Raab über KI

Aber wie soll es eine künstliche Intelligenz geben, wenn wir nicht wissen, was die natürliche ausmacht? […] Nach wie vor befinden wir uns im Kambrium der Intelligenz, und schon wollen wir diese durch Google ersetzen. Dabei müsste man nur an die eigene „Geworfenheit“ in prekären Situationen denken, um zu sehen, wie wenig wir über unsere Funktionsweise wissen. Noch bedenklicher ist, dass wir trotzdem … schon an der biologischen Substanz des Menschen herumdoktern, sodass die Gefahr besteht, diese so zu ändern, dass das menschliche Verhalten schließlich auf die (falschen statistischen) Theorien passen wird.

Thomas Raab: Für eine Einfühlung ins Ich, 2017 (S. 101)

Die kalten Schauer der Alternativlosigkeit

Thomas Raab (*1968)
Dies ist der österreichische Schriftsteller Thomas Raab (*1968), der keinesfalls mit einem anderen österreichischen Schriftsteller selben Namens (*1970) verwechselt werden sollte und mit der deutschen Medienpersona Stefan Raab (*1966) sowieso nicht.

Auf dem hauseigenen Spielplatz tummelten sich 1,1 Kinder pro Frau in gebärfähigem Alter. [S. 173]

„Die Netzwerk-Orange“ ist der meiner Kenntnis nach erst zweite Roman des nun auch schon 47-jährigen österreichischen Autors Thomas Raab, dessen Schaffen ich seit geraumer Zeit mit großem Vergnügen verfolge, denn Raab ist kein normaler Schriftsteller.

Eher betreibt er Literatur als Spielart zeitgenössischer Kunst, allerdings nicht im Sinn des 20. oder gar 19. Jahrhunderts. „Die Netzwerk-Orange“ ist also weder post-, noch retro-modern, weder avantgardistisch oder experimentell noch konservativ oder gar reaktionär (Gruß an Daniel Kehlmann an dieser Stelle). Es handelt sich auch nicht um ins Großartig-Literarische aufgeschäumte autofiction. – Aber was zum Teufel ist es dann? Das Problem ist, dass ich sehr wohl zu wissen glaube, was es ist, aber wie erkläre ich es der Leserin dieser Rezension, der ja evtl. tatsächlich weisgemacht wurde – und ich hoffe inständig, dass dem nicht so ist! – , D. Kehlmann repräsentiere den „Stand der Dinge“ in der zeitgenössischen deutschsprachigen Belletristik?

[Es folgt ein längerer Einschub über Raabs Inspirator Oswald Wiener, der nichts direkt mit der Buchrezension, die nach dem zweiten Sternchen ihre Fortsetzung findet, zu tun hat.]

*

Der Name Oswald Wieners, mit dem Raab eine Zeitlang eng zusammenarbeitete und dessen Einfluss für mich auf jeder Seite dieses unterhaltsamen, gescheiten und fast ganz unzynischen Buchs spürbar ist, wird dieser beflissenen, aber evtl. rein feuilletonistisch geprägten Leserin auch nicht weiterhelfen, die Tatsache, dass Wiener der leibliche Vater der Medienpersona Sarah Wiener ist, noch viel weniger.

Ich versuch’s trotzdem mal: Mitte des vergangenen Jahrhunderts schwappte die allgemeine intellektuelle und ästhetische Aufbruchstimmung in den Künsten auch ins provinzielle Wien, es entstand eine klassische Avantgarde-Formation namens „Wiener Gruppe„, deren Mitglied (neben dem teilweise damals schon konzeptuell arbeitenden Komponisten Gerhard Rühm; Ernst Jandl und Friederike Mayröcker standen der Gruppe nahe) ein gewisser Oswald Wiener war, von dem bis dahin noch niemand je etwas gehört hatte – und der nach kurzer, skandalreicher Zeit auch gleich wieder verschwand: erst nach Berlin, dann nach Kanada. Analog zu einem seiner damaligen Vorbilder Ludwig Wittgenstein hatte Wiener bis dahin exakt 1 Buch publiziert, welches er „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ nannte und das, in diesem Anspruch Wieners Künstlerfreund Dieter Roth nicht ganz unverwandt, Höhepunkt, Abschluss und Überwindung des Avantgardismus an sich darstellen sollte.

