Feinbergiana 12

(Publiziert 1962.)

Die Zeitangaben in allen Protokollen beziehen sich auf die Interpretationen von Nikolaos Samaltanos (Sonaten 1, 4, 5, 9, 10 und 11) und Christophe Sirodeau (Sonaten 2, 3, 6, 7, 8 und 12) aus den Jahren 2003 und 2004, die als MP3-Download erhältlich sind: Sonaten 1 – 6, Sonaten 7 – 12

[Semantisierendes Echtzeit-Hörprotokoll] 0:02 Die Gedanken flattern durch den Kopf, etwas hastig, fast verwirrt, in jedem Fall aber „kindlich-beglückt“. 0:30 Alles zieht friedfertig an mir vorbei, ich versuche die Eindrücke festzuhalten, immer wieder, es geht meistens nicht, dann ist es mir wieder egal, aber „glücklich egal“. Emsiges inneres Summen ohne rechte Melodie. 1:20 Ab und zu kann etwas meine Aufmerksamkeit binden, aber nie lange. 1:50 Kann sich das so bis in alle Ewigkeit fortsetzen? Ich fürchte… Sehr schnell jetzt meine immer leicht zerhackten Gedanken, ich komme zum Ausgangspunkt zurück, denke „stenografisch“, in Andeutungen, deren tiefere Bedeutung ich entschlüsseln könnte, aber sie interessiert mich nicht wirklich. Ein Eindruck ist bunter als der andere, alle erscheinen mir gleich wichtig. Ein ständiges, wogendes Auf und Ab. 3:58 Eine völlig neue, ruhige, sanfte und zärtliche Stimmung stellt sich wie von selbst ein. Tröstende Erinnerung an die verflossene Geliebte, ihre Umarmungen, ihre Küsse. Ich „verging in ihren Armen“, wie man so sagt. Recht feierlich ist mir zumute, weniger erotisch. Ihre feine Stimme lispelt lediglich Unzusammenhängendes, aber auch dies ist mir egal. 5:20 Irgendein eher hässliches Geräusch holt mich zurück aus meinem Tagtraum. Aber wo bin ich denn heute, wie sieht es eigentlich aus um mich herum?  6:20 Und schon gerade ich in Rage … aber worüber eigentlich? Lohnt es sich? 6:35 Die glückliche Erinnerungslandschaft geht eine absurde Verbindung mit meinem aktuellen Zornesausbruch ein – fast ist es zum Lachen, denn das trägt gar nicht. Aber ich kann nicht anders, muss „fusionieren“. 7:30 Jetzt wieder, dieses selbstversunkene Spiel des Kindes, vollkommen glücklich und selbstvergessen in der kleinen Spielwelt. 8:30 Ich staune durchaus, wie vollkommen ich mich manchmal vergessen kann. 8:35 Leise pochen die üblichen Alltagssorgen an, dann lauter, noch lauter, schließlich schneidend unverschämt, vulgär. Ich zögere. Wo ist mein neues Gleichgewicht? 9:30 Hier: In einem „unmöglichen“ Klang, der gleichzeitig Entfremdung, Glück, Nachgiebigkeit und „unheilbaren“ Stolz ausdrückt. Er ist zur gleichen Zeit intim und sehr weit weg, tief in mir und weit von mir entfernt. 10:30 Die Alltagssorgen drücken sich wieder rein, banal wie immer. 11:30 Aber der unmögliche Klang lässt sich jetzt nicht mehr wirklich verscheuchen. Ich kann es noch ein wenig erhalten, dieses Gefühl gnadenloser Verlorenheit des Vergangenen, dieses schütter erinnerte Glück, das mir niemand nehmen kann, das mir gehört. Und ich gehöre ganz ihm.


„Feinbergiana“

Feinbergiana-Pause #5

feinberg_jungEs ist wie verhext: Wieder nicht geschafft, mich über die Protokollierung der letzten noch ausstehenden Feinbergsonate zu machen. Und nächste Woche wird’s wahrscheinlich auch nichts. Aber dann.

