Medialismus, Roman: 45. Kapitel

Ralf SchusterSabines Wohnung lag in Prenzlauer Berg ganz ähnlich wie meine in der Provinzstadt: An einem kleinen Platz mit Park inmitten der Gründerzeitbebauung. Aber in Berlin war alles schöner, größer und teurer. Schon beim Einparken nahm ich zur Kenntnis, dass wir uns mit dem Cabrio in der richtigen Gesellschaft befanden, denn das Mittelklasse-Einerlei wurde durch verschiedene Sportwägen, exotische Marken und liebevoll erhaltene Siebzigerjahreautos aufgelockert. Wir selbst waren nur auf Urlaub in der Welt der Luxusautos, fühlten uns trotzdem am richtigen Ort zur richtigen Zeit.

Wir hätten Glück gehabt, sie gerade noch anzutreffen, sagte Sabine, da sie am nächsten Tag für eine Woche nach London fliege, eine geschäftliche Angelegenheit, Fortbildung und Konzeptgruppe, Meeting und Brainstorming oder so ähnlich. Sabine wurde bei ihren Erklärungen unterbrochen, weil ihre Tochter nach Hause kam. Ich war ziemlich überrascht, denn ich hatte mir gar keine Gedanken über ihr Alter gemacht und immer nur ein kleines Mädchen mit Spielsachen oder Kritzelbildern in Erinnerung. Aber jetzt war sie plötzlich eine junge Frau, vermutlich sechzehn und sah sehr gut aus. Die genetische Mischung aus ihrem afrikanischen Vater und der blonden Sabine war durchaus gelungen. Sie trug eine folkloristische helle Bluse und eine kaputte Jeans, was nichts Besonderes war, aber bei ihr sah es super aus. Außerdem bewegte sie sich so geschmeidig und gleichzeitig lässig, wie es nur Tina in ihrer besten Zeit hingekriegt hatte. Ich glaubte zu bemerkten, dass auch Karsten staunte und sich plötzlich nicht mehr für den architektonisch bemerkenswerten Grundriss der Wohnung interessierte, sondern für die Frage, welche der vielen Arten von Kaffee, die Sabines teure Maschine ausspucken konnte, die richtige sei, damit sich die hübsche Tochter zu uns an den Tisch setzte.

Sabine lenkte das Gespräch in die beste denkbare Richtung und meinte, es sei für ihre Tochter sowieso höchste Zeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was sie nach dem Abitur machen solle, das seien nur noch zwei Jahre und die konfusen Großuniversitäten in Berlin könne Sabine aus eigener Erfahrung nur dann empfehlen, wenn man unbedingt die Stadt kennenlernen wolle, aber das sei ja in ihrem Falle nicht nötig, also könne sie die Gelegenheit nutzen, sich bei uns über die Provinz und deren angeblich so gute Universität zu informieren. Die Tochter schlürfte ihren Milchkaffee. Noch bevor sie etwas sagen konnte, beteuerte Karsten, dass sein Architekturstudium geil gewesen sei, aber jetzt werde er das Diplom beginnen, gehöre er doch zu einem der letzten Jahrgänge, die noch Diplom machten und nicht in die Bachelor- und Masterstruktur hineingezwängt würden.

Bei der Gelegenheit meinte ich erklären zu müssen, dass wir wegen exakt dieser Diplomarbeit unterwegs seien, weil Karsten als besonders ehrgeiziger Student sich mit mir, dem Medienfachmann, verbündet habe, um sich über die Masse der nicht medial unterstützen Diplomarbeiter zu erheben. Denn es sei das herausragende Merkmal von Medien, nicht nur ästhetische Wirkung zu besitzen, sondern auch kommunikativen Mehrwert zu liefern. Das Medium erst gebe einer Aussage Brillanz, Gewicht und Relevanz, medial, sagte ich mit übertriebener Wichtigkeit, erhöben wir uns über die Schlichtheit nackter Fakten. Was allerdings dann fatal werde, wenn sich irgendwann ALLE über ALLE anderen erheben wollten, dann gebe es eine schreckliche Schaumschlägerapokalypse.

Sabine meinte, ich solle ihre Tochter mit diesem selbstreflexiven Kram nicht verwirren, einfache Aussagen, wie das Leben als Medienfachmann denn so sei, genügten vollkommen. Aber das ist doch interessant, widersprach die Tochter und so fühlte ich mich ermutigt, fortzufahren: Die Tricksereien, das Geschummel sowie die Anmaßung, sich ihrer beliebig zu bedienen, seien der eigentliche, faszinierende Kern der Medienarbeit als verlängerter Arm von Polemik und Demagogie. Und die Tatsache, dass das oft nicht erkannt werde. Doch, das erkenne man durchaus, protestierte Karsten.

Ich hoffe nicht, erwiderte ich, aber wir würden es ja später daran merken, wie unser gemeinsamer Film über Mobilität ankomme. Die Millionen tagtäglich hin- und herfahrender Autos seien als Tatsache selbstverständlich bekannt, aber unser Film, der ja von nichts anderem erzähle, werde die Professoren bei der Diplompräsentation hoffentlich dennoch beeindrucken. Für trockene Technokraten sei natürlich eine schnöde Tabelle der statistischen Bundesanstalt mit sorgfältigen Listen der Kilometer pro Kopf, pro Auto oder pro Tonne Warenverkehr in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt eine viel bessere Entscheidungshilfe, aber wir mit unserem Lifestyle-Gedöns und Mädchen mit wehenden Haaren im coolen Cabrio böten eine idealisierte und keineswegs repräsentative Darstellung des Phänomens Mobilität. Darum haben wir ja auch den Fernfahrer mit dem „Ich-hab-den-längsten“-Aufkleber auf seinem 25-Tonner interviewt, warf Karsten ein, der relativiere das verzerrte Bild durchaus wieder. Anschließend steuerte er noch einige Motel-Anekdoten bei, die wohl die Unvereinbarkeit der Truckermentalität mit unserer stilistisch optimierten Intellektuellenwelt illustrieren sollten, was sowohl Sabine als auch ihre Tochter sehr erheiterte.

Sabine beendete unsere Ausführungen mit dem Hinweis an ihre Tochter, dass sie uns nicht zu ernst nehmen solle, aber sie könne doch trotzdem einfach mit uns mitfahren und sich die Uni ansehen, sie habe doch sowieso gerade Ferien und sie selbst müsse schließlich zu ihrem Thinktank nach London. Da stimmte die Tochter überraschend zu.

Während sie ihre Klamotten in einen abgeschabten Rucksack stopfte, plauderte sie aus, dass Sabine ja gar nicht nach London MÜSSE, sondern nur hinwolle, weil sie dort einen wieder mal besonders bedeutenden Liebhaber besuchen wolle, angeblich sogar englischer Adel. Dann quetschte sie sich auf die kleine Rückbank und den letzten Abschnitt unserer Rundreise waren wir zu dritt.

Selbstverständlich gaben wir uns alle Mühe, die junge hübsche Frau zu beeindrucken. Wir kamen am frühen Abend an. Karsten umkreiste erst einmal den Campus und ich filmte die Ankunft. Dann machte ich einige sehr gelungene Fotos von Sabines Tochter. Sie waren ähnlich wie die Aufnahmen in Weimar: Sie hinten im Cabrio auf der Lehne, und die Universitätsgebäude schienen vorbeizufliegen. Alles passte. Der niedrige Sonnenstand sorgte für sanftes Licht, dazu zarte Wölkchen und SIE mit einer coolen Sonnenbrille und ihrer hellbraunen Hautfarbe. Ich sagte ihr, sie sei schon so gut wie immatrikuliert, denn die Fotos seien prima und würden bestimmt in irgendeiner Broschüre der Uni abgedruckt werden, sofern sie nichts dagegen habe. Sie meinte nur, ihr sei das egal, das könne ich ruhig machen. Wir luden die Technik aus, dann ging sie mit Karsten zum Kochen in das Studentenwohngemeinschaftshaus und übernachtete schließlich bei Tina und mir im Arbeitszimmer. Wir zeigten ihr die Stadt und die Uni, zwei Tage später verschwand sie mit dem Zug nach Berlin.

Karsten schnitt den Film weitgehend allein und ich fand, dass er ihn etwas zu wichtig nahm. Bei seiner Diplompräsentation kam es dann zwischen den anwesenden Professoren auch zu einem handfesten Streit, ob der Film nicht zu oberflächlich und plakativ sei und Karsten sich nicht lieber auf seine Entwurfsplanung hätte konzentrieren sollen. Nur mit schönen Bildern wollte man sich also nicht abspeisen lassen, das fand ich gut. Trotzdem verpasste man Karsten eine gute Note, das fand ich ebenfalls gut. Danach aber war seine Zeit in der Provinzstadt abgelaufen. Die erste Generation von Studenten, die ich kennengelernt hatte und die mir ans Herz gewachsen war, verschwand auf Nimmerwiedersehen.

Sabines Tochter kam auch nicht zurück, sie ging zum Studieren erst nach Stuttgart und dann in die Schweiz. Das Foto mit ihr landete ein Jahr nach ihrem Besuch tatsächlich auf der Rückseite einer Infobroschüre. Nochmals einige Jahre später, als es um die Beschleunigung des Studiums ging, kramte wieder jemand das Foto von Sabines hübscher Tochter heraus, das sei doch ein tolles Motiv, und dann auch noch dieser Multikultilook, ganz wunderbar! Wir versuchten uns an einem Remake des Fotos mit anderen Studentinnen und Studenten und schossen eine ganze Serie, auch unter Zuhilfenahme anderer Fortbewegungsmittel wie Fahrrad, Straßenbahn und Inlineskatern, aber das Original im Cabriolet blieb unerreicht. Wieder entstanden Flyer, bei denen das Bild auf der Rückseite abgedruckt war. Die Mitarbeiterin in der Marketingabteilung fragte mich, ob ich die Druckgenehmigung der jungen Frau habe. Ich rief bei Sabine an, konnte sie aber nicht erreichen. Eigentlich hatte mir ihre Tochter ja bereits gesagt, dass ihr das EGAL sei, also hakte ich die Angelegenheit ab und war der Meinung, es gehe schon alles in Ordnung. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.

Ich wollte noch ein paar Tage Urlaub machen und mich erst einmal darum kümmern, ein Drehbuch für die letzte Folge meiner Kriminalfilmserie zu schreiben. Mit Tina fuhr ich nach Tschechien, wo wir wanderten und billiges Bier tranken. Nebenbei tippte ich meine Ideen in den Laptop. Tina musste mit mir die Handlung diskutieren und wachte streng darüber, dass die Geschichte stets eine unerwartete Wendung nahm und keine Klischees des gewöhnlichen Fernsehkrimis aufwies. Deswegen steckten wir inzwischen ziemlich fest in den Anti-Klischees. Tina meinte, Antihelden seien auch etabliert, warum nicht Anti-Klischees? Trotzdem gelang uns, eine passable Handlung zu entwerfen, die wir auf achtzehn Szenen verteilten, weil achtzehn Szenen ungefähr zwanzig Minuten Film ergeben und zwanzig Minuten Film war die Länge, die ich ohne Stress in einer Woche realisieren konnte.

Als wir am letzten Urlaubstag im Zug saßen, die Grenze zwischen Tschechien und Deutschland hatten wir gerade passiert, checkte ich das Handy, das ich aus Trotz gegen die allgegenwärtige Verfügbarkeitsdoktrin während der ganzen Woche ausgeschaltet gelassen hatte. Es lag eine Anfrage der Mitarbeiterin der Marketingabteilung vor, die meinen Rückruf erbat, wegen der jungen Frau auf dem Foto. Dann eine weitere Meldung, die mit der Feststellung endete, dass ja vermutlich alles geregelt sei. In der Tat hatte man alles bereits geregelt, das konnte ich sehen, als wir am Bahnhof ausstiegen. Offensichtlich hatte die Marketingabteilung während meiner Abwesenheit beschlossen, eine große Plakatwerbung zu schalten und das Motiv mit Sabines Tochter dafür ausgewählt.

Da prangte sie plötzlich überlebensgroß vor mir, dazu der dämliche Werbeslogan, der der Menschheit vermitteln sollte, dass man an unserer Universität den langen Weg von der ersten Kontaktaufnahme bis zum akademischen Abwinken schneller als anderswo gehen könne. Jetzt fiel mir auch wieder ein, wie die Mitarbeiterin der Marketingabteilung etwas von Sonderkonditionen bei den Plakatwerbevermarktern gemurmelt hatte, da sei angeblich ein Quasi-Umsonst-Plakat für die Uni drin. Kein Wunder, die Werbewände waren inzwischen weitgehend überflüssig und meist mit Eigenwerbung oder Imagekampagnen für soziale Belange bestückt. In der Hinsicht beeindruckte mich die Plakatwerbung nicht sonderlich. Aber dass es so schnell gegangen war, in nur einer Woche, während der ich in Tschechien durch den Wald spaziert war, das erstaunte mich durchaus.