Gegen Ende des oft kryptischen, aber streckenweise hochgradig geistvollen Textkonvoluts (es ist kein Roman, sondern eine Sammlung literarischer Perfomances und Studien Wieners aus den 1960er Jahren) ändert der Autor plötzlich das Genre von Belletristik zu Wissenschaft. Stocknüchtern und ohne jede artistische Ironie werden dem Leser nun „notizen zum konzept des bio-adapters, essay“  vor den Latz geknallt und dieser damit, wie sich leider herausstellen sollte, endgültig intellektuell überfordert. Denn konnte man die „verbesserung“ mit ein wenig Mühe noch als radikalisierte Fortsetzung der Arbeiten von Richard Huelsenbeck bzw. des literarischen Dadaismus dekodieren, ging es beim „bio-adapter“ vermeintlich gar nicht mehr um Literatur, ja, nicht einmal mehr um Kunst und – o Graus! – scheinbar überhaupt nicht einmal um Ästhetik, sondern um: – Automatentheorie – die 1969 nicht wirklich im Zentrum allgemeinen intellektuellen Interesses stand

Wiener wurde in der Folge vom Mainstream-Feuilleton, wo er bis dahin, hätte es ihn denn interessiert, als eine Art Proto-Schlingensief sein Auskommen hätte haben können, umgehend exkommuniziert, verzeiht dieses doch der Belletristin zwar selbst die mieseste Kolportage, nicht aber den Gedanken, literarische Texte ließen sich „fabrizieren“ bzw. wären lediglich Produkt durchaus erschöpflich vieler kognitiver Prozesse. Die Informatik hat ihn aber – nach meinem Kenntnisstand – bisher auch nicht wirklich haben wollen, galt doch die (systematische und formalisierte) Selbstbeobachtung, der sich Wiener seit diesem Zeitpunkt gänzlich verschrieben hatte, diesem Fach bis vor Kurzem noch als wissenschaftlich gänzlich irrelevant. (Mein Kommentar zu einigen Sätzen des Wiener-Texts „Wozu überhaupt Kunst?“ aus dem Jahr 1980 findet sich hier.)

Oswald Wiener war also bei seinem Versuch einer naturwissenschaftlichen Erforschung ästhetischer Prozesse und Erfahrungen zunächst für 2, 3 Jahrzehnte in eine Art Niemandsland geraten. Erst seitdem die Automatentheorie „Künstliche Intelligenz“ heißt und vor einigen Jahren einsehen musste, dass Algorithmen Biomasse brauchen, um Mitteleuropa oder auch andere Weltregionen wirklich „verbessern“ zu können (fachlich Interessierte finden bsp.weise im Blog „Theory of Embodied Cognition“ von Wilson & Golonka reichlich Informationen zu diesem Themenkomplex), findet Wieners einsam-heroisches Schaffen wieder ein wenig mehr Beachtung (vor zwei Jahren wurde er gar von Denis Scheck interviewt, der sich u. a. über Wieners Meinung zu Senta Berger amüsierte – nun ja.)

Thomas Raab könnte – vom Geburtsjahr her – Wieners Sohn sein und auf seine ganz eigene, ebenso leichtfüßige wie hintersinnige Weise führt er auch wirklich die Gedanken seines in der Öffentlichkeit meist eher gereizt bis grantig rüberkommenden Vorbilds (siehe das Scheck-Interview) weiter.

*

Formal kommt „Die Netzwerk-Orange“ (Anthony Burgess‘ „Die Uhrwerk-Orange“ von 1962 lässt grüßen) als Science Fiction-Roman daher, leicht wohlstandsverwahrloste SprößlingInnen saturierter „Unions-„(sprich: EU-)BeamtInnen bzw. UnternehmensberaterInnen in einer „lokalen Hauptstadt“ (=Wien) rebellieren ein wenig gegen die vorformatiert und inauthentisch erscheinende Welt ihrer Eltern (wobei die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno als Empörungsfolklore eine gewisse Rolle spielt), ein Lehrbeauftragter für creative writing hat eine Affäre mit einer seiner Studentinnen, es kommt zum „Kommenden Aufstand„, aber am Schluss geht alles weiter wie bisher etc. – kann bzw. muss man aber alles selber lesen und zuviel spoilern will ich ja auch nicht 🙂

