von Ralf Schuster
In meinen neuen, noch etwas zu steifen Birkenstockhalbschuhen schleppe ich mich über den vertrockneten Bürgersteig der Brunnenstraße, dort, wo sie noch zum Wedding gehört. Büffel gab es hier wohl bloß in prähistorischen Zeiten und die Zeit der Kühe ist zwischen den bizarren Achtzigerjahrebetonbauten schon lange vorbei. In meiner wasserdichten Umhängetasche aus Funktionsmaterialien befinden sich auch keine Lebensmittelvorräte, sondern Infomaterial zum Digitalprint meines literarischen Lebenswerks, sollte jemand unerwartet das Bedürfnis artikulieren, es auf Papier gedruckt sehen zu wollen. Hinter den großen Schaufenstern der Erdgeschossgewerberäume haben sich Filmproduktionsfirmen, Coworking Spaces und Galerien angesiedelt. Noch ganz frisch. An mancher Galerietür hängt lediglich ein Zettel mit der Handytelefonnummer, die man anrufen kann, sollte man tatsächlich den Raum betreten wollen.
Ich gerate in ein nettes Café im Wohnzimmersitzgruppenstil, weitgehend leer. Die exotischen Bezeichnungen auf der Speisekarte verleiten mich zu der Frage, welche Ethnie sich hier denn wohl verwirklichen mag und es stellt sich heraus, dass es Esten sind. Das Lachsbrot mit Avocadocreme, die viel Knoblauch und Zitrone enthält, schmeckt so gut, dass ich gleich noch eins bestellen muss und mit der blonden Bedienung darin einig werde, dass ich ja mal bei der offenen Bühne am Sonntagabend vorbeikommen könnte, um ein paar Lieder zu singen. Für mich als Besuchsberliner, so erfahre ich, werde der aufstrebende Wedding Kontakte bieten, durch die ich dann aktiv in das Grosstadtkulturleben hineintauchen könne. Denn in den etablierten Stadtteilen sei es gar nicht so einfach, Auftrittsmöglichkeiten zu erschließen, geschweige denn solche, die angemessen bezahlt würden.
Nach den Lachsbroten muss ich weiter nach Süden. Ich könnte die Linie 8 nehmen – oder war es der A-Train? – beschließe aber, weiterhin zu Fuß zu gehen, über den Mississippi hinweg, dorthin, wo das hippe Nachtleben den Kulturversuchen des Wedding 15 Jahre voraus ist, also nach Neukölln. In der Gegend rund um den U-Bahnhof Boddinstraße gab es, als ich vor 25 Jahren dort wohnte, nur Dönerbuden, Matratzendiscounter und rustikale Bierlokale. Letztere haben vielleicht den Boden dafür bereitet, dass in der weiteren Umgebung des Hermannplatzes der Blues eine Heimat fand. Es gibt eine kleine, aber rege Szene, die regelmäßig Jamsessions veranstaltet. Wer abends müde von der harten Arbeit auf den Bauwollfeldern oder der Tagesschicht im Schlachthof kommt und mit seiner Klampfe durch die richtige Tür torkelt, kann dort stets coole, hochqualifizierte Musiker finden und mit ihnen tolle Musik machen.
Dies funktioniert auch, wenn man tagsüber im Gesundheitswesen arbeitet, zwischendurch einen Doktorgrad in Germanistik erworben und sich sein Bluesknowhow in Unterfranken erarbeitet hat. So machte es Jürgen Zink aka JZ James, der seit einigen Jahren in Berlin lebt. Irgendwann schleppte er dann die in Neukölln eingesammelten Musiker sogar ins Aufnahmestudio.
Und nach einem eineinhalbjährigen digitalen Reifungsprozess sollte es heute nun das Release-Konzert der CD „A Great Notion“ in der Villa Neukölln geben, einer fantastischen Location, die super zur Musik passte. Auch alles andere passte und wirkte durchaus „authentisch“. Nur hatte wohl eine gute Fee die bärtigen alten Männer in Lederwesten, aus denen das Publikum bei Blueskonzerten sonst besteht, in hübsche junge Frauen verwandelt.
Was mir an der Musik gefiel, war ihre Schlichtheit, die erst durch die individuelle Kraft guter Musiker Glanz bekommt. Vor allem der Schlagzeuger hatte ein sehr feines Gespür dafür, wie weit er sein Spiel reduzieren, aber trotzdem durch wunderbare Akzentuierung des Beats weiter genau das Richtige zur Musik beisteuern konnte. Der Trompeter gab dem gesamten Abend eine besondere Note, während der Geiger nur mal schnell für drei Songs auf die Bühne kam und dann gleich wieder verschwand. Vermutlich musste er auch noch woanders auftreten, was mich nicht gewundert hätte, da er trotz nur weniger Töne extrem zu beeindrucken wusste. Und dann war da natürlich JZ James selbst, singend, Gitarre spielend – und zweifelllos bestaussehendstes männliches Hosenträgermodel der Saison.
Da ich nicht weiß, wo man JZ James‘ CD kaufen oder bestellen kann, besorge ich mir gleich eine in der Konzertpause. Und nach dem Konzert flitze ich sofort los, um noch den letzten Greyhound-Bus zurück in die Provinz zu erwischen.
Hier das Line-Up der CD „A Great Notion“, die mir prima gefällt:
JZ James – Gesang, Gitarre
Paul Swing – Trompete (meist gestopft)
Pete “Wild Duck” Wessa – Bluesharp
Roland Satterwhite – Violine
Mark Roman – Kontrabass
Nick Morrison – Gitarre
Sebastian Maschat – Schlagzeug
Die CD „A Great Notion“ von JZ James kann man hier kaufen.