Ich trat näher an das Bild heran. Ja, mein erster Eindruck hatte nicht getrogen, da hatte jemand retuschiert. Ein Leberfleck am Hals war verschwunden und die Reflexion im Auge wirkte anders als im Original. Das konnte ich gleich erkennen. Außerdem hatte es auf dem Foto auch noch ein paar kritische Stellen mit den Haaren gegeben, einzelne Haare auf der Wange, die vom Wind in eine ungünstige Position geweht worden waren. Natürlich hatte ich nicht mehr jedes einzelne Haar in Erinnerung, aber ich sah trotzdem, dass Photoshop am Werk gewesen war, vielleicht sogar mit einem Weichzeichner. Vermutlich durch unseren Designer, dem war das zuzutrauen. Vielleicht lag der schwammige Eindruck auch nur daran, dass die Auflösung meines Fotos für die 10 Quadratmeter dann doch zu niedrig war. In dieser Hinsicht fehlte mir jegliche Erfahrung, denn es war mein erstes Foto auf einer Plakatwand.

Ich trat noch mal einen Schritt zurück, um es als Gesamtheit anzusehen. Wirklich eine tolle Aufnahme von einer tollen Frau. Ob das Bild von mir sei, fragte Tina ungläubig, sie fand es auch sehr hübsch. Wie sich später herausstellte, war es nur diese eine Plakatwand am Bahnhof, die während meiner Abwesenheit ganz überstürzt, aber kostenlos von der Universität bestückt werden durfte. Mit ihrem Handy schoss Tina ein Beweisfoto, mit mir und Rucksack vor dem Plakat. Zwar verzog ich mein Gesicht zu einer emotional uneindeutigen Grimasse, aber eigentlich war ich stolz. Tina postete das Foto im Internet, woraufhin Sabine einen Tag später mit dem Zug angefahren kam.

Sie wies mich darauf hin, dass sie bei ihrem letzten Besuch angekündigt habe, in zwölf Jahren wiederzukommen, um nachzuschauen, ob ich endlich seriöse Filme machte. Außerdem müsse sie hier mal nach dem Rechten sehen, wie weit die mediale Ausbeutung ihrer Tochter noch getrieben werde. Eigentlich habe sie ja nichts dagegen, aber eigentlich sei es nicht korrekt, weil ich eigentlich hätte fragen müssen und eigentlich immer so getan habe, als würde ich derlei überhaupt nicht tun, und eigentlich sei es ein gutes Bild und ihre Tochter gut getroffen, aber eigentlich sei sie ziemlich ausgenutzt worden, obwohl ich eigentlich immer so getan habe, als sei ich selbst ein Opfer der Umstände, was sie eigentlich nie geglaubt habe, und außerdem habe sie den Eindruck gehabt, als wolle ich mit solchen Werbemethoden eigentlich gar nichts zu tun haben, oder sei das nur eine ideologische Tarnung gewesen? Kurz, sie wisse gar nicht, was sie dazu sagen solle.

Ihre Tochter habe ganz unumwunden geäußert: Scheiße, der Typ hat mich gefickt, jetzt kann ich mich in DER Stadt nicht mehr blicken lassen und Sabine habe geantwortet, die Tochter solle nicht immer das Wort „ficken“ für alles, was ihr nicht passe, verwenden, denn das bedeute ja eigentlich etwas anderes, etwas, was ich doch hoffentlich nicht mit ihrer Tochter gemacht hätte?

Als Sabine mir all das mit einem Lächeln an den Kopf warf, meinte ich, dass mein letzter unseriöser Film gerade in Planung sei, aber an dem Plakat könne Sabine doch zweifellos erkennen, wie professionell ich arbeite. Ansonsten lohne es sich eigentlich nicht, meine Schuld zu leugnen, mich rauszureden oder etwas zu erklären. Trotzdem könne ich es ja mal versuchen.

E N D E


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Medialismus, Roman: 44. Kapitel

Ralf SchusterDer Schock, den Jeanette XYZ Martin und mir beschert hatte, verdarb mir für lange Zeit die Freude am Internet, auch wenn die Geschichte glimpflich ausging. Ich konsultierte einen Anwalt, der uns bestätigte, was wir schon vermutet hatten: Dass Jeanette XYZ keine zwanzigtausend Euro von uns kriegen würde. Das könnte sie nur dann einfordern, wenn wir uns weigerten, die Geschichte aus dem Netz herauszunehmen. Wir weigerten uns nicht und schickten eine nette E-Mail, dass uns alles schrecklich leidtun würde. Schon war die Angelegenheit erledigt. Dachten wir. Zwei Jahre lang. Dann kam der nächste Brief. Er offenbarte, wer sich an der Misere bereicherte: Die Rechtsanwaltskanzlei. Jetzt wurden wir auf Schadenersatz verklagt, weil Jeanette XYZ über tausend Euro Rechtsanwaltskosten zahlen sollte, und dieses Geld wollte sie wiederhaben. Natürlich von uns. Letztendlich lief alles auf einen Vergleich hinaus, den mir mein Anwalt anzunehmen empfahl, da eine Gerichtsverhandlung lange dauern würde und ein Restrisiko bestehe, die Sache zu verlieren. Es sei immerhin möglich, dass der Richter das Internet nicht leiden könne und ein Exempel statuieren wolle, sagte er. Ich glaubte ihm und willigte in den Vergleich en. Letztendlich waren es nur ein paar hundert Euro, die ich zu berappen hatte, aber die verdarben mir den Spaß an den angeblich unbegrenzten Möglichkeiten des WWW gehörig.

Nach Überwindung meiner bereits erwähnten Komprimierungsprobleme hatte ich mittlerweile auch einige meiner filmischen Werke ins Netz gestellt. Da die Datenraten kontinuierlich gewachsen waren, ruckelten die Filme kaum noch, oder hatte ich mich nur daran gewöhnt? Zweifellos war die Akzeptanz für kleine Bildstörungen oder Verzögerungen gewachsen, für die allgegenwärtige Verfügbarkeit nahmen wir das in Kauf. Auch ich gewöhnte mir an, alle Fragen des Alltags ins Internet hinein zu stellen und auf Antwort zu hoffen. Von den prognostizierten Abertausenden von Abrufen meiner Werke konnte ich jedoch kaum etwas bemerken.

Mein Erlebnishorizont schränkte sich unterdessen immer weiter ein, die sogenannte wirkliche Welt war und blieb klein und überschaubar, wie die Provinzstadt selbst. Ich vermutete, dass dies nicht nur das wirkliche, sondern auch das normale Leben sei. In der teilnahmslosen Stimmung, die sich aus dieser Haltung ergab, interessierte es mich nur marginal, als die jungen Leute, zu denen ich mich nicht mehr zählte, plötzlich anfingen, mit ihren digitalen Spiegelreflexkameras zu filmen. Vorher hatten sie ihre Handys dazu missbraucht, das war aber aufgrund der miesen Auflösung unerheblich gewesen. Aber mit den filmenden digitalen Spiegelreflexkameras wurde das letzte Kapitel einer technologischen Entwicklung geschrieben, die das Ende des chemischen 35-mm-Films besiegelte. Wie mein Freund, der Kommunikationstechnologieexperte, schon festgestellt hatte, fehlte es ja nur ein bisschen an der Geschwindigkeit, mit der die Daten verarbeitet und gespeichert wurden. Als die Geschwindigkeit groß genug war, ging es los.

Karsten, der blondierte Architekturpunk, bereitete inzwischen seine Diplomarbeit vor. Während seines ganzen Studiums hatten wir häufig zusammengearbeitet. Einerseits machte er als Helfer und Darsteller bei vielen meiner Krimis mit, andererseits war er immer wieder zu mir an den Schnittplatz gekommen, um an kleinen Filmen zu arbeiten, die mit seinen architektonischen Entwurfsprojekten zu tun hatten. Meistens quälte er mich mit seinen anarchistischen Videoaufnahmen, bei denen der Autofokus sein Eigenleben entwickelte und die Lichter zu tanzen begannen. Meine Vorstellung einer stets genau definierten Schärfenebene praktizierte ich zu dem Zeitpunkt zwar nicht mehr so streng, wie ich es früher getan hatte, aber Karsten strapazierte meine Toleranz jedes Mal gehörig, wenn ich mir ansehen sollte, was er aufgenommen hatte. Manchmal kam er mit vier Stunden Material und wollte einen Film von zwei Minuten daraus schneiden. In solchen Fällen ließ ich den Filmveteranen heraushängen und erzählte davon, wie sparsam und zielgerichtet WIR damals mit dem chemischen Film gearbeitet hätten. Darauf antwortete er nur, dass er heilfroh sei, dass DIESE Zeit vorbei sei. Wenn er dann fertig geschnitten hatte, wozu er tagelang brauchte, gefiel es mir meist ganz gut.

Nun kam er mit einer dieser Spiegelreflexkameras zu mir, die angeblich in höchster Qualität filmen könne und wollte von mir wissen, was er tun solle, damit seine Aufnahmen nach Kino aussähen. Mir war nicht klar, worauf er hinauswollte, ich wusste auch nicht, was seine Kamera konnte und überhaupt empfand ich diese Fragestellung als Anmaßung, denn wenn es nur eines Schalters bedürfte, der umzulegen war, um vom kleinen Videofilm zum großen Kino zu kommen, dann würden doch vermutlich alle diesen Schalter einfach umlegen. Dass dieser Schalter in Form der filmenden digitalen Spiegelreflexkamera bereits vor mir lag, realisierte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Als er mir einige seiner Aufnahmen vorspielte, verfiel ich angesichts der für ihn typischen beliebigen Bildausschnitte und der vielen Unschärfen in meine übliche ablehnende Haltung. Mit der Arroganz des Altprofis zischte ich lediglich, es locke mich schon lange nicht mehr hinter dem Ofen hervor, wenn die Technik-Hersteller jedes Jahr eine neue Vorzugslösung vorschlügen, er solle nicht auf die Werbepropaganda reinfallen und das Unmögliche erwarten. Mit dieser Aussage aber lag ich völlig falsch, vermutlich war es das letzte Aufbäumen der alten Schule, die Angst, dass die eigene liebgewordene Vergangenheit ihre Bedeutung verliert. Durch meine film-ideologischen Scheuklappen verschlief ich um ein Haar die entscheidende technische Neuerung, die das möglich machte, was ich als unmöglich bezeichnet hatte: die digitale Überbietung der Aufnahmequalität des 35-mm-Films. Denn die digitalen Spiegelreflexkameras unterschieden sich in einem entscheidenden Punkt gegenüber den Videokameras: Ihre Bildsensoren waren größer, weil sie an Objektive und Technik der Kleinbildfotografie angelehnt waren. Für diese großen Bildsensoren aber braucht man lange Brennweiten und lange Brennweiten führen zu kleinen Tiefenschärfenbereichen. So wie z. B. bei 35-mm-Kinokameras.

Natürlich hatten die Kamerahersteller auch schon digitale Filmkameras mit großen Bildsensoren auf den Markt gebracht, aber die waren zunächst extrem teuer und die Datenverarbeitung schrecklich umständlich. Als die Spiegelreflexkamerahersteller dann plötzlich das gleiche zu einem Zehntel des Preises anboten, kam der Markt richtig in Bewegung. Innerhalb weniger Jahre etablierten sich verschiedene digitale Kameramodelle, die die Bildästhetik der Kinofilmaufnahme hinbekamen. Die billigsten von ihnen kosteten weniger als tausend Euro. Das war der Wahnsinn. Damit war das Filmemachen mehr als je zuvor keine Frage der Produktionsmittel mehr, sondern der Kreativität und des Gestaltungswillens. Zumindest bei Kurzfilmen und vorausgesetzt, man vergisst das Ladegerät nicht. Aber diese Entwicklung war mir noch nicht bewusst, als mir Karsten seine neue Kamera zeigte.

Trotzdem nahm ich seine Einladung an, mich auf einen Trip quer durch Deutschland mitzunehmen. Er hatte sich über eine Autovermietung ein eigentlich viel zu teures Cabrio besorgt und wollte nun mit meiner Hilfe ein Roadmovie drehen, einfach so, nur um das Gefühl des Unterwegsseins einzufangen. Seine Diplomarbeit sollte der Entwurf einer Autobahnraststätte werden, ein freies Thema, das er sich selbst ausgedacht hatte. Er sagte, ihm gehe es darum, sich einmal grundsätzlich mit der motorisierten Massenbewegung auseinanderzusetzen. Als es schließlich losging, schmiss ich meinen Rucksack in den Kofferraum und die Taschen für die diversen Kameras auf die lächerlich kleine Rückbank. Kaum hatte ich mich in den Ledersitz fallengelassen, wunderte ich mich, wie tief es nach unten ging und beschwerte mich sogleich beim Fahrer, dass es ihm ja vermutlich in Wahrheit gar nicht um motorisierte Massenmobilität gehe, denn die würden wir seit Kindesbeinen kennen, unsere Generation sei ja die Autogeneration schlechthin, vielmehr suche er doch nur nach einem Anlass, mit diesem coolen Sportwagen herumzufahren und sich dabei großartig zu fühlen. Klassischer Fall von künstlerisch verkappter Angeberei! Klar, antwortete er, und um die Angeberei so richtig auszukosten, quasi als Geschmacksverstärker, habe er mich als Hofberichterstatter dabei. Ob ich denn die Kamera schon bereit habe, wollte er wissen, denn bevor er den Motor starte, solle die Aufnahme laufen. Vor allem die Tonaufnahme, die Karre habe einen sensationellen Sound. Ich nahm seine digitale Spiegelreflexkamera, wechselte den Standardzoom gegen die 20-mm-Festbrennweite. Mein Lieblingsobjektiv, sagte ich und er antwortete, das sei gut, schließlich gehe es um sein Lieblingsauto. Wenn wir dann auch noch seine Lieblingsmusik unter das Video schnitten, müsse es einfach großartig werden.