Das eigentlich Faszinierende an dem Roman ist, wie es Raab schafft, sein elaboriertes soziokybernetisches Wissen (vgl. auch seine empfehlenswerten Sachbücher „Nachbrenner“,  Suhrkamp 2005, und „Avantgarde-Routine“, Parodos 2008) immer wieder mal nonchalant in die Handlung einzubauen und gleichzeitig – rückkoppelnd sozusagen – den Plot als Illustration ebenjenes Wissens erscheinen zu lassen, ohne aus seinen ProtagonistInnen bloße PappkameradInnen zu machen (auf meine Weise habe ich vor einigen Jahren hier mal Ähnliches probiert, allerdings weit weniger kunstvoll 😦 ). „Soziokybernetik“ meint hier die Fähigkeit von staatlichen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Institutionen, gesellschaftliche Entwicklungen mit Hilfe von Big Data und potenter Algorithmen in erstaunlich präziser Weise zu antizipieren, ohne sie im herkömmlichen, philosophisch-hermeneutischen Sinn, zu verstehen bzw. verstehen zu wollen.

Exakt hier sind Raabs Gedanken anschlussfähig an Michael Seemanns Sachbuch „Das Neue Spiel“ aus dem Jahr 2014 sowie einige Gedanken von Jaron Lanier, er hat aber weder, wie Seemann, die Brille des Kulturwissenschaftlers, noch, wie Lanier, die des Ingenieurs bzw. Nerds auf. Stattdessen findet er eine Reihe effektiver literarischer Mittel (wörtliche Wiederholungen spielen eine Rolle, Meta-Ironie auch, sowie der Einbau nur leicht angepasster diverser „unliterarischer“ Textsorten wie technischer Protokolle, Marketing-Analysen etc.), um eine post-orwellianische, post-totalitäre, aber verblüffenderweise fast komplett gewaltfreie (ein großer Unterschied zu Burgess) Zivilisation zu skizzieren, die dem Individuum scheinbar alle Wahlfreiheiten lässt – und es gerade dadurch effizienter kontrolliert als jede stalinistische Erbmonarchie nordkoreanischer Provenienz. Diese sozial aufs äußerste segmentierte, aber eben gerade nicht individualdemokratische Massengesellschaft ist vom Autor der unsrigen so ähnlich nachgebildet, dass man beim Lesen ständig zurückprallt und zum Abgleich mit den eigenen Verhältnissen gezwungen wird, ohne jedoch den Eindruck zu haben, Raab wolle einen lediglich belehren.

Das Alleinstellungsmerkmal des BMW-Hyundai Turborange ist der Hass, den er in der Neuesten Linken zu entfachen imstande ist. [S. 120]

„Die Netzwerk-Orange“ schildert eine post-neoliberale („post-neoliberal“ soll hier eine Gesellschaft bezeichnen, die die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, besonders aber von Bildung und Erziehung, bereits hinter sich und nun mit den teilweise unerwarteten Konsequenzen dieses Umbaus zu kämpfen hat), im Grunde grauenhaft langweilige, weil (scheinbar) vollkommen transparente und somit ultrastabile Gesellschaft, die ebenso leidenschaftslos wie subtil von einem Rhizom aus staatlichen und/oder privatwirtschaflichen behavioral economists analysiert und somit letztlich eigentlich auch geführt wird:

Das Ministerium lieferte die Daten, der Markt regelte das Angebot, die Nachfrage zog nach. [S. 22]

