Sabines Wohnung lag in Prenzlauer Berg ganz ähnlich wie meine in der Provinzstadt: An einem kleinen Platz mit Park inmitten der Gründerzeitbebauung. Aber in Berlin war alles schöner, größer und teurer. Schon beim Einparken nahm ich zur Kenntnis, dass wir uns mit dem Cabrio in der richtigen Gesellschaft befanden, denn das Mittelklasse-Einerlei wurde durch verschiedene Sportwägen, exotische Marken und liebevoll erhaltene Siebzigerjahreautos aufgelockert. Wir selbst waren nur auf Urlaub in der Welt der Luxusautos, fühlten uns trotzdem am richtigen Ort zur richtigen Zeit.
Wir hätten Glück gehabt, sie gerade noch anzutreffen, sagte Sabine, da sie am nächsten Tag für eine Woche nach London fliege, eine geschäftliche Angelegenheit, Fortbildung und Konzeptgruppe, Meeting und Brainstorming oder so ähnlich. Sabine wurde bei ihren Erklärungen unterbrochen, weil ihre Tochter nach Hause kam. Ich war ziemlich überrascht, denn ich hatte mir gar keine Gedanken über ihr Alter gemacht und immer nur ein kleines Mädchen mit Spielsachen oder Kritzelbildern in Erinnerung. Aber jetzt war sie plötzlich eine junge Frau, vermutlich sechzehn und sah sehr gut aus. Die genetische Mischung aus ihrem afrikanischen Vater und der blonden Sabine war durchaus gelungen. Sie trug eine folkloristische helle Bluse und eine kaputte Jeans, was nichts Besonderes war, aber bei ihr sah es super aus. Außerdem bewegte sie sich so geschmeidig und gleichzeitig lässig, wie es nur Tina in ihrer besten Zeit hingekriegt hatte. Ich glaubte zu bemerkten, dass auch Karsten staunte und sich plötzlich nicht mehr für den architektonisch bemerkenswerten Grundriss der Wohnung interessierte, sondern für die Frage, welche der vielen Arten von Kaffee, die Sabines teure Maschine ausspucken konnte, die richtige sei, damit sich die hübsche Tochter zu uns an den Tisch setzte.
Sabine lenkte das Gespräch in die beste denkbare Richtung und meinte, es sei für ihre Tochter sowieso höchste Zeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was sie nach dem Abitur machen solle, das seien nur noch zwei Jahre und die konfusen Großuniversitäten in Berlin könne Sabine aus eigener Erfahrung nur dann empfehlen, wenn man unbedingt die Stadt kennenlernen wolle, aber das sei ja in ihrem Falle nicht nötig, also könne sie die Gelegenheit nutzen, sich bei uns über die Provinz und deren angeblich so gute Universität zu informieren. Die Tochter schlürfte ihren Milchkaffee. Noch bevor sie etwas sagen konnte, beteuerte Karsten, dass sein Architekturstudium geil gewesen sei, aber jetzt werde er das Diplom beginnen, gehöre er doch zu einem der letzten Jahrgänge, die noch Diplom machten und nicht in die Bachelor- und Masterstruktur hineingezwängt würden.
Bei der Gelegenheit meinte ich erklären zu müssen, dass wir wegen exakt dieser Diplomarbeit unterwegs seien, weil Karsten als besonders ehrgeiziger Student sich mit mir, dem Medienfachmann, verbündet habe, um sich über die Masse der nicht medial unterstützen Diplomarbeiter zu erheben. Denn es sei das herausragende Merkmal von Medien, nicht nur ästhetische Wirkung zu besitzen, sondern auch kommunikativen Mehrwert zu liefern. Das Medium erst gebe einer Aussage Brillanz, Gewicht und Relevanz, medial, sagte ich mit übertriebener Wichtigkeit, erhöben wir uns über die Schlichtheit nackter Fakten. Was allerdings dann fatal werde, wenn sich irgendwann ALLE über ALLE anderen erheben wollten, dann gebe es eine schreckliche Schaumschlägerapokalypse.