Es konnte losgehen, ich startete die Kamera, Karsten den Motor und die Reise begann. Ich filmte, wie die Stadt an uns vorbeiflitzte, bis wir auf die Autobahn einbogen. Mit röhrendem Motor peitschte Karsten den Wagen auf zweihundert Sachen hoch. Wenn ich die Kamera etwas zu weit aus dem seitlichen Fenster schob, zerrte der Wind am Objektiv und die einzelnen Lastwägen, die sich auf der rechten Spur von Irgendwo nach Nirgendwo schleppten, überholten wir so schnell, als stünden sie auf dem Parkplatz. Karsten strahlte über das ganze Gesicht und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er das Lenkrad krampfhaft umklammerte. Ich wechselte das Objektiv, um Nahaufnahmen zu machen: Karsten in seiner kindlichen Freude, die zitternde Tachonadel, die angespannten Finger am Lenkrad, die Hand auf dem Schaltknüppel und allerlei andere nutzlose Details. Im Nu war der erste und einzige Akku alle. Später merkten wir, dass Karsten das Ladegerät vergessen hatte.

Den Rest der Reise filmte ich deshalb mit meiner Videokamera, die nun notgedrungen ersatzweise zum Einsatz kam. Mit der kannte ich mich aus, es gab ausreichend Akkus und ein viel besseres Mikro. Außerdem konnte ich wieder den Fachmann heraushängen lassen, was meine Stimmung deutlich verbesserte. Karsten war sowieso gutgelaunt, denn seine eigene Idee zu diesem rasanten Trip gefiel ihm ganz ausgezeichnet. Wir passten unser Verhalten dem Auto an, benutzten eifrig die Licht- und im Stadtverkehr die normale Hupe, hörten laut Musik, vor allem Lieblingsmusik, und taten, als gehöre uns die Welt.

In Weimar durchquerten wir mehrmals mit dem Auto die historische Innenstadt, dann fanden wir einen Parkplatz in Sichtweite eines Straßencafés. Das war entscheidend, denn wenn das Auto zu sehen war, konnten wir das Verdeck offen lassen. Karsten wollte, dass ich ihn beim Aussteigen filmte und dann, vor der laufenden Kamera, setzte er sich nicht an den freien Tisch, sondern neben zwei Studentinnen und quatschte sie gleich an. Als ich mit der Kamera an den Tisch trat, stellte ich fest, dass er sie schon voll eingewickelt hatte. Allerdings waren sie auch Architekturstudentinnen und wurden hellhörig, als wir von dem Projekt und der Diplomarbeit erzählten. Letztendlich quetschten sich die beiden Frauen auf die kleine Rückbank unseres schnittigen Autos und zeigten uns die Stadt. Als wir an einem Park entlangfuhren und die Sonne durch das Laub der Bäume hindurchglitzerte, erhoben sich die beiden Studentinnen auf der Rückbank, so dass ihre Haare im Wind flatterten und ich filmte sie im Gegenlicht. Das hatte sich einfach so ergeben, doch es war eine Kameraeinstellung wie in der Coca-Cola-Werbung, so beschwingt, die Studentinnen hübsch, das Wetter perfekt und das auch noch als Fahraufnahme. So gut, fast zu gut, weil es der Instant-Lebensfreude, die uns aus allen Werbespots anspringt, zu nahe kam, aber trotzdem waren die Aufnahmen grandios. Ich bedauerte, dass ich sie nicht für meinen Uni-Job benutzen konnte, denn es war ja leider die falsche Stadt.

Die Stimmung von Ausgelassenheit und Unbeschwertheit medial zu transportieren, danach lecken sich die Public-Relations-Abteilungen aller Universitäten die Finger: Wie kann man der Zielgruppe vermitteln, dass Studieren NUR Spaß macht und der Abschluss ALLES ermöglicht? Mit gingen diese Marketingaktivitäten immer wieder auf die Nerven. Wozu überhaupt, und warum hatte man mich da hineingezogen? Das sind die Auswüchse des Kapitalismus, behauptete ich, während wir mit einem Affenzahn auf der Autobahn in Richtung Eisenach fuhren, jetzt wieder zu zweit. Die Silhouette der Wartburg tauchte klein und unscheinbar in der beginnenden Abenddämmerung auf. Wir übernachteten in der Jugendherberge und stiegen am nächsten Tag hoch auf die Burg, die viel kleiner war, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich beschwerte mich erneut, diesmal über die Pflastersteine des Burghofes, weil sie so buckelig und uneben waren, dass ich mit meiner Kamera fast gestolpert wäre, als ich Karsten filmte, wie er die hügelige Landschaft des Thüringer Waldes betrachtete. Es war ein hübsches Panorama. Typisch deutsch, ging mir durch den Kopf, aber dann mussten wir weiter. Karsten wollte keine Mittelalterromantik mehr, es ging um Mobilität, Schluss mit Jugendherbergen, die Wartburg sei ja ganz schön, sagte er, aber eine glatte Themaverfehlung.

Ab sofort seien nur noch Motels und Autohöfe erlaubt, wobei wir am folgenden Abend um ein Haar in eine Schlägerei mit einem Fernfahrer verwickelt worden wären. Karsten hatte ein vorlautes Mundwerk, das bei vielen Frauen gut ankam, der Fernfahrer hingegen, den er beim Essen anquatschte, hielt ihn vermutlich für einen Schwulen. Dass ich mit der Kamera daneben saß und bereit war, jederzeit loszufilmen, machte uns dabei keine Spur vertrauenswürdiger. Gefilmt werden wollte der Fernfahrer überhaupt nicht, schon gar nicht von uns, denn er habe gesehen, mit welchem Auto wir angekommen seien, mit so ner Schwuchtelkarre, sagte er. Letztendlich scheuchte er uns mit dem Hinweis davon, dass wir ihn vermutlich gar nicht ernst nähmen, sondern es nur darauf abgesehen hätten, uns über ihn lustig zu machen. Damit lag er gar nicht so falsch.

Im Lauf der Reise rissen wir viele Witze über die grobschlächtigen Typen, denen wir an den Trucker-Gaststätten begegneten und ich fotografierte und filmte die kuriosesten LKW-Dekorationen. Schließlich gelang es uns, einen Fernfahrer zu interviewen, den Karsten mit merkwürdigen Fragen über seine Kindheitsträume quälte und dann darauf spekulierte, ihn in Schlüpfrigkeiten betreffs der Länge seines Lastwagens hineinzumanövrieren. Trotzdem machte der Fahrer einige brauchbare Aussagen. Die Stimmung, die er auf der Autobahn empfinde, sei, wie er sagte, in erster Linie eine Mischung aus Langeweile und der Einsicht, dass man die Arbeit eben machen müsse. Und der immer wiederkehrende Gedanke: Hier war ich schon mal, was hat sich verändert? Manchmal, wenn man in einer Woche mehrmals die gleiche Route fahre, könne es geradezu albtraumartig werden und man verfalle in ein zeitloses Nirgendwo, man fahre und fahre, aber es fühle sich an, als gebe es kein Ziel mehr, da sich jedes Ziel in den Start für die nächste Fahrt verwandle. Aber, und damit beendete er das Interview, man könne auch einfach nur fahren, Dudelradio hören und gar nichts denken. Er stieg in seinen Sattelzug und fuhr weiter.

Als wir ihn ein paar Minuten später überholten, zogen wir langsam an ihm vorbei, um seinen LKW in einer langen Einstellung durchs Bild gleiten zu lassen. Danach durchquerten wir das Autobahnwirrwarr des Ruhrgebiets und steuerten Hamburg an. Eine der spektakulärsten Aufnahmen gelang uns auf der riesigen Brücke im Hafen, was zweifellos an der Brücke lag. Die darauffolgende Nacht verbrachten wir bei Karstens Eltern, die in einer schier endlosen Einfamilienhaussiedlung ihren Bungalow bewohnten. Der Vater war irgendeine Art von Abteilungsleiter, die Mutter Design-Professorin und es gab auch noch eine kleine Schwester. Gehobene, finanziell gut abgefederte Wohlstandsbürgerlichkeit, zu der ich auch meinen Teil beitragen wollte, indem ich am folgenden Tag in Berlin Karsten zu einem Kaffee bei Sabine mitnahm.


Inhaltsverzeichnis

Medialismus, Roman: 43. Kapitel

Ralf SchusterTina fühlte sich im Callcenter weiterhin nicht so richtig wohl. Kein Wunder, es war ein Scheißjob, bei dem man seine Zeit absitzen musste. Zwar lernte sie immer wieder nette Kollegen und Kolleginnen kennen, die aber im Gegensatz zu Tina selten länger als ein halbes Jahr dabei blieben. Im Lauf der Jahre reduzierte Tina ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden pro Woche und gönnte sich einen entspannten Tagesablauf.

An meinem Arbeitsplatz an der Universität zeigte unterdessen der technische Fortschritt deutlich seine Wirkung, denn die Studierenden liehen sich immer weniger Geräte, da sie diese nicht mehr brauchten. Die Diskettenkameras waren schon lang weggeräumt, die erste Generation von USB-Digitalfotoapparaten hatte ebenfalls ausgedient. So etwas besaßen sie inzwischen alle selbst. Fotohandys wurden bereits benutzt, aber bevor das iPhone auf den Markt kam, galt Handyfotografie als nicht salonfähig und wurde dementsprechend vor allem für Tussen-Selfies und weniger für Architekturmodellfotografie eingesetzt. Videokameras mit Bandlaufwerk, die wegen ihrer bewährten Qualität zur Ausleihe bereit lagen, führten immer häufiger zu der Frage, ob diese Kassetten nicht altmodisch seien, das wäre doch gar nicht digital. War es schon, aber der digitale Übertragungsweg in den Computer stand bei den meisten Nutzern nicht zur Verfügung. Inzwischen konnten viele Studenten die Videos zu Hause schneiden, eine Raubkopie der Software bekamen sie manchmal sogar von mir, wenn mir das als der einfachste Weg erschien, um sie mir vom Leib zu halten. Ich hätte gar nicht mehr genug zu tun gehabt, wenn nicht gleichzeitig das Selbstverständnis der Universitäten in Richtung einer kontinuierlichen Öffnung zum Wettbewerb hin unterworfen worden wäre.

Der große Spaß, den die neuen Bundesländer dabei gehabt hatten, sich aus den Vereinigungsmilliarden überall schöne neue Universitäten hinzustellen oder ihre alten, ideologisch unbrauchbaren Institute umzukrempeln, war inzwischen vorbei. Viele dieser neuen Universitäten dümpelten lasch vor sich hin, anstatt einen Nobelpreisträger nach dem anderen auszuspucken oder als sogenannter Wachstumskern für die herbeigesehnten Hochtechnologiebranchen zu fungieren. Silicon Valley entstand weder an der Elbe oder der Spree, noch an der mecklenburgischen Seenplatte. Auch über unsere Universität und die dazugehörige Provinzstadt waren inzwischen verschiedene Wellen der Ernüchterung hinweggeschwappt. Obwohl die Landesregierung sozialdemokratisch war, fand neoliberales Gedankengut auch im Bildungsbereich Platz, sich zu entfalten. Wenn im Geldspeicher der Landesregierung gerade nichts für den Bildungsbereich übrig war, sollten doch die Universitäten selbst schauen, wie sie zu Geld und zu Studierenden kommen. Deshalb war es in den Führungsetagen der Wissenschaftseinrichtungen inzwischen angesagt, nicht mehr nur nach Weisheit und Erkenntnis zu streben, sondern auch die Werbetrommel zu rühren. Marketing-Mentalität griff immer weiter um sich und nahm mich unter ihre Fittiche.

