Gute Musik® 2 von 3 | Ashley Abrman: „Your Lips“ (2018)

Information Die Sängerin ist Slowakin und das Ganze wurde auch in der Slowakei komponiert, produziert und aufgenommen.

Das Faszinierende und mir erkenntnistheoretisch bzw. letztlich philosophisch seit je Problematische ist, dass diese Zusatzinformation kein Jota am akustischen Inhalt 1  dieses Tracks ändert, aber sehr viel am auralen Gehalt 2 . Über diese Art von ästhetischem Gestaltwechsel brüte ich, kein Scherz, seit Jahrzehnten.

Anderes Beispiel: Ein Track mit zeitgenössischer Instrumentalmusik, gespielt von realen MusikerInnen auf klassischen Instrumenten, wird von zufällig ausgewählten HörerInnen mehrheitlich als „spannend“, zumindest aber „originell“ bewertet. Anschließend erhalten sie die Zusatzinformation, dass die Komposition komplett von einem KI-Programm errechnet wurde. Bei erneuter Befragung wird derselbe Track von denselben HörerInnen nun vorwiegend als „eigentlich langweilig“ und „irgendwie epigonal“ bewertet. – Exakt diesen Versuchsaufbau habe ich frei erfunden, aber ähnliche Experimente gibt es tatsächlich, v. a. mit Abstrakter Bildender Kunst von Automaten (AutomatInnen?).


 

1 d. h. der physikalisch messbaren Materialität der Tonaufnahme, also letztlich der zeitlichen Abfolge von Frequenzgemischen, aus der Musik nun mal besteht

 

2 d. h. dem, wie wir Musik hören und wie sie uns gefällt, welche Gefühle sie in uns hervorruft, zu welchen weiterführenden Gedanken sie uns anstiftet, kurz, was die Musik „mit uns macht“

Witty re-designed und einige eigene Gedanken zu L. W.

Wittgenstein als Street Art, flankiert von zwei sog. „Hasenenten“, die das Phänomen des Gestaltwechsels bzw. der Multistabilität symbolisieren. Das Bild dient meinem Wittgenstein-Glossar seit 17 Jahren als Logo und ich finde es immer noch witzig. 1 

Meiner seit 2002(!) pausenlos verfügbaren Seite L. W.? – – – L. W.! Ein Glossar zentraler Begriffe der Philosophie Ludwig Wittgensteins (1889-1951) habe ich jüngst ein paar kleine, aber markante gestalterische Updates – neue Farben, abgerundete Ecken, sowas – verpasst. Vielleicht ein Anlass, mal reinzusehen?

Ich habe mir damals Mühe gegeben, die Artikel so klar und einfach wie möglich zu formulieren, ganz getreu dem Diktum des Meisters „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen.“ – an das er sich freilich kaum je selber hielt, der Schlingel! Kurz gesagt, wer Wittgenstein beim Wort nimmt, hat schon verloren und wird ihm nicht einmal ansatzweise gerecht.

Der US-amerikanische Philosoph C. Sartwell attestierte L. W. jüngst auf standpointmag.co.uk gar einen ausschließlich destruktiven Einfluss auf die Philosophie als akademischer Disziplin. Denken und Argumentation des Österreichers entbehrten bei genauem Hinsehen jeglicher Konsistenz. Dennoch schaffte er es – interessanterweise post mortem ungleich erfolgreicher als zu Lebzeiten – immer wieder, trotz oder gerade wegen seiner erratischen Gedankenführung auch akademisch arbeitende PhilosophInnen für sich zu interessiern. Was für letztere, so Sartwell, nicht selten fatale berufliche Folgen zeitigte. Denn angesichts der Zerfahrenheit von Wittgensteins Texten ist es nahezu unmöglich, ihn rein werkimmanent zu verstehen. Also, so Sartwell, kam es, wie es kommen musste:

Wittgenstein has been more of a cult than an argument (…). [His] followers know he is right; the only difficulty is knowing what he meant.