Sabine meinte, ich solle ihre Tochter mit diesem selbstreflexiven Kram nicht verwirren, einfache Aussagen, wie das Leben als Medienfachmann denn so sei, genügten vollkommen. Aber das ist doch interessant, widersprach die Tochter und so fühlte ich mich ermutigt, fortzufahren: Die Tricksereien, das Geschummel sowie die Anmaßung, sich ihrer beliebig zu bedienen, seien der eigentliche, faszinierende Kern der Medienarbeit als verlängerter Arm von Polemik und Demagogie. Und die Tatsache, dass das oft nicht erkannt werde. Doch, das erkenne man durchaus, protestierte Karsten.
Ich hoffe nicht, erwiderte ich, aber wir würden es ja später daran merken, wie unser gemeinsamer Film über Mobilität ankomme. Die Millionen tagtäglich hin- und herfahrender Autos seien als Tatsache selbstverständlich bekannt, aber unser Film, der ja von nichts anderem erzähle, werde die Professoren bei der Diplompräsentation hoffentlich dennoch beeindrucken. Für trockene Technokraten sei natürlich eine schnöde Tabelle der statistischen Bundesanstalt mit sorgfältigen Listen der Kilometer pro Kopf, pro Auto oder pro Tonne Warenverkehr in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt eine viel bessere Entscheidungshilfe, aber wir mit unserem Lifestyle-Gedöns und Mädchen mit wehenden Haaren im coolen Cabrio böten eine idealisierte und keineswegs repräsentative Darstellung des Phänomens Mobilität. Darum haben wir ja auch den Fernfahrer mit dem „Ich-hab-den-längsten“-Aufkleber auf seinem 25-Tonner interviewt, warf Karsten ein, der relativiere das verzerrte Bild durchaus wieder. Anschließend steuerte er noch einige Motel-Anekdoten bei, die wohl die Unvereinbarkeit der Truckermentalität mit unserer stilistisch optimierten Intellektuellenwelt illustrieren sollten, was sowohl Sabine als auch ihre Tochter sehr erheiterte.
Sabine beendete unsere Ausführungen mit dem Hinweis an ihre Tochter, dass sie uns nicht zu ernst nehmen solle, aber sie könne doch trotzdem einfach mit uns mitfahren und sich die Uni ansehen, sie habe doch sowieso gerade Ferien und sie selbst müsse schließlich zu ihrem Thinktank nach London. Da stimmte die Tochter überraschend zu.
Während sie ihre Klamotten in einen abgeschabten Rucksack stopfte, plauderte sie aus, dass Sabine ja gar nicht nach London MÜSSE, sondern nur hinwolle, weil sie dort einen wieder mal besonders bedeutenden Liebhaber besuchen wolle, angeblich sogar englischer Adel. Dann quetschte sie sich auf die kleine Rückbank und den letzten Abschnitt unserer Rundreise waren wir zu dritt.
Selbstverständlich gaben wir uns alle Mühe, die junge hübsche Frau zu beeindrucken. Wir kamen am frühen Abend an. Karsten umkreiste erst einmal den Campus und ich filmte die Ankunft. Dann machte ich einige sehr gelungene Fotos von Sabines Tochter. Sie waren ähnlich wie die Aufnahmen in Weimar: Sie hinten im Cabrio auf der Lehne, und die Universitätsgebäude schienen vorbeizufliegen. Alles passte. Der niedrige Sonnenstand sorgte für sanftes Licht, dazu zarte Wölkchen und SIE mit einer coolen Sonnenbrille und ihrer hellbraunen Hautfarbe. Ich sagte ihr, sie sei schon so gut wie immatrikuliert, denn die Fotos seien prima und würden bestimmt in irgendeiner Broschüre der Uni abgedruckt werden, sofern sie nichts dagegen habe. Sie meinte nur, ihr sei das egal, das könne ich ruhig machen. Wir luden die Technik aus, dann ging sie mit Karsten zum Kochen in das Studentenwohngemeinschaftshaus und übernachtete schließlich bei Tina und mir im Arbeitszimmer. Wir zeigten ihr die Stadt und die Uni, zwei Tage später verschwand sie mit dem Zug nach Berlin.