Es fing mit einzelnen Fotos für die neue Internetseite an, dann produzierte ich einen kleinen Film, der zeigte, wie schön es doch an unserer Universität war. Im Lauf der Zeit wurden solche Aufgaben immer häufiger, bis ich als verlängerter Arm der Marketingabteilung fast nur noch damit beschäftigt war, das Image unserer Provinzinstitution aufzupolieren. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die darin bestand, alles nach Gold aussehen zu lassen. Meist sah es aber nur nach mittelmäßiger Provinzuni aus. Manchmal gelang es mir, alles schöner und wichtiger aussehen zu lassen, als es war, ohne formal von der Wahrheit abzuweichen, aber je besser das klappte, desto verlogener erschien es mir. Hier ging es nicht, wie beim Dokumentarfilm, um eine Interpretation der Wirklichkeit, sondern um ihre Erfindung. Eines meiner Lieblingsfotos war mit „Studentin am lasergesteuerten Kirschkernspaltungsreaktor“ betitelt. Der Reaktor trug in Wirklichkeit natürlich eine andere Bezeichnung, die ich mir aber von Anfang an nicht merken konnte. Der Bildunterschrift entsprechend waren auf dem Bild ein Reaktor und eine Studentin zu sehen. Aber der Realität entsprach das nicht, weil die Studentin beim Fotoshooting zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Reaktor in Berührung gekommen war. Normalerweise forschte ein bebrillter Wissenschaftler mit Halbglatze an dem Gerät und der wollte lieber nicht fotografiert werden. Ihn zu zeigen, wäre die langweilige Wirklichkeit gewesen, die keiner sehen wollte, und die zudem noch um die Information hätte ergänzt werden müssen, dass ein ähnliches Forschungsprojekt an einer anderen Universität bessere Ergebnisse geliefert hatte. Aber die Frau am Reaktor, bei der es sich um eine studentische Hilfskraft zur Praktikumsbetreuung handelte, sah sehr gut aus und trug unter dem weißen Labormantel ein enganliegendes buntes Kleid. Ihr Lächeln ging eine merkwürdige Symbiose mit den glänzenden, gewundenen Edelstahlbauteilen des Reaktors ein, die den Betrachter im Unklaren darüber ließ, ob sie das Gerät bewunderte oder sich darüber amüsierte. In Wirklichkeit hatte ich ihr einen Witz erzählt, den sie gut fand.

Ich versuchte, sie auch noch für eine andere Fotosession zu gewinnen, bei der sie auf der großen Wiese vor der Bibliothek Studenten-Sommerlaune versprühen sollte, aber dann verschob sich der Termin wegen Regenwetters und sie entschwand unverrichteter Dinge in die Semesterferien. Es gab zum Glück noch genügend andere Studentinnen, die mir das Vergnügen bereiteten, mit ihnen Fotos zu machen. Das tröstete mich erfolgreich über die Wirklichkeitsverzerrungen hinweg, die durch meine Aufnahmen induziert wurden. Na gut, sagte ich mir, der schöne Schein wird medial gestriegelt und am Glänzen gehalten, doch hat nicht schon die banalste verbale Kommunikation ihre bewussten Auslassungen und Betonungen, die dazu dienen, der Wirklichkeit die unvorteilhafte Darstellung ihrer selbst zu ersparen? So versuchte ich mich zu rechtfertigen, dabei hatte niemand nach einer Rechtfertigung gefragt. Und immer, wenn ich mit derartigen medien-ethischen Überlegungen anfing, hielt man mich für einen komischen Kauz.

Damals gab es nur das ursprüngliche Internet, noch nicht das interaktive Web 2.0, das mit seinen endlosen gegenseitigen Verweisen, seinen Posts und Likes alles in sich aufsaugte und ins schier Unendliche übersteigerte. Eine Information stand einfach nur IM NETZ. Was allerdings auch schon zuviel sein konnte, wenn es denn die falsche war. Wie zum Beispiel: „Jeanette XYZ ist gar keine Studentin, sondern eine Prostituierte.“ Dieser Satz war Teil einer Kurzgeschichte, die ich in jener Nacht begann, als mich die vermeintliche Domina aufs Glatteis lockte. Ein banaler Satz innerhalb einer gut zwanzig Seiten langen Story, wobei anstatt des Kürzels XYZ ein echter deutscher Nachnahme mit geringer Häufigkeit stand. Das war der ganze Fehler. Martin hing leider auch noch mit drin, denn er betrieb die Internetseite, er hatte den Text veröffentlicht und er stand als Verantwortlicher im Impressum. Vorher hatte er zu mir gesagt, das Internet sei größer als meine Welt, und ich lebte in meiner Provinzstadt vielleicht ganz gut, werde aber nicht entsprechend gewürdigt. Für ihn war es ein Kinderspiel, so eine Internetseite zu starten, das ging bei ihm ganz schnell und selbstverständlich sah die Website auch noch ziemlich gut aus, das war ja sein Business.

Er kannte einige Künstler, die, wie er sagte, alle unter einem notorischen Veröffentlichungsstau litten, die kontinuierlich mehr produzierten, als sie an den Mann bringen konnten, die immer noch darauf warteten, dass irgendwo aus dem Nichts heraus eine Fangemeinde entstehen könnte. Das Internet nun sei extrem dafür geeignet, nicht nur künstlerische Ergüsse hineinzustopfen, sondern auch die damit verbundenen Hoffnungen warmzuhalten, ganz zu schweigen von der risikoarmen Endlagerung für unerwiderte Kommunikationsbedürfnisse. Auf den Servern sei immer noch ein Plätzchen frei. Bevor es eng werde, entstehe das nächste Rechenzentrum, wo sich die Server stapelten und direkt daneben baue man noch ein Kraftwerk hin, das den Laden mit elektrischer Energie versorge. Irgendwo drehe sich dann eine Festplatte mit meiner Kurzgeschichte, meinte Martin, weltweit verfügbar.

Nach der großen Entmutigung, die die wirtschaftlich ambitionierten Eliten in den Siebzigerjahren zur Kenntnis nehmen mussten, als ein paar Spielverderber ihnen die Weisheit aufs Brot schmierten, dass auf einem endlichen Planeten kein unbegrenztes Wachstum möglich sei, konnten sie jetzt wieder aufatmen. Der erste Hoffnungsschimmer war die Tatsache gewesen, dass sich die regelmäßige Verdopplung der Komplexität integrierter Schaltkreise, die schon in den Sechzigerjahren im Moore’schen Gesetz prognostiziert worden war, bewahrheitete. Das war ja noch recht abstrakt und nicht unmittelbar wahrnehmbar, aber das Internet, diese Parallelwelt, die ließ sich aufpumpen bis zum Gehtnichtmehr, da hauen einem die Experten die Giga-, Tera- und Peta-Größenordnungen nur so um die Ohren, immer mit der Betonung darauf, dass das wächst und wächst wie das Bohnenkraut im Märchen. Von Aschenputtel hat es auch noch was, denn der digitale Raum ist der große Tanzsaal für alle, da erhofft sich so manche, dass der Prinz sie entdeckt. Könnte ja schließlich sein, ich schreibe ein vierzeiliges Gedicht in das Internet hinein und der Lektor des größten Verlagshauses findet es, liebt es und will es heiraten.

Aber so sei es ja doch nur im Märchen, deshalb könne man das Internet ebenso als denkbar größte Gedankenmüllkippe bezeichnen, das stehe außer Frage. Aber für ihn, Martin, sei das alles ein gutes Geschäft und damit der Müll von ein paar Perlen durchsetzt werde, betreibe er seine persönliche Kunstsammlung im virtuellen Raum. Meine Kurzgeschichten würden sowieso nur bei mir in der Schreibtischschublade herumliegen, da könne ich ihm genauso gut eine zur digitalen Veröffentlichung überlassen. Begeisterung verspürte ich keine angesichts dieses Angebotes, aber verpassen wollte ich auch nichts, geschweige denn, Martin den Spaß verderben. So kam es dann dazu, dass ich meine Kurzgeschichte zu seiner Kunstwebsite beisteuerte. Der Text war sowieso zu lang, um ihn live auf der Bühne vorzulesen. Ich hatte ihn in einem fotokopierten DIN A6-Heft veröffentlicht, wobei einige dieser Hefte tatsächlich in meiner Schreibtischschublade aufbewahrt wurden. Rückblickend muss ich sagen, dass diese Aufbewahrungsmethode deutliche Vorteile gegenüber einem Webserver hat, denn sie spart Strom und bietet wenig Angriffsfläche für Rechtsanwälte, die das legendäre Wachstum des Internets auf ihre Bankkonten zu übertragen versuchen. Das Geld wollten sie ausgerechnet bei mir holen. Aber der Reihe nach.

Gerade als ich in der Umkleidekabine eines Kaufhauses dabei war, meine Jeans auszuziehen, meldete sich mein damals noch neues Handy mit seinem nervigen Klingelton. Ich fischte es aus der Hosentasche und stand dann in Unterhose hinter dem Vorhang. Es war Martin, dem ich schon bei der Begrüßung anmerkte, dass er extrem gereizt war. Trotzdem versuchte ich mit einer freien Hand die Jeans, die ich mir zur Anprobe zurechtgelegt hatte, übers Bein zu ziehen. Martin erklärte, dass ein Brief von einer Anwaltskanzlei bei ihm eingetroffen sei, und diese hätte eine Schadenersatzforderung in Höhe von sage und schreibe zwanzigtausend Euro an ihn, wegen meiner Geschichte. Mit einem Bein in der Hose steckend, ließ ich mich auf den Hocker sinken, der in der Ecke der Umkleidekabine stand. Wie bitte?

Ja, diese Jeanette XYZ, von der es in der Kurzgeschichte heiße, dass sie keine Studentin sei, sondern Prostituierte, die habe sich gemeldet, beziehungsweise ihren Anwalt auf Martin gehetzt. Die gibt es doch gar nicht, die habe ich mir ausgedacht, antwortete ich und kam mir mit dem einen Bein in der Hose ziemlich unpassend vor, auch wenn es niemand sah. Es schien mir jedoch machbar, mit etwas Geschick auch das zweite Bein einzufädeln. Dabei quäkte mir Martins Stimme ins Ohr, dass es diese Jeanette XYZ sehr wohl gebe, aber angeblich eben nur einmal auf der ganzen Welt, und genau deshalb verklage sie uns. Verwechslung sei, wenn es diesen Namen nur ein einziges Mal gebe, völlig ausgeschlossen, deshalb stelle mein Text, egal, ob er nun fiktionaler oder dokumentarischer Natur sei, eine Verunglimpfung dar. Behaupte der Anwalt.

Und nun? stotterte ich. Er werde die Geschichte am Abend aus dem Netz nehmen, wie verlangt, und dann müssten wir mal sehen, er kenne sich mit den juristischen Hintergründen nicht aus. Endlich war es mir gelungen, die Hose hochzuziehen, so dass meine Beine bedeckt waren, aber natürlich gab es keine Chance, den Hosenknopf zu schließen, solange ich das Handy ans Ohr hielt. Ich sagte, dass ich das alles nicht verstehen könne, aber ihm in jedem Fall helfen werde, auch wenn die Anwaltskanzlei der beleidigten Jeanette XYZ den Brief nur an ihn geschickt habe. Die Mail sei schon an mich weitergeleitet, meinte Martin, da könne ich selbst lesen, was der Anwalt für einen scharfen Ton an den Tag lege. So eine Scheiße, sagte ich zur Verabschiedung, und Martin erwiderte So eine Oberscheiße, dann legte er auf. Endlich konnte ich den Knopf an der Jeans schließen, oder vielmehr konnte ich versuchen, ihn zu schließen, was aber nicht ging, da die Hose viel zu eng war. Der Spaß am Hosenkaufen war mir aber sowieso vergangen. Ich zog meine eigene wieder an und verschwand schleunigst aus dem Kaufhaus.

In der Tat lieferte Google, als ich den fraglichen Eigennamen zuhause eintippte, nur ein einziges Ergebnis, was mir nie zuvor und auch nie danach jemals wieder passiert ist. Der umstrittene Satz aus meiner Kurzgeschichte, der Jeanette XYZ als Prostituierte bezeichnete, wurde im Fettdruck angezeigt. Durchaus schockierend, dachte ich, missverständlich, aber natürlich in keinster Weise beabsichtigt. Den Namen hatte ich für die Geschichte gebraucht. Da das Ausdenken von Namen schwierig ist, nahm ich den einer Kneipenbekanntschaft, bei der ich ein oder zwei Jahre vorher während einiger trinkfreudiger Nächte knapp an der Vollstreckung des Beischlafs vorbeigeschlittert war. Ihr Name war nicht Jeanette, sondern Janet gewesen und im Nachnamen hatte ich einige Buchstaben vertauscht. Auch hatte diese Kneipenbekanntschaft, soweit mir bekannt, absolut nichts mit Prostitution zu tun.

Ihr Name war nur der Auslöser für einige Gedanken gewesen, die sich dann, Jahre später, verselbständigten, oder ergänzt wurden, dann zu Selbstbefriedigungsfantasien wuchsen und irgendwann saß ich dann mal wieder in einem dubiosen Chatroom, verirrte mich in der Virtualität, redete wundersame Obszönitäten, für die es in meinem normalen Leben keinen Platz gab, immer bis zum Anschlag direkt und je perverser, desto besser, bis es mich anödete, dieses übersexualisierte Gepose, diese Fakes und Amtsanmaßungen. Um dem zu entkommen, hatte ich an der halbfertigen Geschichte weitergeschrieben, sie in ein zusammenfantasiertes Milieu zwischen Realität und krimineller Halbwelt verlagert. Dort konnte ich mein langweiliges, monogames Angestelltendasein abstreifen und das erleben, was mich im echten Leben erschrecken würde. Es schien mir die geeignete Methode zu sein, um durch geschickte Formulierungen von meinen triebgesteuerten Fantasien so lang zu abstrahieren, bis sie nicht nur der körperlichen, sondern auch der geistigen Selbstbefriedigung zu dienen imstande waren. Glaubte ich zumindest.