Raabs Roman interessiert sich konsequenterweise nicht besonders für die im herkömmlichen Sinn „psychologisch überzeugende“ Schilderung von individuellem Erleben als vermeintlicher conditio sine qua non „belletristischer“ Literatur – was ihm das Feuilleton vermutlich nicht verzeihen wird, es wird dem Buch „Abstraktheit“ und „Kälte“ vorwerfen – , sondern eher für die soziopsychologischen Alleinstellungsmerkmale seiner ProtagonistInnen. Letztere erscheinen dabei – ganz wie im richtigen Leben – durchaus in keinster Weise als fremdgesteuerte Automaten, sind aber dennoch in nahezu jedem Detail ihres konkreten Verhaltens für die erwähnten staatlich-wissenschaftlich-ökonomischen Institutionen berechenbar geworden. Bei Raab umfasst dieses komplett überraschungsfreie Individualverhalten nicht nur den Konsum von Waren, sondern ebenso den gesamten Karriereweg, private Liebesverhältnisse sowie sämtliche soziokulturellen Ansichten und Gedanken der jeweiligen Person, Weltanschauliches und Ästhetisches mit eingeschlossen. (Eine Analyse der zeitgenössischen bildenden Kunst unter diesem Aspekt findet sich in Raabs Sachbuch „Avantgarde-Routine“.)

Das Gemeine an dieser literarischen Konstruktion, für die die Bezeichnung „Satire“ nicht wirklich passt, ist, dass man ihre Pointen immer nur so lange genießt, bis man sich in ihnen wiedererkannt hat:

Der Höhepunkt des ästhetischen Genusses in der moralisch gebildeten Elite war seit Jahrzehnten das Vermeiden jedes Höhepunktes. Konnte dies das jeweilige … Kunstwerk nicht selbst bewerkstelligen, … musste der avancierte Genießer eben … seinen … Schreck … in eine locker-humorvolle Stimmung umdeuten. [S. 67]

Das abendländische Individuum – so meine Interpretation von Raabs Dystopie – wurde also weder vom real existierenden Sozialismus, noch von der Dekonstruktion, sondern vom naturwissenschaftlich unterfütterten Marketing endgültig und nachhaltig seiner ein paar Jahrhunderte anhaltenden Vorrangstellung beraubt, indem es ihm ganz einfach erfolgreich weismachen konnte, Individualität lasse sich durch den Verbrauch käuflicher Güter erzeugen, bewahren, verteidigen und stärken.

Und selbst der standhafteste Konsumverweigerer entkommt dieser angeblich „ideologiefreien“ Meta-Erzählung nicht, solange er sich ausschließlich über die Konsumverweigerung definiert. Die „Abschaffung des Außen“ ist somit erreicht, jede denkbare Revolte wird früher oder später über soziokybernetische Feedback-Prozesse entschärft und die Welt stellt sich den gebildeten Ständen mehr und mehr als tatsächlich „alternativlos“ (A. Merkel) dar.

Das Individuum ist zwar frei wie nie, aber politisch komplett bedeutungslos geworden, weil die Erzeugung seines wie auch immer gearteten Freiheitsgefühls (vom Straßenkampf über alternative soziokulturelle Zentren bis zum obsessiven Fahrradfahren ist hier alles denkbar) mittlerweile mit verhaltensökonomischer Expertise je nach Bedarf simuliert und dadurch gefahrlos „abgefackelt“ werden kann. Dies entparadoxiert ganz gut eine der (für mich) irritierendsten Beobachtungen unserer Gegenwart: die Gleichzeitigkeit von zunehmender Individualisierung und zunehmender Homogenisierung der Gesellschaft. (Ausführliches zu diesem Thema inkl. jeder Menge kognitionswissenschaftlicher Expertise liefert Raabs Sachbuch „Nachbrenner“):

Je genauer die Welt berechnet werden kann, je weiter also das objektive Verständnis des Unterbaus voranschreitet, desto wirklichkeitsferner werden die Vorstellungen im Überbau. [S. 45]

Am Wichtigsten erscheint mir jedoch – und hier ist Raab seinem oft hermetischen, stets ein writers‘ writer gebliebenem Inspirator Wiener weit voraus – dass man diesen Roman auch ohne die von mir hier einigermaßen mühsam und einigermaßen erratisch geschilderten zivilisationsphilosophischen Hintergrundideen gut lesen kann, denn er ist ausgesprochen flott erzählt, reich an Pointen und zudem sprachlich sauber gearbeitet. Die kalten Schauer der Alternativlosigkeit werden einem trotzdem über den Rücken laufen.

