Knorziges in Weißensee

Die gute alte Improvisierte Musik ist dann doch immer wieder ein bisschen vitaler und verbreiteter, als man denkt. Durch mr.boredom erfuhr ich von einer ganz ausgezeichneten Location für Improvisierte Musik in Berlin-Weißensee, dem studiobörne45. Bassist Alexander Frangenheim residiert dort und hatte sich für den Abend des hochsommerlichen 21. Augusts 2018 hochkarätige Gäste aus der nationalen Improv-Szene eingeladen: Thomas Lehn (synth), Paul Lovens (dr) und Günter Christmann (cello, tb). Und ein Schwede, Mats Gustafsson (woods), war auch dabei.

Alexander Frangenheims „studiobörne45“ in Berlin-Weißenssee

Als Keyboarder interessierte mich vor allem natürlich Lehn, den ich noch nie gehört hatte. Also fotografierte ich gleich mal sein Setup für diesen Abend:

Thomas Lehns Setup für das Konzert am 21. August 2018 im studiobörne45. Links davon und nicht im Bild noch ein kleines Mischpult.

Nun, das sieht sehr stark nach Eigenbau aus (ein Synthesizer,der „Synthi“ heißt, wo gibt’s denn sowas?). Das schnuckelige, äh, Keyboard mit den aufgedruckten Tasten diente, das kam dann raus, auch als Touch- bzw. Wischpad, was die Ausdrucksmöglichkeiten des von Haus aus meiner Meinung nach für die Ästhetik handelsüblicher Improvisierter Musik komplett ungeeigneten monophonen Analogsynthesizers (mA) entscheidend verbessert.

Womit wir beim Thema wären: Wie kommt bzw. kam Thomas Lehn nur darauf, dieses sterilste und stumpfste aller Instrumente, den mA, in den Improv-Diskurs einbringen zu wollen? Und wie schaffte er es bloß, damit auch noch Erfolg zu haben?

Der mA ist natürlich nicht an sich steril und stumpf, für Musik à la Tangerine Dream, Klaus Schulze oder Mother Mallard’s Portable Masterpiece ist er ganz hervorragend geeignet, aber hört euch mal diese Musik im Vergleich zum Output Lehns an: man glaubt nicht, es (im Prinzip zumindest) mit dem gleichen Instrument zu tun zu haben!

Thomas Lehn@studiobörne45. Foto: Cristina Marx

Die Krautrock-Synthesisten der 1970er-Jahre machten es sich recht einfach und verwendeten das, was der mA ohne große Umstände kann: orgelartige Haltetöne, mehr oder minder noisige Drones, Obertongezwitscher, gerade repetitive Beats, regelmäßig sequenzierte Melodielinien (gerne auch im Bass) sowie vor allem mehr oder minder Sphärisches irgendwo zwischen weißem Rauschen, Sinus-, Sägezahn-, Rechteck- und ein paar mehr Wellen. Zusammengefasst lässt sich mit Fug & Recht sagen, dass hier ein Instrument eine Ästhetik prägte.

Bei Lehn ist es genau umgekehrt: Er fand eine bereits festgefügte Ästhetik, die der Improvisierten Musik nämlich, vor, an die er die Ausdrucksmöglichkeiten seines Instruments anpasste. Und das gelang ihm so gut, dass sein Synth-Output im Gesamtsound des Quintetts vom 21. August 2018, das offiziell übrigens „Vario 34“ heißt und von Christmann 1993 begründet wurde, kaum herausstach. Nur gelegentlich, sehr gelegentlich, musste ich an das Peter Thomas Soundorchester und seine Musik für Raumpatrouille aka Raumschiff Orion denken. Dann allerdings sehr stark und das löste ein Schmunzeln aus, denn die Improvisierte Musik neigt ja zu Selbstgenügsamkeit und Hermetik, sie ist für mich sogar, neben der Musik Lachenmanns oder Hespos‘, der Inbegriff einer abgeriegelten, asketischen, geheimniskrämerischen und ausgesprochen separatistischen 20. Jahrhundert-Ästhetik. Als Gegenstück in der Bildenden Kunst bietet sich der Abstrakte Expressionismus an.