Leider hatte ich jetzt den Anwalt von Jeanette XYZ am Hals, die sich da hineingezogen fühlte, obwohl sie weder etwas damit zu tun hatte, noch damit zu tun haben wollte. Vielleicht hielt sie sogar MICH für einen Zuhälter oder etwas Vergleichbares. Dabei konnte man an Martins Internetseite sofort sehen, dass es sich um Literatur, also um Kunst oder zumindest Pseudo-Kunst handelte. Unser kultureller Anspruch war aber bestimmt kein Trost für die arme Frau, die sich nun völlig unerwartet als Prostituierte verunglimpft sah. Zwanzigtausend Euro eigneten sich da schon eher dazu, ihr Genugtuung zu verschaffen, genug Geld für fast ein Jahr Leben, zwei richtig große Weltreisen oder zehn Urlaube in Mallorca. Vielleicht auch für hundert Bordellbesuche, aber das war vermutlich das letzte, was Jeanette XYZ eingefallen wäre.


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Medialismus, Roman: 42. Kapitel

Ralf SchusterDann ging Tina in ihr Zimmer und strickte, was sie gerne tat, um sich von allem zurückzuziehen. Zweifellos würde sie früh ins Bett gehen, das kannte ich und es störte mich nicht. Es war vielmehr die richtige Gelegenheit, um mich mal wieder alleine auf den Weg zu machen. Der Wein im Park hatte mich in die richtige Stimmung versetzt. Nun öffnete ich noch eine Flasche, mit der ich die Zeit zu überbrücken versuchte. Ich brachte Tina ein Glas ins Zimmer, für das sie sich bedankte, aber als ich eine Stunde später die Wohnung verließ, war ihr Glas immer noch voll und ihr Schal schon beachtlich gewachsen. Ich hatte unterdessen mit dem Schreiben einer Kurzgeschichte begonnen, von der ich noch gar nicht wusste, worauf sie hinauslaufen würde. Die Handlung sollte sich konfus und rastlos durchs Nachtleben ziehen, mit Bewusstseinsunschärfen und Identitätsverwirrungen, so ähnlich, wie ich es für den späteren Verlauf des Abends erwartete und an anderen Abenden schon erlebt hatte.

Aber die Realität begann zunächst eher banal. Es gab in der Provinzstadt nur eine Handvoll Bars, in denen ich mich sehen lassen wollte. Wenn ich allerdings genug getrunken hatte, konnte ich auch irgendwo anders landen, in der Nepp-Anmach-Tanzbar oder dem spießigen Irish Pub. An dem Abend blieb es langweilig, obwohl ich lange trank und nach der Lieblingsbar noch in eine Diskothek ging, nach der Diskothek in die Nachtbar und es standen zwar ausgesprochen gutaussehende Frauen herum, aber ich fand keinen Anlass, eine von ihnen anzusprechen. Stattdessen machte ich Smalltalk mit einem Musiker, der mir unnötig viele Details aus seinem neuen Heimstudio erzählte, was da so alles gehe, was er sich alles zugelegt habe, was er alles vorhabe und wie toll das werden würde. Und dann ein Student, der anfragte, wann ich bei der Arbeit freie Termine für ihn hätte, was ich in meiner Freizeit weder hören wollte, noch beantworten konnte. Eine andere Thekenbekanntschaft drängte mir ein Gespräch über Handyklingeltöne, Handynutzungsgewohnheiten und Handyknebelverträge auf, das nicht enden wollte, während die hübschesten anwesenden Frauen ausgerechnet mit dem anderen Filmemacher herumsaßen und ihm an den Lippen klebten. Es sah zu vertraulich aus, als dass ich mich einfach hätte dazusetzen können. So lauerte ich an der Theke und versuchte den richtigen Moment abzupassen, aber dann verabschiedeten sich die hübschen Frauen unerwartet schnell mit Küsschen und Umarmung. Als sie an mir vorbeigingen, ohne mich im Geringsten zu beachten, staunte ich, wie groß die eine war.

Der Filmemacher kam zu mir. Unsere Unterhaltung verlief stereotyp. Zunächst klärten wir, ob es wichtige Neuigkeiten aus der Filmproduktivität des jeweils anderen gab, dann lästerten wir über den dritten, nicht anwesenden lokalen Filmemacher und schließlich beschwerte sich mein Gesprächspartner über die beiden Tussis, die von ihm einen Film haben wollten, aber kein Geld hatten, um ihn zu bezahlen. Ich trug auch noch ein bisschen zur Unterhaltung bei, indem ich über meine Lebens- und Arbeitsbedingungen klagte. Vor allem über dürftige Bezahlung, Unverständnis und mangelnde Akzeptanz. Bei diesen ewigen Themen für Künstler und alle, die es werden wollen, kippten wir ein paar Schnäpse. Ich fühlte mich reif für die Diskothek, wobei ich darauf spekulierte, dort die beiden Frauen anzutreffen.

Dieser Plan ging jedoch nicht auf. Die Frauen waren in der Diskothek nicht zu entdecken. War vielleicht besser so. In die Geschäfte des Kollegen hineinzugrätschen, konnte Ärger einbringen. So blieb ich stummer Trinker und verließ meinen Beobachtungsposten mit Blick auf die Tanzfläche kaum. Nach Hause wollte ich noch lange nicht. Als die Diskothek sich leerte, ging ich in die Nachtbar, wo mir plötzlich die Trostlosigkeit des Abends allzu deutlich vor Augen stand. Der Anblick der provinziellen Nachtschwärmer, dieser traurigen Klientel, bedrückte mich. Männer mit hängenden Wangen, vernebeltem Blick und dem Verlangen nach einer rassigen Frau, die ihnen nicht nur um den Hals fallen, sondern auch auf die absurde Idee kommen sollte, sie wolle gefickt werden. Selbst wenn eine solche Frau plötzlich erschienen wäre, eine, die völlig wahllos den Erstbesten nimmt, stünden die Chancen immer noch schlecht, da sieben Männer anwesend waren. Und die Thekenschlampe, die mich freundlich um das letzte Geldscheinchen brachte, das ich noch in meinem Portemonnaie hatte.

Derart emotional untersättigt, setzte ich mich schließlich zuhause an den Computer, der seit Kurzem mit Hilfe des eingebauten Modems internetfähig war. Irgendwann hatte ich aufgeschnappt, dass es kostenlose Erotik-Chatrooms gab und nun war die Zeit reif, mich um ein virtuelles Gespräch mit Nadine-will oder monique21 zu bemühen. In der Tat klappte das sogar, obwohl auch im Chatroom ein ernüchterndes Zahlenverhältnis zwischen weiblichen und männlichen Teilnehmern existierte. Vielleicht gab es ja ein paar digitale Dummies oder Hostessen, die bezahlt wurden, um zu verhindern, dass die Frauenquote auf null absank. Ganz abgesehen davon war sowohl die sexuelle als auch die sonstige Identität meiner Chat-Partnerinnen völlig unklar. Einige Frauen hatten tolle, sexy Bilder von sich im Profil veröffentlicht, aber von denen reagierte keine auf meine Anfragen, und manche von denen, die mir antworteten, blieben darin verfangen, immer nur ein einzelnes Wort zu schreiben, bevorzugt NEIN, aber schließlich verhedderte ich mich dann doch mit einer in einen variationsreichen Dialog über die Möglichkeiten, unter und auf dem Tisch zu kopulieren und welche Varianten der Fesselung dabei angebracht seien. Praktische Erfahrungen fehlten mir zu diesem Themenkomplex völlig, was mich aber nicht daran hinderte, so zu tun, als könne ich kompetent mitreden. Schließlich ist so ein Tisch ein übersichtliches und leicht vorzustellendes Objekt und meine Chatpartnerin spornte mich mit Anregungen oder der schlichten Bestätigung, dass sie meine Ausführungen geil finde, immer wieder an. Trotzdem war sie ganz plötzlich verschwunden. Vielleicht doch ein Mann, der nach der Ejakulation die fragwürdige Lust, sich als unterwürfige Mitvierzigerin auszugeben, schlagartig verloren hatte?

Solange man nicht abgespritzt hat, erscheinen einem die merkwürdigsten Dinge auf irritierende Weise wahnsinnig verlockend, so wie mein Vertrauen zu einer Person, die sich hinter dem Decknamen Dorfdomina verbarg und mich ganz schnell einwickelte. Es stellte sich heraus, dass Dorfdomina gerade mal 30 km entfernt von meinem Provinzstädtchen ihrer Leidenschaft nachging, oder vielmehr nachzugehen versuchte, aber mangels ausreichend spritzwilliger Schwänze gar nicht ausgelastet sei und sich nun allzu oft langweile. Obwohl sie es aus reiner Leidenschaft mache, betonte sie, sie sei keineswegs scharf darauf, sich von mir bezahlen zu lassen. Inzwischen hatte ich zuhause auch noch eine halbe Flasche Wein geleert, was meine kognitiven Fähigkeiten bereits sehr einschränkte. Aber den Fahrplan fand ich und konnte ihn sogar lesen. In einer Viertelstunde würde der erste Zug des Tages in die fragliche Kleinstadt abgehen. Als mir Dorfdomina ihre Adresse mitteilte und hinzufügte, dass sie inzwischen ja das Studio aufräumen könne, regte sich kein Misstrauen, sondern vielmehr die Lust auf Abenteuer und fremde, mir bisher verschlossen gebliebene Welten.

Auf dem Weg zum Bahnhof holte ich mir Geld aus dem Automaten, sicherheitshalber nicht zu viel. Dann bestieg ich im zarten Morgengrauen den Bummelzug. Ich nahm die Nebelfetzen über den feuchten Wiesen gerade noch zur Kenntnis. Der Ausblick aus dem rumpelnden Zug hätte sehr romantisch sein können, wenn ich nicht sofort eingeschlafen wäre. Immerhin lieferte mir mein nur noch partiell arbeitendes Gehirn ab und zu den Impuls, aufzuwachen und zum Fenster herauszuschauen, ob ich schon angekommen sei. Allerdings im falschen Moment. Die richtige Haltestelle verschlief ich, aber die Kleinstadt, in der die Domina ihrer verlockenden Tätigkeit nachging, hatte noch eine zweite Haltestelle, weit außerhalb, am ehemaligen Kombinat. Dort wachte ich auf, als der Zug schon stand und rannte auf Strümpfen panisch nach draußen. Die Schuhe hatte ich ausgezogen, um die Füße auf die Sitze zu legen. Nun trug ich sie glücklicherweise in der Hand. Meine Mütze fehlte, entweder hatte ich sie überhaupt nicht mitgenommen oder sie war im Zug geblieben. Die Domina würde mich für diese Schlamperei hoffentlich ausgiebig bestrafen.

Aber bis zu ihr war es, wie sich herausstellte, fast eine halbe Stunde Fußweg. Die Sonne kroch über den Horizont und mein sexuelles Verlangen schwand dahin. Zum Glück, denn die Adresse, die man mir genannt hatte, existierte nicht, ich fand keine Hausnummer 93 am Marktplatz. Dass ich bei Schmitt mit Doppel-T hätte klingeln sollen, erhärtete die Vermutung, zu gutgläubig gewesen zu sein, naiv, blauäugig, zum Deppen hatte ich mich machen lassen, zum Volldeppen. Derlei Selbstbezichtigungen kreisten in meinem Kopf, als ich mir gegen halb sieben bei einem Bäcker ein Brötchen holte. Immerhin war das Brötchen ein wirklich gutes, noch warmes Bäckerbrötchen, das mich fast mit der Welt versöhnte. Kaum eine Minute vom Marktplatz entfernt lag der Bahnhof, den ich bei der Hinfahrt verschlafen hatte. Der Zug zurück in die Stadt fuhr vor meiner Nase davon, weshalb ich es mir auf einer Wiese mit hohem Gras bequem machte und wieder einschlief. Ich freute mich über das freundliche Wetter und die sanften Strahlen der Vormittagssonne. Als es mir schließlich zu warm wurde, waren einige Stunden vergangen und bereits zwei Züge in die Stadt gefahren. Ich holte mir noch ein Brötchen und einen Kaffee, dann trat ich den Heimweg an.

Tina war verwirrt, aber nicht beunruhigt über mein Ausbleiben und glaubte mir eine wilde Geschichte, in der ich behauptete, dass der Filmemacher mich von der Kneipe in sein Studio mitgenommen habe, um mir die neueste Schnittsoftware zu zeigen und dann seien wir auf die Idee gekommen, eine achtteilige amerikanische Underground-Serie auf DVD zu schauen, und zwar komplett. Tina staunte, schien aber keinen Verdacht zu schöpfen. Ich fiel ins Bett und schlief bis zum Abend.