Postskriptum 2015-08-03: Wer sich unter behavioral economics nichts vorstellen kann, dem sei John McMahons Rezension von Richard Thalers „Misbehaving: The Making of Behavioral Economics“ vom 15. Juli diesen Jahres empfohlen. Dort heißt es unter anderem:

Behavioral economics, when translated into government, public policy, and business, is best described as “choice architecture,” writes Thaler near the end of the book. The term speaks to the belief of Thaler—and, ultimately, of the field more broadly—that through the study of how people systematically act in ways inconsistent with economic rationales, behavioral economics can alter the environment of individual’s decision-making, enabling them to make ‘better’ choices without stronger, more obvious forms of coercion.

Eine um den Oswald-Wiener-Einschub gekürzte Fassung dieses Artikel habe ich am 11. August in meinem Community-Blog beim Freitag veröffentlicht. Die Debatte dazu lässt sich hier verfolgen.

Nicht schon wieder! Ironiekritik

To live ironically is to hide in public.

(Ch. Wampole, How to Live Without Irony, 2012)

Der Ironiker ist nichts als bequem, wenn er lässig auf etwas zeigt, was er „eigentlich“ gar nicht mag und damit (uneingestanden) ängstlich verbirgt, was er wirklich zeigen will. Er thematisiert das Zeigen an sich und glaubt, dabei auf einem höheren Reflexionsniveau zu stehen als der „Inhaltist“. Das ist zwar kurzfristig richtig, führt aber langfristig in die soziokulturelle Endlosrekursion.

Martin Kippenberger: "Helmut Newton für Arme", 1985
Martin Kippenberger: „Helmut Newton für Arme“, 1985 (zum Vergrößern anklicken)

Subversiv wirkt das ironische „Zeigen des Zeigens“ nur innerhalb monokultureller bzw. hegemonialer Strukturen. Martin Kippenbergers anti-sozialdemokratische Ironie hat in den 1980er Jahren hervorragend funktioniert. Heute ist sie Teil der Kunstgeschichte (wenn auch ein tatsächlich erfrischender), denn der „Sozialdemokratismus“ als soziokulturelles Dispositiv ist längst vom Neo-Liberalismus, und dieser vom digitalen Kapitalismus abgelöst worden.

(Nebenbemerkung: Dasselbe gilt für Johannes Kreidlers Konzeptualisierung der „Neuen Musik“ heute: Sie wäre unspektakulär, gäbe es da nicht ein Meta-Narrativ, das „Neue Musik“ weiterhin als direkten Ausfluss des Weltgeistes, negativtheologisch oder kunstreligiös versteht – keinesfalls aber „relational“.)

*

One cannot accelerate meaningful remembrance.

(Ch. Wampole, a. a. O.)

Das Massenphänomen „Retro“ (von Instagram bis bsp.weise zum all-wochenendlichen Reenactment der Lebenswelt des „Mittelalters“) fungiert als aufgestaute Emotionen abfackelndes Spektakel im Sinne Thomas Raabs:

So ist es für den Einzelnen … zumindest kurzfristig wirtschaftlicher, sich der Unterhaltung hinzugeben, als sich etwa anzustrengen, das Funktionieren von Unterhaltung am eigenen Leib zu verstehen.

(Th. Raab, „Nachbrenner“, 2006, S. 78 f.)

Dem Retro-Fan ist die Gegenwart oft unerträglich, weil zu komplex, zu widersprüchlich, zu wenig fassbar, kontrollierbar, berechenbar etc. – oder sie erscheint ihm, in Schirrmachers paranoider Variante, als ausschließlich „berechnet“. So sehnt er sich nach einer umfriedeten Welt, wo – für die Gegenwart scheinbar „unpassende“ – Bedürfnisse wie Nostalgie, kindliches Herumalbern oder Einfach-mal-jemand-anderes-sein-wollen folgenlos ausgelebt werden können. Das geht ganz gut, wenn man sich bsp.weise in eine historische Epoche imaginiert, in der man selbst niemals gelebt hat. Jegliche Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit wird so ausgeschlossen. Sie könnte schließlich schmerzhaft sein – und wenn die Eskapistin irgendetwas nicht sucht, dann die schmerzvolle Auseinandersetzung mit seiner Individualität. Stattdessen glaubt er, sich, zumindest temporär, zu entlasten, um damit neue Energie für die Gegenwart schöpfen zu können.

Werch ein Illtum!