Paul Lovens@studiobörne45. Foto: Cristina Marx

Vario 34 bot alles, was sich die eingeweihte Improv-Liebhaberin wünschen kann: sensibel aufeinander eingehendes Ensemblespiel, stets auf Neue gleichsam wie von Cy Twombly hingekritzelte Klangzeichnungen, Dynamik (leider keine Selbstverständlichkeit, viele Improv-Performances sind einfach nur laut bzw. nur leise) und Einfallsreichtum im Rahmen des Erlaubten. Dabei gaben – für meine Ohren – Lehn und Lovens die Impulse, wenn den anderen nichts mehr einfiel und Frangenheim, Gustafsson und Christmann schnappten begierig nach ihnen, um sie ebenso gekonnt wie kunstfertig auszuarbeiten. Dabei hatte – wiederum für meine Ohren – Gustafsson die beschränktesten Audrucksmöglichkeiten, bei ihm schien alles auf Virtuosität und Kraft herauszulaufen, er mäßigte sich allerdings, indem er sein Saxofon-Mundstück einer Querflöte aufpfropfte und diese gleichzeitig mit einem Saxofon- oder Mikroständer penetrierte. Hausherr Frangenheim werkte als uneigennütziger Ensemblespieler durchgängig unauffällig, aber sachdienlich vor sich hin. Christmann, der mich äußerlich nicht wenig an den verstorbenen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch erinnerte, ragte nicht nur vom Bühnen-Setup her seitlich heraus (er saß am äußersten rechten Rand), auch performativ wirkte er mitunter eher knorzig, was sich merkwürdigerweise aber niemals als wirklich störende Quertreiberei bemerkbar machte.

Großer, begeisterter Applaus eines vollen Hauses. Völlig zurecht.

Vario 34@studiobörne45. Foto: Cristina Marx

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Felix Klopotek hat 2003 die schöne CD „Achtung“ mit Aufnahmen von Lehn & Lovens aus dem Jahr 2000 produziert, die man, wenn überhaupt, dann hier beziehen kann.

Vijay Iyer: „Autoscopy“ (2017)

Neben den hier bereits erwähnten Craig Taborn und Pat Thomas ist mir in den letzten paar Jahren vor allem ein neuer Stern am Improv-Pianistenhimmel aufgefallen: Vijay Iyer [wiedschäi eier], der erste mit bekannte indischstämmige Pianist, der es in diesem Bereich zu internationaler Anerkennung gebracht hat. Bisher konnte ich mich mit seinem einerseits leicht parfümierten, andererseits etwas hüftsteifem Spiel nicht wirklich anfreunden, aber das folgende Video hat das geändert. Er hat’s drauf:

Iyer hat auch Musikpsychologie studiert und kümmert sich – und das macht ihn nun wirklich zu einer Ausnahmeerscheinung – intensiv um eine kognitionswissenschaftlich fundierte Theorie der Improvisierten Musik*. Vor zwei Jahren hat er eine Reihe etwas zäher, aber durchaus inspirierter und vor allem allgemeinverständlicher YouTube-Videos zu diesem Thema publiziert, von denen ich in den kommenden Tagen und Wochen drei Stück hier präsentieren werde.


* Nerd-Info: im Rahmen der Thesen Embodied Cognition und Situated Cognition

Cecil Taylor ist gestorben und ich gehe in mich

Cecil Taylor ist einer meiner „großen Drei“*, also der Jazzpianisten, die mich am stärksten beeinflusst haben, während ich mir um 1990 herum meine Variante des Jazzpianospielens selbst beibrachte. Jetzt ist er im gesegneten Alter von 89 Jahren gestorben, wie ich vergangene Woche dem Blog von Alex Ross entnahm.

Ich wurde ein wenig traurig, habe mir die populärsten Cecil-Taylor-Videos auf YouTube herausalgorithmisiert und auch gleich Einiges angehört. Dabei kam mir sein Spiel sehr viel weniger komplex vor als um 1990 herum. Aber warum?

Das Erste, was mir dazu einfällt, ist die – zugegeben selbstgefällig klingende – Vermutung, mein Verständnis musikalischer Komplexität habe sich während des vergangenen guten Vierteljahrhunderts derart signifikant erhöht, dass mir Taylors Musik nun in weniger schillerndem Licht erscheint. Seine rasende Konstruktivismen kamen mir um 1990 als eigentlich nicht überbietbare „Echtzeitkompositionen“ vor, die mich anspornten, selbst den dornigen, entbehrungsreichen & einsamen Pfad der solistischen Improvisation am Klavier (allerdings mit dahinterstehender Kompositionsabsicht) einzuschlagen. Und so geschah es ja auch.

Allerdings fällt mir heute auf, dass Taylors Musik sehr viel mehr mit Virtuosität und Fleiß zu tun hat bzw. hatte, als ich damals annahm. Mich hätte seine Bemerkung in der Doku „All the Notes“ (Ausschnitt) misstrauisch machen müssen, er habe täglich mehrere Stunden zu üben.