Karsten schnitt den Film weitgehend allein und ich fand, dass er ihn etwas zu wichtig nahm. Bei seiner Diplompräsentation kam es dann zwischen den anwesenden Professoren auch zu einem handfesten Streit, ob der Film nicht zu oberflächlich und plakativ sei und Karsten sich nicht lieber auf seine Entwurfsplanung hätte konzentrieren sollen. Nur mit schönen Bildern wollte man sich also nicht abspeisen lassen, das fand ich gut. Trotzdem verpasste man Karsten eine gute Note, das fand ich ebenfalls gut. Danach aber war seine Zeit in der Provinzstadt abgelaufen. Die erste Generation von Studenten, die ich kennengelernt hatte und die mir ans Herz gewachsen war, verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Sabines Tochter kam auch nicht zurück, sie ging zum Studieren erst nach Stuttgart und dann in die Schweiz. Das Foto mit ihr landete ein Jahr nach ihrem Besuch tatsächlich auf der Rückseite einer Infobroschüre. Nochmals einige Jahre später, als es um die Beschleunigung des Studiums ging, kramte wieder jemand das Foto von Sabines hübscher Tochter heraus, das sei doch ein tolles Motiv, und dann auch noch dieser Multikultilook, ganz wunderbar! Wir versuchten uns an einem Remake des Fotos mit anderen Studentinnen und Studenten und schossen eine ganze Serie, auch unter Zuhilfenahme anderer Fortbewegungsmittel wie Fahrrad, Straßenbahn und Inlineskatern, aber das Original im Cabriolet blieb unerreicht. Wieder entstanden Flyer, bei denen das Bild auf der Rückseite abgedruckt war. Die Mitarbeiterin in der Marketingabteilung fragte mich, ob ich die Druckgenehmigung der jungen Frau habe. Ich rief bei Sabine an, konnte sie aber nicht erreichen. Eigentlich hatte mir ihre Tochter ja bereits gesagt, dass ihr das EGAL sei, also hakte ich die Angelegenheit ab und war der Meinung, es gehe schon alles in Ordnung. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
Ich wollte noch ein paar Tage Urlaub machen und mich erst einmal darum kümmern, ein Drehbuch für die letzte Folge meiner Kriminalfilmserie zu schreiben. Mit Tina fuhr ich nach Tschechien, wo wir wanderten und billiges Bier tranken. Nebenbei tippte ich meine Ideen in den Laptop. Tina musste mit mir die Handlung diskutieren und wachte streng darüber, dass die Geschichte stets eine unerwartete Wendung nahm und keine Klischees des gewöhnlichen Fernsehkrimis aufwies. Deswegen steckten wir inzwischen ziemlich fest in den Anti-Klischees. Tina meinte, Antihelden seien auch etabliert, warum nicht Anti-Klischees? Trotzdem gelang uns, eine passable Handlung zu entwerfen, die wir auf achtzehn Szenen verteilten, weil achtzehn Szenen ungefähr zwanzig Minuten Film ergeben und zwanzig Minuten Film war die Länge, die ich ohne Stress in einer Woche realisieren konnte.
Als wir am letzten Urlaubstag im Zug saßen, die Grenze zwischen Tschechien und Deutschland hatten wir gerade passiert, checkte ich das Handy, das ich aus Trotz gegen die allgegenwärtige Verfügbarkeitsdoktrin während der ganzen Woche ausgeschaltet gelassen hatte. Es lag eine Anfrage der Mitarbeiterin der Marketingabteilung vor, die meinen Rückruf erbat, wegen der jungen Frau auf dem Foto. Dann eine weitere Meldung, die mit der Feststellung endete, dass ja vermutlich alles geregelt sei. In der Tat hatte man alles bereits geregelt, das konnte ich sehen, als wir am Bahnhof ausstiegen. Offensichtlich hatte die Marketingabteilung während meiner Abwesenheit beschlossen, eine große Plakatwerbung zu schalten und das Motiv mit Sabines Tochter dafür ausgewählt.
Da prangte sie plötzlich überlebensgroß vor mir, dazu der dämliche Werbeslogan, der der Menschheit vermitteln sollte, dass man an unserer Universität den langen Weg von der ersten Kontaktaufnahme bis zum akademischen Abwinken schneller als anderswo gehen könne. Jetzt fiel mir auch wieder ein, wie die Mitarbeiterin der Marketingabteilung etwas von Sonderkonditionen bei den Plakatwerbevermarktern gemurmelt hatte, da sei angeblich ein Quasi-Umsonst-Plakat für die Uni drin. Kein Wunder, die Werbewände waren inzwischen weitgehend überflüssig und meist mit Eigenwerbung oder Imagekampagnen für soziale Belange bestückt. In der Hinsicht beeindruckte mich die Plakatwerbung nicht sonderlich. Aber dass es so schnell gegangen war, in nur einer Woche, während der ich in Tschechien durch den Wald spaziert war, das erstaunte mich durchaus.