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Medialismus, Roman: 41. Kapitel

Ralf SchusterEiner der Gründe, weshalb Tina zu mir in die Provinzstadt gezogen war, bestand darin, dass sie auf offener Straße eine Plakatwerbung gesehen hatte, auf der nach Arbeitskräften gesucht wurde und zwar von einer Firma, die offensichtlich direkt hinter dem Plakat in einem frisch renovierten Fabrikgebäude untergebracht war. Sie gab zu, dass sie es für aussichtslos hielt, sich solange zu bewerben, bis irgendwo in der großen Bundesrepublik genau das Arbeitsplätzchen für eine Kunstgeschichtlerin mit wenig ausgeprägtem Selbstvertrauen gefunden worden wäre, das auf ihre Qualifikationen zugeschnitten war und höchstwahrscheinlich wäre es dann in einer fremden Stadt, in der sie nicht wohnen wollen würde. Stattdessen erlag sie der Faszination, dass jemand genau dort Arbeitskräfte suchte, wo sie gerade spazieren ging. Da sie es am Telefon des Autovermieters schon so lange ausgehalten hatte, glaubte sie, es könne in einem Callcenter auch nicht schlimmer sein. Es war einer der Arbeitsplätze, der durch die zunehmende Digitalisierung und den Ausbau der Kommunikationsnetze entstanden war. Nur ein Gelegenheitsjob, der sich zur Überbrückung anbot, aber Tina hatte leider keine richtige Vorstellung, wohin sie überbrücken sollte. Trotzdem ging es uns ausgesprochen gut, vor allem im Sommer. Wir wohnten in meiner sonnigen Vierzimmerwohnung mit Aussicht auf den Park, Freunde winkten uns von unten zu und wir gingen runter, um mit ihnen auf der Wiese am Springbrunnen eine Flasche Wein zu trinken.

An einem Samstag, an dem Tina zur Wochenendschicht eingeteilt war, erkannte ich den Kommunikationstechnologieexperten, der mit einer uneinheitlich aussehenden Gruppe von jungen Leuten Boule spielte. Wie sich herausstellte, waren zwei von ihnen Informatikstudenten, einer langhaarig mit durchlöcherter Jeans, der andere jung und so brav aussehend, als hätte ihn Mutti vor dem Verlassen des Hauses noch mal gekämmt und ein Butterbrot zugesteckt. Dann gab es noch eine junge Frau, die mit ihrem Kurzhaarschnitt von weitem wie ein Mann wirkte und die neue Kollegin des Kommunikationstechnologieexperten war. Sie habe ja schon von mir gehört, sagte sie bei der Begrüßung, ob ich der mit den Komprimierungsproblemen sei. Was hatte man da schon wieder von mir erzählt, fragte ich mich, aber in der Tat drehten sich die Gespräche, die ich mit dem Kommunikationstechnologieexperten führte, oft um die Frage, wie es die anderen schafften, ihre Videos im Internet in bester Qualität laufen zu lassen, während alle meine bisherigen Versuche schrecklich aussahen, übersät von Artefakten und Störungen, oft genug ruckelten sie, das Bild blieb stehen oder die Übertragung brach ganz ab. Ich antwortete, dass ich tatsächlich Komprimierungsprobleme habe und dazu stehen würde, außerdem liebte ich Redundanz. Bei dieser Aussage fühlte ich mich, als sei es das Bekenntnis in einer Selbsthilfegruppe. Redundanz ist cool, sagte der langhaarige Student, aber in der digitalen Welt könne man sie sich noch nicht leisten. Armselig, sagte ich, während ich mit dem Korkenzieher an der Weinflasche herumfummelte.

Wie nicht anders erwartet, widersprach die androgyne Kollegin. Komprimierung sei ökonomisch, sagte sie und deutete auf die Boule-Kugeln. Meine Kugel lag gerade in der besten Position. Wenn ich beschrieben habe, wo alle diese Kugeln liegen und ich werfe eine dazu – was sie auch machte, wobei ihre Kugel knapp an meiner vorbei kullerte und weit hinten landete -, dann brauche ich doch zur Darstellung des Endzustandes nicht noch mal die Position aller Kugeln zu beschreiben, es genüge die Feststellung, dass eine Kugel dazugekommen sei, deren Position ich angeben könne. Dann habe ich alle Information, die ich brauche. Mit lautem Plopp zog ich den Korken aus der Flasche. Ob das nicht unnötig kompliziert sei, fragte ich, aber der brav aussehende Student musste auch noch seinen Senf dazugeben: Es wäre noch ökonomischer, den Endstand der Kugeln zu notieren und den kompletten Spielverlauf daraus rückwärts zu beschreiben. Damit arbeiteten die effektiven Komprimierungsmethoden, die einzelne Bilder des Filmes durch ihre Veränderung zu nachfolgenden Bildern beschrieben. Das sei eine durchaus elegante Methode. Vorher werde aber natürlich geprüft, welche Beschreibung einfacher sei, die von vorne oder die von hinten. Mir war noch gar nicht klar, was das bedeutete, es kam mir aber sehr geheimnisvoll vor.

Das klingt nach Zeitreise, meinte die androgyne Kollegin versöhnlich, ist es aber nicht, denn im Computer sei es kein Problem, die Daten von mehreren Bildern gleichzeitig im Arbeitsspeicher liegen zu haben, die alle zugänglich sind und nicht, wie bei einer Filmrolle, immer nur einzeln erfasst und dann vergessen werden. Die analoge Technik sei doch extrem grobschlächtig und unflexibel, total auf das JETZT fixiert. Wenn der Film aus dem Internet komme, so müsse der Rechner nur einen Pufferspeicher füllen, um die zehn, zwanzig oder hundert Bilder, die für die Decodierung nötig seien, vorliegen zu haben, eventuell seien das vier Sekunden, eine Zeitverzögerung, die aber niemandem weh tue. Vier Sekunden tun niemandem weh? fragte ich ungläubig. Mir schon, ich leide unter jedem der 25 Bilder pro Sekunde, das nicht rechtzeitig erscheine. So sei das nicht gemeint, beschwichtigte mich die androgyne Kollegin, es gebe nur eine einzige Verzögerung, nämlich die, wenn der Film starte und danach … Ich schmiss erst mal meine Kugel und knallte gleich zwei gegnerische davon, was mir aber nichts nützte, da meine eigene am allerweitesten ins Abseits geriet. Trotzdem gab ich mich nicht geschlagen. Diese schamlose Sympathie, die meine Boulepartner der Komprimierung entgegenbrachten, passte mir gar nicht.

Es sei ja, fuhr ich fort, herumzukritisieren, nicht nur eine Frage der Eleganz, sondern auch der Sicherheit. Damals, bei den S-VHS-Kassetten, da habe eine kleine Störung auf dem Magnetband, wie sie durch ein Staubkorn verursacht werden könne, dafür gesorgt, dass eine einzelne Zeile eines Videobildes zerstört wurde, dies konnte durch die Verdopplung der benachbarten Zeile aber wieder repariert werden. Bei den DV-Bändern, die ja viel kleiner seien, führten aber ähnliche Störungen auf dem Band dazu, dass gleich ein ganzes Bild unbrauchbar werde, komplett. Aber bei diesen höheren Komprimierungsmethoden, die von einem Bild zum anderen arbeiteten, da könne ein ebenso kleiner Fehler mehr als eine Sekunde des Materials vernichten, weil sich der Fehler fortpflanze, durch die Bilder hindurchziehe, und das sei sehr bedrohlich, eine heimtückische Gefahr. Wenn man Videobilder als Gefahr sehen will, dann ja, meinte schnippisch die androgyne Assistentin und verkannte offenbar den Ernst, mit dem ich die Angelegenheit sah. Trotzdem gelang es mir nicht, ihre gut platzierte Boulekugel weg zu schießen.

Stattdessen quälte sie mich auch noch mit ihren Weisheiten über Fehlerkorrekturverfahren. Denn Fehler gebe es ja überall, auch in der Digitaltechnik. Es sei bei weitem nicht so, dass die Eins von der Null immer zweifelsfrei unterschieden werden könne, aber in allen Speichersystemen gebe es Korrekturverfahren, die einzelne Fehler komplett wegbügelten, doch wehe, wenn die Anzahl der Fehler einen kritischen Wert überschreite, dann breche der Leseprozess auf dem Datenspeicher zusammen, und mit etwas Pech sei alles weg, dann stecke die CD, die DVD oder die Kassette im Laufwerk und der Bildschirm bleibe schwarz oder blau oder zeige eine Fehlermeldung, je nach Gerät. Unterhalb der kritischen Fehlerhäufigkeit sehe man gar keine Störungen, oberhalb des kritischen Wertes sinke aber der Informationsgehalt schlagartig auf null, sagte mein Freund, der Kommunikationstechnologieexperte. Das beunruhigte mich sehr. Würden meine digitalen Magnetbänder in einigen Jahren plötzlich unbrauchbar werden und die Filme verschwinden? Ja, das könne durchaus der Fall sein, meinte die androgyne Kollegin und alle anderen Informatik-Experten nickten zustimmend. Der Erdmagnetismus und die Selbstmagnetisierung seien schuld.

Man hatte mich also gewarnt. In den folgenden Jahren hätte ich mich dringend mal darum kümmern müssen, die Daten von den Magnetbändern auf ein anderes Medium zu transferieren. Aber wenn ich mir die alten Bänder anschaute, merkte ich, dass die Erinnerung schöner war, als die Filme. Das nahm mir die Motivation, mich darum zu kümmern und ich schob die Aufgabe Jahr für Jahr vor mir her. Ursprünglich, als ich begann, mit digitalem Video zu arbeiten, hatte ich mir viele Gedanken gemacht und fühlte mich sicher dabei, die fertigen filmischen Werke auf die Magnetbandkassetten zu speichern. Das war die Lösung mit der geringsten Komprimierung, was angeblich eine gute Voraussetzung sei, um die Filme noch mal weiterzuverarbeiten oder neu zu schneiden. Allerdings machte ich das dann doch nie. Stattdessen lagen die Magnetbänder nur rum, und ihre Langzeithaltbarkeit beim Rumliegen war vergleichbar schlecht. Später wollte ich sie einfach nur abspielen, das war das einzige, was ich wollte und dieses einfache Abspielen, das ging dann nach weiteren zehn oder fünfzehn Jahren bei der einen oder anderen Kassette nicht mehr. Es war so, wie es mir die Fachleute im Park vorhergesagt hatten: ganz oder gar nicht. Trotzdem blieben die wichtigsten Filme erhalten, weil von ihnen Kopien, Internetversionen, Dateien oder zusätzliche DVDs vorhanden waren. So hatten sich einige unwichtige Filme von alleine verabschiedet. Nicht nur die Daten wurden komprimiert, sondern auch mein Archiv.

Die chemischen Filme verschwanden allerdings nicht. Die Filmdosen im Regal sahen sehr dekorativ aus, während der Projektor längst den Geist aufgegeben hatte. Was die Langzeitarchivierung meines Lebenswerkes anging, waren das schlechte Aussichten und der Kommunikationstechnologieexperte ein schlechter Boulespieler. Auch ihm gelang es nicht, die Kugeln unserer Gegner wegzuschießen. Wir verloren haushoch und es wurde noch schlimmer, als Tina von der Arbeit kam. Sie sah uns von weitem und ging daraufhin gar nicht ins Haus hinein, sondern zu uns, um meine Mannschaft zu verstärken. Sie wirkte ziemlich fahrig, schmiss die Kugeln ohne Optimismus, aber mit zynischen Kommentaren. Die anderen sollten acht auf ihre Eier geben, war ihre beliebteste Redewendung beim Werfen. Wenn es ihr gelang, jemanden von der Spitzenposition zu verdrängen, sagte sie: Schluss mit der Erektion! Meistens scheiterten ihre Attacken und häufig endete es damit, dass sie selbst in letzter Sekunde rausgekickt wurde. Schließlich verabschiedete sich die Informatik-Clique.

Wir gingen in die Wohnung und Tina saß wieder mal so verknotet auf dem Küchenstuhl, wie ich es von ganz früher kannte. Beide Beine auf der Sitzfläche, dazu hatte sie einen großen Schlabberpullover übergestreift, unter dem sie eines ihrer angewinkelten Beine verstaute. In der Wochenendschicht gebe es immer viele obszöne Anrufe, sagte sie schließlich, damit habe sie heute Pech gehabt. Dumme Wichser, die in der Hotline des Bestellservices plötzlich anfingen, von ihrem Schwanz zu erzählen, oder sie anmachten und fragten, wie sie ihre Möse stopfe. Das sei unangenehmer, als sie zugeben wolle, obwohl man die Leute wegdrücken könne, aber manchmal kämen die dann wieder, nochmal in die gleiche Leitung, speziell am Wochenende seien ja gar nicht so viele Mitarbeiter da und dann quatschten diese Menschen so eine unschuldige Telefonistin mit ihren Wichsfantasien voll, sie müsse gleich kotzen, wenn sie zu viel darüber erzähle oder sich einfach nur daran erinnere. Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte. Es wunderte mich, dass Tina so mitgenommen war, da ich sie robuster eingeschätzt hatte. Einige Kolleginnen drückten dann einfach das Headset-Mikrofon in die Ohrmuschel, erklärte sie, das ergebe sofort eine entsetzlich pfeifende Rückkopplung, die gut sei, um die Wichser zu vertreiben, oder auch, um sich eine Genugtuung zu verschaffen. Sie selbst empfinde das Piepen als zu nervig. Außerdem sei es gar nicht das Problem, die Typen aus der Leitung zu schmeißen, sondern die Tatsache, dass sie sich mit ihren Selbstbefriedigungsgedanken nicht zurückhalten könnten, das mache sie fertig, das sei etwas, was ihr überhaupt nicht in den Kopf gehe. Der Tag sei ihr leider völlig verdorben.