Was ich allerdings geschafft habe, ist die Fortsetzung der Lektüre des Suhrkamp-Wälzers „Selbstbeobachtung“, dessen Ideen zu einer „Psychologie des Denkens“ nach Oswald Wiener ja die zentrale Anregung für dieses Projekt war. Habe grade den Beitrag Johannes Ullmaiers (testcard) hinter mir, der sich auf der Suche nach verlorenen ProgRock-Ohrwürmern selbst beobachtet und diese Selbstbeobachtung mit bewunderungswürdiger Akribie mitprotokolliert hat.

Leider weiß ich immer noch nicht genau, warum mich dieser ganze Ansatz (Wiener, Raab) so nachhaltig fasziniert, bzw. ob er überhaupt sinnvoll ist. Aber ich folge hier – wie immer – zunächst meinem Instinkt.

Feinbergiana 11

(Publiziert 1952.)

Die Zeitangaben in allen Protokollen beziehen sich auf die Interpretationen von Nikolaos Samaltanos (Sonaten 1, 4, 5, 9, 10 und 11) und Christophe Sirodeau (Sonaten 2, 3, 6, 7, 8 und 12) aus den Jahren 2003 und 2004, die als MP3-Download erhältlich sind: Sonaten 1 – 6, Sonaten 7 – 12

[Semantisierendes Echtzeit-Hörprotokoll] 0:03 Aufstehen und anfangen, einfach anfangen, die Gedanken ordnen, in eine Ordnung bringen. Hierarchisch, wenn auch mit deutlich melancholischem Grundton. 0:53 Ja, es geht, plötzlich geht es fast zu gut von der Hand 1:13 Etwas irritiert mich, ich bekomme eine Panikattacke, ein wenig Angstschweiß tropft mir in den Hemdkragen hinein, wie widerwärtig. 1:31 Versuch, die alte Ordnung wiederherzustellen, mühevoll. 1:57 Aber jetzt geht es besser, die Dinge ordnen sich jetzt wirklich, fügen sich zu einem erkennbaren Gebäude, einer Architektur zusammen. Ja, die Maschine läuft, alles ist aufeinander abgestimmt. 2:55 Ausgesprochen irritierende plötzliche Kindheitserinnerung, zärtlich und voller Süße, voller Wehmut. 3:35 Ordnungsdrang + Kindheitserinnerung. quasi in Doppelbelichtung. 4:10 So viele Dinge stehen zur Erledigung an, verteufelt viele Dinge! 4:32 Ich werde allmählich hyperproduktiv, hysterisch produktiv, verheddere und verhasple mich immer öfter, dabei zwanghaft Heiterkeit ausstrahlen wollend. Es bricht etwas in mir entzwei. 5:20 Ich muss runterkommen, wieder zur produktiv verschachtelten Ordnung der Dinge zurückfinden. Die Struktur… 6:07 Es gelingt mir, die aktuelle Ordnungsvorstellung mit meiner an sich inkompatiblen Kindheitserinnerung zu verschmelzen (im Kopf): merkwürdiges Gebräu, vollkommen irreal, ahistorisch und ortlos. 7:11 Aufkommende Schwermut. 7:27 Jetzt aber, ich komme zu spät, muss mich eilen, dabei darf ich nichts vergessen! Qual komplexer simultaner Handlungen, dabei von Groll durchdrungen. Wie das wohl von außen aussieht? 8:10 Jetzt bekomme ich es ein wenig mit der Angst zu tun: Schaffe ich das eigentlich alles? 8:40 Kurzes Innehalten, voller Verzagtheit. 9:02 Wieder die paradoxe „geordnete Kindheitserinnerung“, aber ich schaffe es, diese Konstruktion eine ganze Zeit am Laufen zu halten, unter großen Mühen. 9:57 Die „nackte“, primitive Kindheitserinnerung setzt sich auf einmal mühelos und triumphierend durch, verdrängt alles andere, in ihrer Plumpheit, ihrer vollkommen unangemessenen Schlichtheit. 10:42 Ich begehre brutal auf gegen diese unangemessene Regression, intellektualisiere heftigst. 11:07 Ich finde schließlich einen formal „richtigen“ Schluss, aber innerlich ist natürlich wieder nichts gelöst.

