Lobo über die Netzpolitik.org-Affäre als Folge des digitalen Kontrollverlusts

[Verfassungsschutzprädident, S.H.] Maaßen hat … angestoßen, dass die Blogger von Netzpolitik.org ins Visier genommen wurden. Aber eigentlich war das nur eine verzweifelte Reaktion, weil in Zeiten des Internets das Leak zum Standardinstrument des politischen, vernetzten Bürgertums geworden ist [Hervorhebung von S.H.]. […] Dass weder Justiz- noch Innenministerium diesen … Stellvertreterangriff erkannt … haben, ist aufschlussreich: Es weist auf eine Gegenwartsblindheit hin, die bis zur Realitätsverdrängung reicht. Weil die Illusion der Kontrolle zerplatzt ist, muss jemand schuld sein.

Sascha Lobo: Koalition und Zeitgeist: Deutschlands Problemregierung (SPIEGEL ONLINE 2015-08-12)

Mehr zum Thema Kontrollverlust durch Digitalisierung hier.

Keys XKEYSCORE

Vorgestern morgen erschien ein von Edward Snowden höchstpersönlich verfasster Text zur Datensicherheit in Neuseeland in Glenn Greenwalds Blog The Intercept (ja, das ist ein Wortspiel, „to intercept“ bedeutet, u. a., „abfangen“). Er bezichtigt darin den amtierenden neuseeländischen Premierminister Key, der die anlasslose Massenüberwachung privater Internet-Nutzungsdaten in seinem Land durch den dortigen Geheimdienst GCSB bisher stets leugnete, der Lüge. Wahr hingegen, so Snowden, sei folgendes:

At the NSA I routinely came across the communications of New Zealanders in my work with a mass surveillance tool we share with GCSB, called «XKEYSCORE».

Snowden verweist nachdrücklich auf ein besonders pikantes Programmdetail, die Checkbox „Five Eyes Defeat“. Sie sei in der Voreinstellung aktiviert, d. h., zunächst durchforste XKEYSCORE immer nur das jeweils nationale Internet. Aber:

When an officer of the government wants to know everything about everyone in their society, they don’t even have to make a technical change. They simply uncheck the box.

Wird also „Five Eyes Defeat“ de-aktiviert, trudeln auch die XKEYSCORE-Ergebnisse der restlichen „vier Augen“ Australien, Kanada, Großbritannien und, vor allem, der USA ein. Gleichzeitig, wenn ich das richtig verstanden habe, werden die Ergebnisse der neuseeländischen Suche den anderen „vier Augen“ mitgeteilt. Snowden,  sonst eher nüchtern gestimmt,  wird hier ungewohnt pathetisch:

One checkbox is what separates our most sacred rights from the graveyard of lost liberty.

Unter rhetorisch eleganter Beibehaltung der Checkbox-Metapher fährt er mit einer Anspielung auf die bevorstehenden neuseeländischen Parlamentswahlen fort:

This government may have total control over the checkbox today, but come Sept. 20, New Zealanders have a checkbox of their own.

Und schließlich, in Anspielung auf Keys Partei, der neuseeländischen „National Party“:

National security has become the National Party’s security.

So direkt hat Snowden meines Wissens noch nie auf aktuelle politische Entscheidungsprozesse Einfluß zu nehmen versucht. Wird John „Xkeyscore“ Key am 20. September wiedergewählt, dürfte Edward Snowden wohl der letzte sein, dem er jemals politisches Asyl gewährt.

Lobo über Zivilcourage

Die Öffentlichkeit neigt dazu, ihre eigene Macht kurzfristig zu überschätzen und langfristig zu unterschätzen. Diese Kombination trägt dazu bei, kurzfristig Enttäuschung, Resignation, Politikverdruss zu verstärken. […] Langfristig aber übersetzen sich die Haltungen der Öffentlichkeit in konkrete Veränderungen in Gesellschaft und Politik. Wenn das nicht so wäre – weshalb wäre dann … in den meisten autoritären Staaten der erste Schritt der Machthaber die Kontrolle der Medien, die die Öffentlichkeit adressieren? […] Es geht darum, den Verantwortlichen ihre vermeintliche Legitimation für den Betrieb des radikalen, grundrechtsfeindlichen Überwachungssystems zu entziehen. […] Gerade in Deutschland, dessen Behörden fraglos und absichtsvoll Teil der Überwachung sind.

Sascha Lobo: Die Gesellschaft kann etwas gegen die Überwachung tun (SPIEGEL ONLINE 2014-06-11)