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Medialismus, Roman: 40. Kapitel

Ralf SchusterIm falschen Film hatte ich einen schnauzbärtigen Kommissar gespielt, weil alles UNPASSEND sein sollte. Inzwischen hatte sich so vieles geändert. Deshalb war ich der Meinung, dass es nun PASSTE. Den Anspruch, mit jedem Film ein zeitloses ideologisch-ästhetisches Denkmal zu setzen, hatte ich nie einlösen können. Je länger ich mich mit dem Filmemachen beschäftigte, desto mehr wurde mir bewusst, was mir alles missglückt war. Manche meiner eigenen, aber auch viele Werke der anderen unabhängigen jungen Filmemacher gingen mir in ihrer Bedeutungsschwere inzwischen auf die Nerven. Als Konsequenz versuchte ich nun, wieder in der Provinz, einfache Geschichten mit Unterhaltungswert zu erzählen. Aber das Wertesystem, das meinen Geschichten zu Grunde lag, sollte nicht so spießig sein wie beim Konsensfernsehen, oder gar in den Hollywoodproduktionen mit ihren standardisierten Gut-Böse-Unterscheidungen und ihrem Wer-will-der-kann-Optimismus. Ansonsten realisierte ich meine Filme jetzt möglichst einfach, da ich keine Ambition verspürte, die teure Ästhetik des professionellen Films aufwändig nachzuahmen, ohne dafür wirklich ein Budget zur Verfügung zu haben. Immerhin musste ich mich an meinem Arbeitsplatz erst vierzig Stunden die Woche um die Probleme der Universität und der Studenten kümmern, bevor ich an meinen eigenen Werken arbeiten konnte. Es gab im Videolabor die gleiche Kamera, wie wir sie bei der digitalen Spielfilmproduktion verwendet hatten, dazu Stative, Mikros und Tonangel, kleine und große Lampen. Im Lauf der Jahre kaufte ich von den offiziellen Mitteln, die mir von Seiten der Universität zur Verfügung standen, einiges dazu.

Ständig kamen neue Kameramodelle auf den Markt, aber weiterhin waren die meisten mit Magnetbandkassettenlaufwerk ausgestattet. Als digitalen Schnittplatz brauchte man einen Computer, der eine bestimmte Rechenleistung haben musste, um 25 Bilder pro Sekunde liefern zu können. Zunächst schafften das nur solche Rechner, die in jeder Hinsicht optimiert waren, nach ein paar Jahren genügte, was als einfaches Modell galt, und noch später war jeder billige Laptop gut genug. Entscheidend war nur, dass er den passenden Anschluss hatte, der den aufregenden Namen FireWire trug. Mit FireWire konnte man die Videoaufzeichnung verlustfrei von den Magnetbandkassetten in den Computer holen. Wenn der Film fertig war, wurde er wiederum digital auf die Kassette ausgespielt. In Deutschland war es damals aufgrund merkwürdiger zollrechtlicher Bestimmungen verboten, Kameras mit der kompletten Funktionalität eines Videorekorders einzuführen, das heißt, ein fertiges Video, das durch FireWire vom Computer zur Kamera zurückgeliefert wurde, konnte von dieser nicht auf das Magnetband aufgezeichnet werden. Ein paar Jahre später wurde diese pingelige Unterscheidung zwischen Kamera und Videorekorder aufgehoben. Die Funktionen der Geräte verschwammen immer mehr.

Mich hatte es sowieso nicht gestört, weil ich zum Aufzeichnen den Videowalkman benutzte, ein hübsches kleines Gerät mit aufklappbarem Bildschirm. Obwohl ich es ihnen mit meinen technokratischen Argumenten stets madig zu machen versuchte, bevorzugten die meisten anderen Menschen aber Medien, die direkt auf dem Computer abgespielt werden konnten, also Video-Dateien oder DVDs. Die Magnetbandkassetten hatten, was die Datenkomprimierung und den Qualitätsverlust beim Kopieren von Kopien anging, diverse Vorteile. Da ich inzwischen aber weitgehend von der schwerfälligen und spezialisierten Analogtechnik befreit war, musste ich mir zusätzliche technische Extravaganzen leisten, um weiter als Spezialist gelten zu dürfen. Zur Not langten Fachbegriffe und Videowalkman. Beim Filmen diente er als Kontrollmonitor, nach dem Schnitt benutzte ich ihn zum Ausspielen auf das Band und bei der Vorführung schließlich als Abspielgerät. Im Lauf der Jahre entstanden so etliche Filme, die alle auf den kleinen Magnetbandkassetten landeten und im Archivierungsregal wuchs die Reihe meiner Master-Tapes beträchtlich.

Während ich einen Film fertigschnitt, schrieb ich meist schon am Drehbuch für den nächsten. Als schnauzbärtiger Kommissar ermittelte ich gegen eitle Regisseure, Filmfestivalfanatiker oder Pressesprecher, also gegen alle, die mir nicht in den Kram passten. Wenn möglich, wurden Gummienten in die Handlung integriert oder als Requisite im Bildhintergrund platziert. Es gab einerseits genügend Studenten, die mithelfen wollten, andererseits ist es ein Vorteil aller Provinzstädte, dass man früher oder später mit den Leute zusammenkommt, deren Interessen zu den eigenen passen. So machte der Kommunikationstechnologieexperte bei mehreren Filmen den Ton, aber auch als Leiche musste er herhalten. Es gab noch zwei andere Filmemacher in der Stadt, ein paar Schauspieler ohne Engagement, Musiker, Schreiberlinge, alle jeweils vereinzelt, nicht im Überfluss wie in der Großstadt und deshalb auch nicht so von der eigenen Wichtigkeit besessen. Solange meine Filme zügig und ohne Stress abgedreht wurden, fand sich immer jemand, der Lust hatte, mitzuarbeiten. Das war gut. Meine Tina machte Kamera, wobei wir uns bei den ersten Filmen darauf beschränkten, jede Szene entweder als feststehende Totale oder als bewegte Handkamera in einem Take zu drehen. Also Tableau oder Gefuchtel. Unschärfen gab es kaum, weil wir möglichst weitwinklig drehten. Wenn ein Mikrofon im Bild sichtbar war, störte uns das nicht. Das ersparte viele Komplikationen bei den Dreharbeiten. Ich hatte sowieso genug damit zu tun, mich auf meine komplizierten Texte zu konzentrieren.

Irgendwann während meines zweiten oder dritten Jahres als Universitätsangestellter zog Tina zu mir in die Provinz. Ihre Masterarbeit über kunstgeschichtliche Zusammenhänge zwischen Bauhaus und Hausbau hatte sie trotz vieler innerer Widerstände fertiggeschrieben. Ihre Bewerbungsaktivitäten aber, die sie zur Erlangung eines ihrer Qualifikation entsprechenden Jobs entfaltete, blieben lust- und erfolglos. Inzwischen hatte ich mir eine große, billige Wohnung besorgt. Tina war immer häufiger am Wochenende zu mir gekommen. Ich selbst verlor allmählich den Draht zu meinen vermeintlich wichtigen Berliner Kontakten, den Kneipen und Kulturinstitutionen, den Poetry Slams, den Lesebühnen und Off-Filmvorführstätten.

An einem der letzten Wochenenden in Tinas Berliner Wohnung rief unerwartet Marianne an. Sie teilte mir mit, dass sie nun endlich fest in Berlin wohne, die Adresse brauche ich aber gar nicht wissen, es reiche ja, dass sie mir ihre E-Mail-Adresse gebe, das sei sowieso viel universeller, ortsunabhängig und zeitlos. Sie habe keinen Festnetzanschluss mehr, nur ein Prepaid-Handy. Einen Teil ihrer geschäftlichen Aktivitäten wickle sie inzwischen nun doch aus verschiedenen Gründen, wobei Achim der triftigste davon sei, unter einem anderen Namen ab. Vor kurzem habe er sie nochmals auf offener Straße beschimpft, deshalb sei es ihr wichtig, dass er ihre neue Adresse nicht erfahre. Trotzdem sei die Angelegenheit weitgehend ausgestanden, Achim habe zwar ursprünglich eine Anwaltskanzlei damit beauftragt, gegen sie und das Theaterstück vorzugehen, doch dieser sei ein Formfehler unterlaufen, woraufhin die Klage nicht angenommen wurde. So wie es aussehe, reiche Achims Kraft nur noch für ein paar Kraftausdrücke, wenn er sie durch Zufall auf der Straße treffe, aber nicht mehr für weitere juristische Schritte. Dann verabschiedete Marianne sich überraschend und legte auf. Ich konnte ihr gar nicht mehr sagen, dass die Telefonnummer, die sie gewählt hatte, mitsamt der zugehörigen Adresse schon fast der Vergangenheit angehörte. Ihre E-Mail-Adresse gab mir zwar die Möglichkeit, ihr so viele Informationen zukommen zu lassen, wie ich wollte, doch ich wollte gar nicht. Ich hätte sie gerne mal wieder persönlich getroffen, oder, besser noch, mit ihr zusammengearbeitet, aber das Leben hatte sich inzwischen so entwickelt, dass das nicht zur Debatte stand. Und so erwartete ich vor ihr auch keinen nennenswerten Einfluss mehr auf den weiteren Verlauf meiner Aktivitäten.


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Medialismus, Roman: 39. Kapitel

Ralf SchusterZwei Wochen später besuchte mich Tina am Wochenende in der Provinzstadt und wir drehten im Wohngemeinschaftshaus mit der Diskettenkamera alle Szenen mit den Frauen. Die Darstellerinnen hatten sich übertrieben hübsch gemacht und sollten sich auch dementsprechend verhalten. Vor allem dekadent herumliegen, sich schminken, tanzen und gegenseitig anzicken. Meine hübsche Tina hatte sich vorher die Haare schwarz gefärbt und im Second Hand ein orangefarbenes, enges Kleid besorgt, mit dem sie den goldenen Minirock der blonden Architekturstudentin nicht unbedingt übertraf, aber gut mithalten konnte.

Die dritte im Bunde kam aus Polen, sprach mit einem hilflos wirkenden Akzent und war mit ihrer roten Lockenmähne für Gegenlichtaufnahmen prädestiniert. Von ihr stammte auch das polnische Drink-Geheimrezept, aber die blonde Architekturstudentin hatte es modifiziert und darüber stritten die beiden so lang, bis wir das irgendwann in die Handlung integrierten. Den Streit und die Drinks. Die Dreharbeiten und das feuchtfröhliche Beisammensein gingen nahtlos ineineinander über und alle waren bester Laune.

In diesem Zusammenhang ließ sich Tina zu der unerwarteten Aussage hinreißen, meine Lebensbedingungen in der Provinzstadt seien ja offensichtlich angenehmer als ihre in Berlin. Gleichzeitig behauptete sie, dort motiviert an ihrer Masterarbeit herumzuschreiben. Aber je mehr Zeit verging, desto deutlicher beschlich mich das Gefühl, dass sie das nur vortäuschte. Außerdem ging sie sehr lustlos einem Studentenjob nach. Bei einer Autovermietung nahm sie die Vorbestellungen entgegen und bekam dafür ein ordentliches Gehalt. Weil es nur ein paar Stunden pro Woche waren, langte das trotzdem nicht zum Leben. Nun musste sie die leidige Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, wenn das Konto immer leer ist. Manche Menschen stört das nicht, mich schon. Ich empfand es als schicksalhaft, dass Tina exakt zu dem Zeitpunkt in die finanzielle Unterversorgung hineinrutschte, als ich den sehr angenehmen Zustand erreicht hatte, mich auf den monatlichen Zahltag verlassen zu können. Als Gegenleistung für mein Wochenendwohnrecht übernahm ich einen Teil ihrer Miete. Abgesehen davon wollte sie keine Hilfe von mir. Ich hatte offenbar genau rechtzeitig die Unwägbarkeiten der Tagelöhnerei gegen die Vorhersehbarkeit eines bescheidenen Gehaltes im Öffentlichen Dienst eingetauscht.

Film- und Fototechnik gab es noch dazu und davon machte ich ausgiebig Gebrauch, der Diskettenkamerafilm war nur der Anfang. Um ihn zu Ende zu drehen, verbrachten Tina und ich gemeinsam mit einigen Studenten oder Studentinnen aus der Wohngemeinschaftshaus-Clique viele schöne Tage des Frühsommers. Wir suchten Locations, die am besten zu unseren gutaussehenden männlichen Darstellern passen würden. Ausflüge in die nähere Umgebung der Provinzstadt, um leerstehende Industriegebäude, Tagebaulandschaften oder verlassene Militäranlagen zu erkunden, erwiesen sich als sehr ergiebig. Auch bei den Studenten kam das gut an, zumal sie einige Geheimtipps beizusteuern hatten. Wir fuhren viel herum und drehten dann doch in der Stadt oder direkt am Stadtrand.

