Auf dem Weg zu einer Naturphilosophie des 21. Jahrhunderts

Schon seit einigen Jahren beobachte ich mit großem Interesse und großer Sympathie die Bestrebungen des us-amerikanischen Physikers Lee Smolin, Einstein Relatitivätstheorie, zweifellos die einflussreichste wissenschaftliche Theorie des 20. Jahrhunderts (die einflussreichste des 19. war Darwins Evolutionstheorie) etwas Gleichwertiges für das 21. Jahrhundert gegenüberzusetzen. An intellektueller Bescheidenheit leidet Smolin also nicht (trotz seines extrem bescheiden und irgendwie „rabbihaft“ wirkenden Auftretens).

Zumindest einen von Smolins Gedanken glaube ich mittlerweile verstanden zu haben: Er versucht, Einstein und Darwin zusammenzudenken und spricht ganz ernsthaft und unmetaphorisch von einer „Evolution der Naturgesetze“. Na das ist ja mal wirklich ein origineller, tatsächlich „verrückter“ Gedanke, großartig! Wenn ich ihn richtig verstehe, glaubt Smolin beweisen zu können, dass zu Beginn der Entstehung des Universums (Urknall und so) das All nicht nur unvorstellbar anders ausgesehen hat als heute – auch die Naturgesetze könnten damals andere gewesen sein. Hieraus folgt dann, dass das, was wir heute „die Naturgesetze“ nennen, ebenfalls keine unendlich lange Gültigkeit für sich beanspruchen könnte. Die Naturgesetze, so Smolin, unterliegen ebenso einem „evolutionären“ Prozess wie die Materie, deren Gestalt sie determinieren. Freilich denkt Smolin hier in „unmenschlichen“ Zeiträumen, wir werden also nicht mehr erleben, dass der Raum plötzlich 32,56 statt 3 Dimensionen hat, dass Wasser erst bei 125 Grad kocht statt bei 100 Grad oder Ähnliches. Aber prinzipiell, so Smolin, dürfe dergleichen nicht ausgeschlossen werden.

Und es ist auch noch ein zweiter, grundlegender und weitreichender Gedanke Smolins, der meine Sympathie hat. Das einzig „Reale“ sei die Zeit: Der Raum sei, auf eine mir derzeit noch nicht verständliche Weise, ein „Effekt“ der Zeit (und nicht etwa umgekehrt wie bei Einstein). Wie gesagt, ich bin hier und jetzt nicht in der Lage, Smolins Argumentation darzustellen, da bitte ich um Geduld, bis ich seine Gedanken eindringlicher studiert habe, aber als Komponist und Liebhaber der „Zeitkunst“ Musik käme mir die, äh, „Primordialität“ der Zeit vor dem Raum natürlich recht gelegen 😉

In seinem neuesten Buch hat sich Smolin nun mit dem brasilianischen (Sozial-)Philosophen Roberto Mangabeira Unger zusammengetan, Unger hat die erste Hälfte des Buches verfasst, Smolin die zweite. Wow! Ein Kosmologe und ein Sozialphilosoph arbeiten zusammen, wann hat’s denn das zum letzen Mal gegeben (ich vermute, da muss man schon zu Spinoza und Leibniz zurückgehen, die freilich jeweils beides in einer Person waren)?

Allein der Gedanke, es könnte wieder so etwas wie eine fassbare Naturphilosophie geben, erfüllt mich mit Freude. Relativitätstheorie, Quantentheorie und Stringtheorie entbehrten ja, vorsichtig ausgedrückt, immer ein wenig allgemeiner Fasslichkeit (was natürlich nichts über ihren Wahrheitsgehalt aussagt), was zur Folge hatte, dass sich „normale Menschen“ kein rechtes Bild mehr vom Stand kosmologischen Denkens machen konnten. Dies wiederum könnte einer der Gründe für das Erstarken irrationalen Denkens („New Age“, traditioneller Aberglaube, Verschwörungstheorien jeglicher Couleur, Scientology, religiöser Fundamentalismus sowie vulgarisierte Formen von Feminismus [à la ‚Die‘ Frau ist ‚dem‘ Mann in jeglicher Hinsicht überlegen.], Marxismus [à la Der ‚Kapitalismus‘ ist an allem Elend dieser Welt schuld.], Neoliberalismus [à la Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht] und Dekonstruktivismus [à la Alles ist relativ.) in den letzten 100 Jahren gewesen sein (Um mich hier nicht falsch zu verstehen: Die Unfasslichkeit naturwissenschaftlicher Theorien ist nicht der Grund für das Erstarken des Irrationalismus, aber die Phänomene scheinen miteinander zu korrelieren).

Kurz gesagt: Auf den Mann wird zu achten sein.

P.S.: Hier eine schöne Rezension von „The Singular Universe and the Reality of Time“ aus dem Guardian.