben mehr und mehr durch das Nadelöhr des Internets hindurchquälen. Der Staat hat aber kein eigenes Internet – er muss sich also wohl oder übel den Regeln des bestehenden unterwerfen. Angela Merkels viel belächeltes Diktum „Das Internet ist für uns alle Neuland“ bekommt so ein ganz anderes Gewicht.

Wie exakt Seemann „Plattform“ definiert, ist mir nicht ganz klar. Facebook jedenfalls wird im Verlauf des Buches mehrfach als solche benannt, aber auch Weblogs wie dieses oder der Mikroblogging-Dienst Twitter. Plattformen wären demnach internet-basierte Soziale Netzwerke, deren markanteste neuartige Eigenschaft laut Seemann ihre Datenförmigkeit darstellt (Soziale Netzwerke gab es schon immer, aber sie waren nicht daten-, sondern gesprächsförmig, d. h. undokumentiert, vergänglich, schnell vergessen, verschwunden). Facebook ist – in diesem Zusammenhang – nichts anderes als ein historisch beispiellos gigantisches Gesprächsdatensilo, das dennoch auf sehr subtile Weise rasend schnell abgefragt werden kann.

Und schon sind wir beim zweiten Seemann’schen Zentralbegriff: der Abfrage (engl. query). Hier komme ich nicht umhin, einen längeren Absatz aus dem Buch zu zitieren, denn die ganz handfesten politischen Konsequenzen der Etablierung von etwas scheinbar so Esoterischem wie einer Programmiersprache (hier: der Structured Query Language SQL) wurden selten so klar und kompakt dargestellt:

Mit SQL löste sich der Prozess des Abfragens ein großes Stück weit vom Prozess des Speicherns, das machte das Prinzip revolutionär. Was seither mit einer Datenbank möglich ist, wird immer weniger bestimmt von der Ordnung derjenigen, die die Datenbank installieren, strukturieren und befüllen, sondern vor allem von denen, die sie abfragen. Und genau hier – im Moment der Abfrage – findet sich der Urgrund des Kontrollverlustes. Hier kippt die Kontrolle der Ordnung aus den Händen der Schreiberinnen, Sender, Archivarinnen und Gatekeeper in die Hände der Abfragerinnen. Das bedeutet: Wir haben es nicht mit einem neuen Aufschreibesystem zu tun, sondern mit dem Ende der Aufschreibesysteme. Es heißt nicht, dass die Aufschreibesysteme weg sind oder nichts mehr aufgeschrieben wird. Im Gegenteil. Alles wird aufgeschrieben. Aber das bestimmende Moment der Informationsstrukturierung findet nicht mehr beim Aufschreiben statt, sondern bei der Abfrage.

M. Seemann, a. a. O., S. 59

Ich weiß, der Begriff „Paradigmenwechsel“ ist aufgrund allzu häufiger Nutzung komplett ausgelutscht, aber dennoch sage ich jetzt mal: Seemann beschreibt hier – in überzeugender und vollkommen unaufgeregter Weise – nichts anderes als einen solchen. Wir rutschen derzeit ganz allmählich aus einer Welt der „Aufschreibesysteme“ (ein Begriff, den der Medientheoretiker  F. Adolf Kittler in den 1980er Jahren in den intellektuellen Diskurs einbrachte) heraus und in eine Welt der „Abfragesysteme“ hinein. Hat man diesen zivilisatorischen shift erst mal in seiner Länge, Breite und Tiefe begriffen und akzeptiert, erschließen sich mannigfaltige Erscheinungen der Gegenwart ein wenig besser – und übrigens auch der Rest von Seemanns Thesen, die dann gar nicht mehr so steil erscheinen.

Seemann wird hier tendenziell zu einer Art „Kafka 2.0“. Dessen Roman Der Prozess vom Beginn des 20. Jahrhunderts beschreibt ja in bis heute eindrücklicher Weise die – jetzt mal ganz milde formuliert – eher unangenehme Seite einer durch Aufschreibesysteme, d. h. den Staat und seine Bürokratie, strukturierten Welt. Die durch Abfragesysteme generierte Welt des 21. Jahrhunderts, so Seemann, potenziert und transformiert diese Kafakaeskheit nochmal durch die Möglichkeit, Datensätze (also „das Aufgeschriebene“) in einer Weise miteinander zu verknüpfen, die im 20. Jahrhundert technisch noch nicht möglich war (Big Data):

Die Aussagefähigkeit von Daten wird damit in eine unbekannte Zukunft katapultiert. Weder wissen wir heute, was morgen Daten sein werden, noch wissen wir, was Daten von heute schon morgen aussagen können.

M. Seemann, a. a. O., S. 37

Mit anderen Worten, das in den Aufschreibesystemen der letzten 2.000 Jahre angehäufte Wissen wird durch die Ordnung der Query operationalisierbar, es wird – auf allen Ebenen – mobil bzw., in Seemanns Worten, „iteriert“. Über den „Layer“ des Aufgeschriebenen kann nun ein Query-Layer gelegt werden, der es nahezu in Echtzeit zu beliebigen Ad-Hoc-Konfigurationen zusammenstellen und diese Konfigurationen auch speichern (bzw. ausdrucken oder sonstwie „materialisieren“, man denke nur an 3D-Drucker) kann. In meinen Worten: Der Query-Layer (eine uns allen bekannte Form desselben ist bsp.weise Google) generiert content zweiter Ordnung, dessen Struktur aus der des ursprünglich Aufgeschriebenen aber in keinster Weise mehr ableitbar ist. Er stellt also weder eine Variation noch eine Collage von Aufgeschriebenem dar, er ist auch kein objet trouvé, sondern erschließt sich einzig und allein aus der Intention der ihn verursachenden Abfrage.

Umso wichtiger wird es, die Kunst der Abfrage zu beherrschen. In Seemanns Worten:

Die unbekannte Frage ist es, die das Wissen erst strukturiert.

M. Seemann, a. a. O., S. 198

Im Licht der Gedanken des Kulturphilosophen Harry Lehmann zu einer Gehaltsästhetik (die Weltsicht berichtete und kommentierte) bekommen diese Gedanken Seemanns eine weitere Facette: Ist „Gehaltsästhetik“ nicht letztlich auch eine (notwendig gewordene!) Form von „Query-Ästhetik“? Angesichts der Iteration des Aufschreibe-Layers durch den Query-Layer – bleibt uns da (als Künstlern) eigentlich eine Wahl, wenn wir nicht in neopostkonservativmoderner Retrosentimentalität versanden wollen? Und – sind Johannes Kreidlers Ideen zu einem „Neuen Konzeptualismus“ in der Musik nicht letztlich der Versuch, eine solche Query-Ästhetik gleich mal konkret künstlerisch umzusetzen (vgl. auch Diederichsens Beschreibung neuerer künstlerischer Praktiken, in denen die überkommenen „sprechaktartigen Bezugnahmen“ immer mehr durch die software-gestützte „Verfremdung bestimmter musikalischer Parameter“ abgelöst werden)?

*

Was tun? (Gedanken zu Seemanns “Neuem Spiel” 2)