Zusatz (gehört nicht zum Protokoll) Einmal mehr zeigt sich, wie oft ich Feinberg hintereinander hören muss, um ihn auch nur halbwegs zu „verstehen“, d. h. die dichte und „unlogische“ Abfolge seiner Gefühlsumgebungen innerlich nachvollziehen zu können. Speziell diese Sonate kommt mir vor wie ein Tonband im Schnellvorlauf: Eben hat man sich „eingefunden“ in den aktuellen „Gefühlshaushalt“ des Stücks, gibt es schon einen rabiaten Schwenk (z. B. von zärtlicher Nostalgie zu dröger Alltagsdisziplin), aber auch alle stabilen Zustände sind stets unterschwellig metastabil, etwas nagt immer an ihnen, das Bild ist niemals monochrom, sondern stets von einer weiteren, oft nicht „passenden“ Farbe unterbrochen, die quasi „von unten“ nach oben in die aktuelle „Laufumgebung“ (O. Wiener) quillt. Diese Verläufe sind „unmenschlich“ anstrengend und so bin ich bereits nach dem zweimaligen Hören des 11-minütigen Werks mental erschöpft. Ich kenne nur wenig Musik, die es schafft, Gefühlszustände in ihrer flüchtigen Komplexität / komplexen Flüchtigkeit so plastisch abzubilden – und dennoch dem eigentlich komplett entgegengesetzten, nämlich „klassizistischen“ Ideal der Sonate irgendwie treu zu bleiben. Ein Phänomen.


„Feinbergiana: Inhaltsverzeichnis und Konzept“ (wurde heute überarbeitet und deutlich erweitert. Wer wissen will, was ich hier eigentlich tue und worum es in dieser Artikelreihe geht, sollte diese Seite lesen.)

Feinbergiana-Pause #3

Wir haben nur noch 2 Sonaten vor uns, da darf’s ruhig noch mal ein Päuschen geben, oder? (Großartige Fotografie unten übrigens, leider konnte ich nicht herausfinden, wer die markanten jungen Herren sind, von denen SF hier so schmuck gerahmt wird – ich nehme aber stark an, es handelt sich um zwei seiner Klavierschüler. Das Bild ist vermutlich keine 50 Jahre alt, wirkt aber für mich, als käme es vom Mars. Tja, wie war das wohl, unter Stalin zu leben?)

Feinberg+2_EDIT


Konzept und Inhaltsverzeichnis des Projekts „Feinbergiana“

Feinbergiana 10

(Publiziert 1944.)

Die Zeitangaben in allen Protokollen beziehen sich auf die Interpretationen von Nikolaos Samaltanos (Sonaten 1, 4, 5, 9, 10 und 11) und Christophe Sirodeau (Sonaten 2, 3, 6, 7, 8 und 12) aus den Jahren 2003 und 2004, die als MP3-Download erhältlich sind: Sonaten 1 – 6, Sonaten 7 – 12