Ich trat näher an das Bild heran. Ja, mein erster Eindruck hatte nicht getrogen, da hatte jemand retuschiert. Ein Leberfleck am Hals war verschwunden und die Reflexion im Auge wirkte anders als im Original. Das konnte ich gleich erkennen. Außerdem hatte es auf dem Foto auch noch ein paar kritische Stellen mit den Haaren gegeben, einzelne Haare auf der Wange, die vom Wind in eine ungünstige Position geweht worden waren. Natürlich hatte ich nicht mehr jedes einzelne Haar in Erinnerung, aber ich sah trotzdem, dass Photoshop am Werk gewesen war, vielleicht sogar mit einem Weichzeichner. Vermutlich durch unseren Designer, dem war das zuzutrauen. Vielleicht lag der schwammige Eindruck auch nur daran, dass die Auflösung meines Fotos für die 10 Quadratmeter dann doch zu niedrig war. In dieser Hinsicht fehlte mir jegliche Erfahrung, denn es war mein erstes Foto auf einer Plakatwand.
Ich trat noch mal einen Schritt zurück, um es als Gesamtheit anzusehen. Wirklich eine tolle Aufnahme von einer tollen Frau. Ob das Bild von mir sei, fragte Tina ungläubig, sie fand es auch sehr hübsch. Wie sich später herausstellte, war es nur diese eine Plakatwand am Bahnhof, die während meiner Abwesenheit ganz überstürzt, aber kostenlos von der Universität bestückt werden durfte. Mit ihrem Handy schoss Tina ein Beweisfoto, mit mir und Rucksack vor dem Plakat. Zwar verzog ich mein Gesicht zu einer emotional uneindeutigen Grimasse, aber eigentlich war ich stolz. Tina postete das Foto im Internet, woraufhin Sabine einen Tag später mit dem Zug angefahren kam.
Sie wies mich darauf hin, dass sie bei ihrem letzten Besuch angekündigt habe, in zwölf Jahren wiederzukommen, um nachzuschauen, ob ich endlich seriöse Filme machte. Außerdem müsse sie hier mal nach dem Rechten sehen, wie weit die mediale Ausbeutung ihrer Tochter noch getrieben werde. Eigentlich habe sie ja nichts dagegen, aber eigentlich sei es nicht korrekt, weil ich eigentlich hätte fragen müssen und eigentlich immer so getan habe, als würde ich derlei überhaupt nicht tun, und eigentlich sei es ein gutes Bild und ihre Tochter gut getroffen, aber eigentlich sei sie ziemlich ausgenutzt worden, obwohl ich eigentlich immer so getan habe, als sei ich selbst ein Opfer der Umstände, was sie eigentlich nie geglaubt habe, und außerdem habe sie den Eindruck gehabt, als wolle ich mit solchen Werbemethoden eigentlich gar nichts zu tun haben, oder sei das nur eine ideologische Tarnung gewesen? Kurz, sie wisse gar nicht, was sie dazu sagen solle.
Ihre Tochter habe ganz unumwunden geäußert: Scheiße, der Typ hat mich gefickt, jetzt kann ich mich in DER Stadt nicht mehr blicken lassen und Sabine habe geantwortet, die Tochter solle nicht immer das Wort „ficken“ für alles, was ihr nicht passe, verwenden, denn das bedeute ja eigentlich etwas anderes, etwas, was ich doch hoffentlich nicht mit ihrer Tochter gemacht hätte?
Als Sabine mir all das mit einem Lächeln an den Kopf warf, meinte ich, dass mein letzter unseriöser Film gerade in Planung sei, aber an dem Plakat könne Sabine doch zweifellos erkennen, wie professionell ich arbeite. Ansonsten lohne es sich eigentlich nicht, meine Schuld zu leugnen, mich rauszureden oder etwas zu erklären. Trotzdem könne ich es ja mal versuchen.