Ich setzte die jungen Männer, die möglichst imposant aussehen sollten, übertrieben elegant in Szene, aber die bescheidene Bildqualität der Diskettenkamera gab sie auf sarkastische Weise der Lächerlichkeit preis. Das Gleiche galt für die Frauen, die sich prima als Tussis gebärdeten. Letztendlich war der Film nicht mehr als eine Parallelmontage, die zwischen hyperaktiven Männern und dekadenten Frauen hin- und hersprang, bis die Männer schließlich ohne vorherige Andeutung das Zeitliche segneten. Der eine fiel vom Surfbrett ins Wasser und tauchte nicht wieder auf, dem Bodybuilder quetschte die große Hantel die Luft ab, bis er erstickte und der Autofahrer stieß mit dem Studenten zusammen, als dieser gerade sein riesiges Architekturmodell über die Straße trug. Die Frauen beklagten zur gleichen Zeit, ohne von den Zwischenfällen zu wissen, unter schrecklicher Langeweile zu leiden. Dann war der Film zu Ende. Ich gab ihm den tiefgründigen Titel „Zwischen Mann und Frau liegt der Rest der Welt“.

Als ich den Film fertig hatte, war gerade die nächste Party im Wohngemeinschaftshaus in Vorbereitung. Sie sollte wieder über mehrere Stockwerke gehen und man hatte, ohne mich zu fragen, bereits beschlossen, dass die Filmpremiere im Gemeinschaftsraum stattfinden sollte. Die Liegewiese hatte sich mittlerweile in eine Matratzenlandschaft verwandelt, die den ganzen Raum einnahm. Am Anfang des Abends lief der Film fast ununterbrochen, da immer wieder neue Gäste eintrafen. Ich selbst lag auf einer Matratze direkt vor der Leinwand, neben mir der Laptop. Als ich den Film starten wollte, merkte ich, dass die Zuschauer zusehen konnten, wenn ich mit dem Mauszeiger die Playtaste drückte, weil der Beamer das Menü mitübertrug. Das geht doch nicht, sagte ich mir, aber auch als ich die Lautstärke vom Laptop aus korrigierte, sahen alle zu, ganz zu schweigen davon, dass die Maus manchmal mitten im Bild positioniert war und einmal direkt auf der Nase von Tina saß. Mir passte diese Mitwisserschaft des Publikums überhaupt nicht, aber es gelang mir nicht, den Laptop für mich einzunehmen und dazu zu veranlassen, keine unterwünschten Hintergrundinformationen mehr an den Beamer zu senden. Deshalb gab ich auf und beschloss, mich nicht mehr an dem Informationsaustausch zwischen Laptop und Publikum zu stören, obwohl ich ihn eigentlich für eine Frechheit und Verschwörung hielt. Ich wurde dadurch entschädigt, dass die Projektion, weil ich so nah vor der Leinwand lag, zumindest für mich monumental wirkte. Außerdem passte das Matratzenambiente perfekt. Die permanente Wiederholung der ritualhaften Handlung ergab genau den Sinn, der mir beim Drehen vorgeschwebt hatte. Wie erwartet sinnierten die Zuschauer weniger über die vermeintlich tiefsinnige Bedeutung der Geschichte, sondern lachten über die Dialoge der zickigen Frauen und die unerwarteten Todesfälle.

Als ich, zufrieden mit mir, kurz nach Mitternacht eine Pause einlegte, traf Tina mit dem letzten Zug aus Berlin ein und brachte nicht nur, wie angekündigt, Martin, sondern auch Sabine mit, außerdem stand, völlig unerwartet, die große Tina vor mir. Wir hatten uns seit Jahren nicht gesehen. Jetzt, da ich Berlin verlassen hatte, war sie mit Mann und Kind dorthin gezogen. Von denen hörte ich im Übrigen zum ersten Mal, da die große Tina mir, wie sie sagte, hatte ersparen wollen, ihre blitzartige Verwandlung zur Mutter und Ehefrau eines Bauingenieures, der weltweit Großprojekte überwachte, mitverfolgen zu müssen. Es genüge durchaus, dass ich diese als vollzogenen Prozess zur Kenntnis nähme, deshalb habe sie die kleine Tina zum Stillschweigen verpflichtet. Bei Gelegenheit könne ich aber sehr gerne ihre mehr als großzügige Wohnung am Prenzlauer Berg begutachten. Hier mischte sich die kleine Tina ein, um zu beteuern, dass es in der Tat ausgesprochen schockierend für sie gewesen sei, die große Tina erstmals in derem neuen Zuhause zu besuchen. Wie im Lifestyle-Magazin sehe es dort aus, alles neu und nur Designermöbel. Zum Glück finge inzwischen der kleine Sohn an zu laufen und sorge so für eine natürliche Unordnung.

Wie es der Zufall wollte, besaßen Sabines Eltern in der gleichen Straße auch einen Altbau, dessen Sanierung demnächst abgeschlossen sein sollte. Luxus-Sanierung, warf ich ein, zwischen Frage und Anklage schwankend. Der Luxus von heute, antwortete Sabine darauf lässig, sei ohnehin nur der Standard von morgen. In einigen Monaten ziehe sie dort hin, direkt in die Nachbarschaft von Tina. Jetzt, da ihre Tochter alt genug sei, um allein zu Hause zu bleiben, sei es an der Zeit, endlich wieder in einem lebendigen Stadtteil zu wohnen. Ihr neuer Teilzeitjob bei einer kleinen Firma, die Daten für Navigationssysteme aufbereite, sei ganz angenehm und entspräche voll ihren Qualifikationen, aber das Geld, das sie damit verdiene, reiche bestenfalls für die Tochter, keinesfalls aber für diese Wohnung und den Lebensstil, den sie sich inzwischen einfach so, aus der finanziellen Wohlsituiertheit ihrer Eltern heraus, die nichts besseres mit ihrem Geld anzufangen wüssten, als es ihr ungefragt hinterherzuwerfen, ohne jede Kraftanstrengung angewöhnt habe. Schließlich brach sie diese Schilderung ihrer Daseinsbedingungen mit dem Satz „Ich will jetzt endlich mal wieder tanzen!“ ab, einem Satz, den ich vor allem von nicht mehr ganz jungen Frauen aus dem Kulturbetrieb schon so oft gehört hatte, dass er bei mir immer den Verdacht weckte, hier ginge es eigentlich um etwas ganz anderes.

Sabine warf die Arme in die Luft und wackelte mit der Hüfte, offensichtlich meinte sie es ernst mit dem Tanzen. Los, nach oben mit dir, da ist die Tanzfläche, sagte ich zu ihr. Da packte sie mich an der Schulter und schob mich die Treppe rauf, als sei ich nur für sie da. Beide Tinas kamen hinterher, während Martin erst noch einen Abstecher zur Bar machte und etwas später mit den Bierflaschen auf der Tanzfläche erschien. Der Party-DJ hatte gerade das erste Set mit den ausgelutschten Stimmungshits hinter sich. Jetzt versuchte er es mit anspruchsvoller elektronischer Club-Musik. Auf der Tanzfläche war genug Platz, so dass wir uns hemmungslos gehen lassen konnten. Martin legte merkwürdig staksige Nerd-Verrenkungen an den Tag, die beiden Tinas wechselten zwischen Knutschen und ekstatischem Zappeln und Sabine erging sich in zeitlupenhaften Hüftschwüngen, die wohl erotisch wirken sollten, aber so gar nicht zum aufgekratzten Tempo der Musik passten. Ich schüttelte meinen Körper, den Kopf, die Arme, spürte den total technischen, aber wahnsinnig kraftvollen Bass, wie er mich durchdrang und in Bewegung hielt.

Im bunten Licht der Partybeleuchtung erhaschte ich bizarre Anblicke dieser Menschen, die ich liebte, die sich im Rhythmus der Musik näherten und entfernten, an mir vorbeiglitten oder sich untereinander berührten, nutzlos in der Sonne, ekstatisch in der Nacht, getriggert vom banalen Bums einer synthetischen Bassdrum, flirrenden Klängen, die härter und spröder wurden, während mir die ichbezogene Idee durch den Kopf glitt, dass sie mich ja eigentlich umkreisten wie Planeten ihre Sonne. Karsten, der blondierte Architekturpunk, schwirrte an mir vorbei, die Blondine mit dem goldenen Minirock klebte an seiner Seite. Die beiden wirken genauso, als hätten sie gerade gefickt, sagte ich mir, sie haben es sicher in einem der verschließbaren Zimmer getan, dort bietet sich die beste Gelegenheit. Auch wenn das nur eine Fantasie war, mit der ich meine Erregung steigern wollte, wirkte sie. Die kleine Tina drückte sich erst von hinten an meinen Rücken, dann fiel sie mir um den Hals und ich glaubte zu erkennen, wie sich Sabine an den ungelenk tanzenden Martin ranschmiss. Dann wiederum sah ich wie durch einen Schleier die beiden Tinas küssend vor mir.

Das ist meine Welt, sagte ich, aber niemand konnte es hören, denn die Musik füllte nicht nur mich, sondern auch den ganzen Raum bis kurz vor dem Zerplatzen aus. Der Beat hämmerte Energie in unsere Köpfe und Körper und mir standen Tränen in den Augen. Es war einer der Momente, der mich mit ungebremsten Gefühlen in eine Sphäre hob, die oberhalb des gewöhnlichen Daseins zu schweben schien. Auch wenn es wahrscheinlich von außen lediglich so aussah, als wäre ein verirrter Ü-30-Partytrupp auf die falsche Tanzfläche geraten, um dort auszuflippen, war es für mich viel mehr, denn sie, genau SIE waren zu mir gekommen, nachdem ich diesen Weg, der mir so lang und anstrengend vorgekommen war und der genau dort hingeführt hatte, wo wir uns jetzt befanden, zurückgelegt hatte. Ich fragte mich, ob dies nun ein Höhepunkt meines Daseins war oder schlichte Einbildung. Aber was könnte denn sonst das Echte und Wahre sein? Unser wildes Gehüpfe auf der Tanzfläche einer leergeräumten Wohnung eines runtergewirtschafteten Hauses in einer unbedeutenden Provinzstadt? Ja, aber alles andere auch.

So adrenalinübersättigt, wie wir uns verausgabten, konnte es nicht lange weitergehen. Die Euphorie wurde zunehmend von der Schwäche unserer irdischen Körper verdrängt. Als der DJ wieder zu Konsensmusik überging, begann die Realität in Gestalt von Studenten, die auf die Tanzfläche kamen, wieder durchzuschimmern. Wir pausierten paarweise an den Fensterbrettern, beobachteten die Tanzenden und tranken Bier. Schließlich fanden wir uns im Gemeinschaftsraum wieder, wo ich den Diskettenkamerafilm zum letzten Mal in dieser Nacht vorführte. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich die meisten Studenten in den oberen Stockwerken auf, weshalb wir genug Platz hatten, um kreuz und quer auf den Matratzen und Sofas herumzuliegen, teilweise übereinander und ineinander verschränkt. Beide Tinas kamen dann zum Übernachten mit zu mir. Wie selbstverständlich verabschiedeten sich Martin und Sabine gemeinsam mit dem Hinweis, dass sie ein Hotel gebucht hätten. Das hörte sich an wie von langer Hand geplant, störte mich aber zu meinem eigenen Erstaunen überhaupt nicht.

Am nächsten Tag beim gemeinsamen zweiten Frühstück in meiner Wohnung stellte sich heraus, dass allen außer der kleinen Tina die Premiere wie ein Déjà-vu vorgekommen war. Wir erinnerten uns an die Rückbesinnung, meinen Super-8-Film, dessen erste Aufführung damals in Martins Wohnung stattgefunden hatte. Von der Szenerie her völlig anders, aber von der Stimmung her merkwürdig ähnlich. Dass wir uns gerade auf die Rückbesinnung rückbesinnten, sorgte natürlich schon aufgrund des kuriosen Wortwitzes für einige Heiterkeit. Ich rechnete nach und stellte fest, dass die Premiere der Rückbesinnung auf wenige Tage genau zwölf Jahre zurücklag. Sabine machte einen Witz über die fragwürdige Bildqualität des Diskettenkamerafilms, aber Martin und ich belehrten sie, dass genau das unser Ziel gewesen sei, woraufhin sie erwiderte, in weiteren zwölf Jahren wolle sie dann aber endlich einen ordentlichen Film zu sehen kriegen. Oh nein, riefen da die anderen, alles, nur das nicht, das sei keinesfalls meine Bestimmung, das könnten, sollten und müssten Andere machen.

Spaßeshalber beschlossen wir, dass ich ja nun, nachdem ich sowieso schon mal, wenn auch unbeabsichtigt, die Stimmung der Rückbesinnung aufgegriffen hätte, genausogut auch gleich die Arbeit an dem damals verlorengegangen falschen Film wiederaufnehmen könnte. Ohne in der Vergangenheit zu schwelgen, fing ich sofort mit dem Brainstorming an und begann, neue Ideen für die alte Szenerie zu sammeln. Ich liebte es schon immer, mit Freunden zusammenzusitzen und dabei Handlungsfäden zu spinnen. Gerade an jenem Frühstückstisch hatten sich die richtigen versammelt und in der Tat erarbeiteten wir ein fast vollständiges Konzept für den nächsten Film, der wiederum der erste Teil einer Serie wurde, deren Produktion sich dann wirklich über die nächsten zwölf Jahre hinziehen sollte.


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