[Semantisierendes Echtzeit-Hörprotokoll] 0:00 Beste Laune heute, wenn auch etwas schräg beieinander. Aber im Grunde geht alles flott von der Hand. Man muss die Dinge, das Von-der-Hand-Gehen, mechanisieren, das ist es! 1:04 Roboter, Maschinen! Die Zukunft gehört dem Apparat, im doppelten Sinn, harhar. Alles geht voran, automatisch. 1:20 Wir sind marschierende Maschinen im staksigen Stolperschritt. Mit uns zieht die neue Zeit. Oder so. 2:15 Etwas setzt aus auf einmal, kein Treibstoff mehr, aber die Zahnräder drehen sich noch, leer. 2:30 Der Motor springt wieder an. 3:00 Hemmungsloser Aktivismus bei äußerer Freundlichkeit und gelegentlicher Ruppigkeit (was für mich ungewöhnlich ist). 3:20 Draußen zieht jetzt eine Art Prozession vorbei, gemessenen Schrittes, ich sehe kaum hin. Diese neue Gesellschaft ist choreographisch und choreographiert. 3:55 Es geht jetzt darum, mit der neuen Zeit Schritt zu halten, in die Zukunft zu blicken, alte Zöpfe abzuschneiden. Der Horizont ist offen, was vergangen ist, ist vergangen. Ich bin nahezu ausgeglichen, um Jahre verjüngt. 4:20 Die Prozession verschwindet allmählich wieder, was ich ohne jedes Bedauern konstatierte. Manchmal holpert mein neuer Motor noch, ich verhasple mich in meinem Eifer, die Zahnräder sind noch nicht eingelaufen. Das Neue eifrig durchdeklinieren, alle Varianten durchhecheln, pflichteifrig, eher un-begeistert. 5:49 So etwas wie Tragik existiert ja im Grunde gar nicht, allein die Sachlichkeit der Tatsachen ist es, die zählt! 6:16 Hysterischer Anflug von nostalgisch eingefärbter Melancholie, dann wieder dieses ruppige Zusammenreißen, diese unfreiwillig komische neue Härte gegen mich selbst! 6:43 Ich habe zwar im Grunde kein Talent zum Pompösen, Feierlichen, aber eine Parodie staatstragender Gemütshaltung bekomme ich schon hin, der Aufmerksame wird schon verstehen, wie ich’s wirklich gemeint habe. Wenn nicht, ist’s auch egal. Uneigentliches Sprechen. 7:30 Wenn nicht nur immer wieder meine Hysterie hindurchschimmern würde, diese verdammte Unfähigkeit, irgendetwas ganz zu empfinden, in kompletter Abwesenheit der exakt gegenteiligen Empfindung! Kleine Raserei, die Leute amüsieren sich sicherlich über mich. 8:05 Leichte Erschöpfung jetzt, aber ich muss in dieser Art fortfahren, muss, muss! 8:30 Blöder Aktivismus, tausend Dinge sind zu tun, rede ich mir permanent ein. Irgendwann sind sie dann wirklich zu tun, die Dinge. Dummes Geschwätz anderer ist schlicht zu ertragen, mannhaft. 9:00 O weh, mein tiefer Sarkasmus und meine Hektik werden mir irgendwann noch zum Verhängnis werden! 9:30 Ich komponiere heute einfach seitenverkehrt, das wäre zweifellos eine Lösung! 9:44 Ist man erst mal drin in der Mühle, läuft es von selbst. Auch wieder langweilig. Nur keine Tragik! 10:10  Erneut geht das Benzin aus und ich kann der Maschine ein wenig beim Leerlauf zusehen, stoisch. 10:40 Es ist genug, aber ich werde es noch anständig zu Ende bringen, systematisch permutierend, abbauend bis auf Null. Gut jetzt.

Zusatz (gehört nicht zum Protokoll) Die Wende ist da! Zwischen Sonate 9 und diesem Werk liegen Welten (aber nur 5 Lebensjahre). Nun, „Neo-Klassizismus“ à la Strawinski betreibt SF hier zwar nicht, aber eine gewisse anti-romantische und, vor allem, anti-tragische Ernüchterung glaube ich schon deutlich herauszuhören. Gut, es gibt weiterhin eine Unmasse an Tönen, es wird weiter „um’s Leben gespielt“, aber irgendein Zahn wurde in diesen 5 Jahren gezogen. Irgend eine ganz große Trauer, irgend ein ganz großes Pathos ist aus dem Weg geräumt (was nicht heißt, dass es nicht gelegentlich laut und vernehmlich nachdonnern darf). „Rekonvaleszenz“ fällt mir ein, halb scheint der Komponist noch heimgesucht zu sein von den gnadenlosen Gespenstern der Vergangenheit, halb versucht er, sich in der neuen, nüchternen, aber „realen“ Gegenwart zurechtzufinden. Noch scheint er kein rechtes „Gefühl“ für diese Gegenwart zu haben. Er nimmt sie in ihrer Sachlichkeit, die ihm eigentlich erst mal komplett zuwider ist, begeisterungslos (aber doch auch neugierig!) zur Kenntnis, frostig, mit sarkastischem Unterton. Er wehrt sich aber nicht mehr (etwas in ihm dagegen wehrt sich durchaus pausenlos mit Händen und Füßen, aber im Endeffekt scheint das nur eine Methode zu sein, nicht mehr benötigte Emotionen gefahrlos abzufackeln). Ja, der große Kampf ist gekämpft, ist ausgefochten, jetzt geht es darum, das Programm auszuführen: „Feinberg 2.0“, ab sofort.


„Feinbergiana“