Auch stieß ich auf eine Improvisation über Billy Strayhorns „After All“, die sich exakt so anhörte wie die Version auf meinem Cecil-Taylor-Initiations-Tonträger, der LP „Silent Tongues“, die mich in den 1980er-Jahren eine ganze Weile ästhetisch aus der Fassung gebracht hatte. Hat der Meister dann doch mehr reproduziert als kreiert? Oder hatte ich nur zufällig das Video exakt des Konzertmitschnitts entdeckt, der der LP zugrunde lag?**

Drittens musste ich feststellen, dass es in Taylors Spiel eigentlich keine Polyphonie gibt, zumindest nicht im Sinne eines entwickelten Kontrapunkts, also dem mehr oder minder gleichberechtigten Nebeneinander von mindestens zwei Einzelstimmen. Was es sehr wohl gibt, ist der schnelle Wechsel zwischen recht verschiendartigen, aber aufeinander bezogenen repetitiven Strukturen, von denen man sich zumindest vorstellen kann, dass sie auch simultan erklingen könnten, hätte der Pianist denn mehr als zwei Hände.

Viertens: Taylors schier endlos wiederholte „Dreiergruppen“ („Triolen“ trifft es nicht wirklich), die sein Spiel ebenso markant bzw. mitunter enervierend wie hochgradig wiedererkennbar machten – ein Marketing-Vorteil, ob nun gewollt oder nicht – stellen ganz einfach eine der simpelsten, energetisch effizientesten und dabei musikalisch potentiell sogar sinnvollen Hand- bzw. Fingerbewegungen dar, die man auf dem Klavier überhaupt machen kann. Musikalisches drip painting sozusagen. Was jetzt keine Abwertung sein soll, nur ist mir dieser Zusammenhang früher nicht auf- oder eingefallen

Je mehr Videos aus den 1970er- und 1980er-Jahren ich mir ansah, desto weniger Lust bekam ich, mich mit Taylors Spiel anlässlich seines Todes noch einmal neu auseinanderzusetzen. Ich denke, alles, was er mir zu geben hatte bzw. – besser – alles, was ich in der Lage war aufzunehmen, ist bereits in meine Arbeit eingeflossen. In diesem Sinn ist Cecil Taylor ein erforschter und geplünderter Kontinent.

Nun denn: So long, big cat!

Dieses Klavierstück aus dem Jahr 2007 ist Cecil Taylor gewidmet, jetzt mag es als Requiem dienen:


* Für Neugierige: Die anderen beiden sind Lennie Tristano und Bill Evans.
** Letzteres, wie sich herausstellte. Ich habe Taylor also zu Unrecht des Selbstplagiats bezichtigt!

hetzelquintetthettstadt 2017-09-30

Improvised Music @ Jörg’s Jazzkeller, Hettstadt, Germany, 2017-09-30 with Stefan Hetzel (Digital Piano), Jörg Meister (Electronics), Klaus Ratzek (Tuba), Carola Thieme (Voice) & Jochen Volpert, (E-Guitar). Have fun:

Cut 1: love 4 sale

Cut 2: dawn

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Video der Woche : KW 09 : Thomas, Parker & Drake@Mulhouse 2016-08-26

Mein derzeitiger Lieblingspianist Pat Thomas trifft auf den geschmeidigen Drummer Hamid Drake, der für meine und Ralf Schusters Doku „Improv 2014 (Peitz)“ so gewinnend Auskunft über die Arkana der Improvised music zu geben wusste … und Kontrabassist William Parker ist auch dabei. Die erste gute halbe Stunde gibt’s Improvisierte Musik auf höchstem Niveau und mit aller notwendigen Sprödig- und Sperrigkeit, anschließend entspannen sich die Herren ein wenig zu orientalischen Klängen. Vor allem Thomas‘ Spiel ist geradezu spektakulär ungefällig, aber dabei komplett überzeugend. Listen and get involved …

Pat Thomas „One“ (2013)


patthomasUnd ein letztes ebenso rüdes wie sensibles Statement des afrobritischen Meisters. Sein Spiel hat eine Qualität, für die mir kein abgefuckterer Begriff als spirituell einfällt.

Tut mir leid.

Wirklich.

Denn was meine ich mit spirituell? Nun, hat Musik spirituelle Qualität, glaubt man, mehr wahrzunehmen als bloß akustische Phänomene. Das Hörbare triggert etwas in mir an, das sich begrifflicher Vermittlung nachhaltig entzieht. Dabei kann es sein, dass es nur mir so geht und andere Ohren hier nur Chaos und/oder Indifferenz wahrnehmen. Aber so verhält sich das nun mal mit dem subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustands. Ganz grundsätzlich und evtl. unhintergeh- und -überbrückbar. – Recorded live @ Cafe Oto, London.