Und Sartwell hat recht! Meiner Erfahrung nach fallen L. W.s Gedanken tatsächlich in sich zusammen, je genauer man sie sich anschaut – allerdings auf faszinierende Art. Sie scheitern ausgesprochen erhaben, m. E. aber nicht aus intellektueller Koketterie bzw. irgendeinem „Stilwillen“ heraus oder gar aufgrund eines schrägen Konzepts – dafür war L. W. viel zu ernsthaft –, nein, der Mann konnte sich meiner Meinung nach wirklich nicht „normal“ ausdrücken. Und er hat, soviel ist klar, zeitweise entsetzlich unter diesem Unvermögen gelitten.

M. E. war L. W., zumindest in seiner ersten Philosophie (Tractatus), gerade deshalb so von Logik besessen, weil sein Denken eben von Haus aus disparat, impulsiv, irrational, d. h. un-logisch war. Dass sich so einer von Logik angezogen fühlt, ohne dabei selbst je zum Logiker zu werden, ist für mich, äh, logisch (Entschuldigung).

Niemand kann heute sagen, ob L. W. Asperger, ADHS oder sonst eine mehr oder minder subtile geistige Behinderung (ja: Behinderung!) hatte, aber diese postume Ferndiagnose würde tatsächlich vieles einfacher machen. Es würde vor allem dem komplett kontraproduktiven „Genie“-Geraune evtl. endgültig den Garaus machen und L. W.s obsessiv-repetitives Gestammel endlich als das auffassen, was es ist: Teilweise brilliante und – entsprechende Disposition der LeserIn vorausgesetzt – inspirierende Gedankensplitter eines überdurchschnittlich intelligenten erkenntnis- und sinndurstigen Eigenbrötlers mit ziemlich mittelgroßem kognitivem Handicap.

Für traditionelle akademische Philosophen wäre eine solche Diagnose vermutlich willkommener Anlass für die finale Exklusion L. W.s aus dem Kreis ernstzunehmender Denker. Für Künstlertypen wie Thomas Bernhard, Steve Reich oder Joseph Kosuth freilich fing und fängt es da erst an, interessant zu werden. Nicht, weil sie Freude an der Chaotik L. W.’scher Gedankenführung hätten, sondern weil diese Chaotik im Wittgenstein’schen Sinn zeigt, was nicht verbalisiert werden kann: ästhetisches, mystisches, religiöses und ethisches Empfinden.

Dass sich tatsächliche, zumindest tendenziell apollinisch in sich ruhende Logiker wie Bertrand Russell von L. W. so irritieren ließen – und am Ende an der Nase herumgeführt fühlten, als Wittgenstein gar kein Interesse daran zeigte, eine eigene logikbasierte Philosophie zu formulieren –, ist in meinen Augen keine Schuld Wittgensteins, sondern eines seiner größten Verdienste. Und dafür, dass Russell diese Irritation, so Sartwell, nicht produktiv machen konnte (Stimmt das eigentlich? Immerhin war er eine der wichtigen Stimmen des Pazifismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts), kann Wittgenstein ja nun wirklich nichts.


 

1 Das Gegenteil von Multistabilität ist übrigens nicht In-, sondern Hyperstabilität.

Multistabilität in der Musik

Multistabil wahrnehmbare Zeichnung
Multistabil wahrnehmbare Zeichnung

Komponist Daniel James Wolf über seine Begeisterung für musikalische Kippfiguren:

… what interests me most in music … are those … forms … in which it is thrillingly unclear whether the music is breaking the rules or discovering a new … reading of those rules. […] It is thrilling in the same way that a Wittgensteinian language game can be when suddenly, after an extended conversation, it becomes clear to both speakers that they weren’t talking about the same thing at all.

Das Phänomen der multistabilen Wahrnehmung ist auch unter dem Begriff Gestaltwechsel bekannt.