Wieder im Heute, fühlt man sich noch ein Stück fremder im kalten Jetzt und ist zudem mehr denn je davon überzeugt, dass „früher“ alles besser war (obwohl einem ja eigentlich klar ist, dass dieses „Früher“ ein lediglich eingebildetes ist) – was dann sowohl die Verachtung der Gegenwart als auch die Sehnsucht nach dem „Anderen“ weiter befeuert: eine Spirale der Entfremdung.

*

The ironic frame functions as a shield against criticism.

(Ch. Wampole, How to Live Without Irony, 2012)

Denn natürlich ist „professionelle“, sprich habitualisierte Ironie nicht an sich moralisch bedenklich. Im Gegenteil,

Die Ironie ist der normative Kitt, mit der die postmoderne Gesellschaft immer noch zusammengehalten wird, über die sie sich immer noch ein positives Selbstbild zu geben vermag. Sie ist in der Lage, einen kulturellen Gemeinsinn zu stiften, welche der Pluralität der sozialen Verhältnisse angemessen ist und als basales Instrument gesellschaftlicher Kontingenzbewältigung in einer Zwischenzeit optimal funktionierte.

(H. Lehmann, „Neutralisierte Indifferenz„, 2007)

Doch was passiert, wenn ironische Lebenshaltungen hegemonial werden? Eine ursprünglich intelligente und durchaus ehrenwerte Strategie erodiert zum Nihilismus. Das Problem ist, dass diese subtile, aber folgenschwere Wandlung gar nicht so leicht zu erkennen ist:

Der Zyniker lacht ein letztes Mal über das moraline Selbstbild der Ironiker und verhält sich ansonsten aus Mangel an Alternativen genauso wie sie im angestammten Kulturhabitat – was hinzukommt, ist die Verachtung, mit der er es tut.

(H. Lehmann, „Neutralisierte Indifferenz„, 2007)

Ich habe diesen Artikel zeitgleich in meinem Community-Blog beim Freitag veröffentlicht. Die Debatte dazu lässst sich hier verfolgen.

Wie Arsch auf Eimer

Wie ist diese Dissipationsmöglichkeit in den Individuen strukturell realisiert? Daß verkapselte Strukturen [Definition siehe unten, S.H.] und erste Prä-Modelle [s. u., S.H.] um so wirksamer zur Geltung kommen, je einfacher die Modellwelt [s. u., S.H.] des Organismus ist, wurde gesagt. Am unmittelbarsten wirkt in dieser Hinsicht die Musik, die entsprechend häufig den jeweiligen „Geruch“ innerhalb einer Subkultur bereitstellt. Nehme ich meine Entwicklung als Beispiel, so war dieser „Geruch“ ab dem Alter von etwa sechzehn Jahren die populärere Musik von Außenseitern (in bezug auf mein Herkunftsmilieu). Die Vorbilder in diesem Genre zeichneten sich durch eine Rebellenpose aus, die mich anzog. Der musikalische Aspekt selbst scheint im Rückblick weniger wichtig gewesen zu sein als die Identifikation mit dem Außenseitertum plus Zugehörigkeit zur Subkultur. Die Musik selbst ist bei nüchterner Betrachtung durch einfache, fast immer doppelmetrische Rhythmen charakterisiert, welche von Prä-Modellen akzeptiert werden können, die bereits in der frühen Kindheit durch Kinderlieder erlernt werden. Elementarer noch wirkt das für dieses Genre typische Verzerren der Gitarrenakkorde: Diese Klänge können unsere verkapselten Strukturen nicht weiter „parsen“. Allein schon deswegen können sie nicht durch Modelle strukturiert werden und bewirken daher kleine Orientierungsverluste. Die auf Konzerten dieser Bands eingesetzten Beleuchtungstechniken sowie die Lautstärke der Musik sorgen zusätzlich für ausreichend autonom hergestellte Aspektverluste, so daß die affektive Wirkung gesichert war.

Thomas Raab: Nachbrenner Zur Evolution und Funktion des Spektakels (2006), S. 142 f.

Begriffsdefinitionen nach Raab S. 89 f.:

  • Verkapselte Strukturen“ adaptieren sich weder an ihre Umwelt, noch ist ihre Funktion durch Zugriff von genetisch jüngeren Strukturen … beeinflußbar. Sie sind strukturell statisch. Typischerweise handelt es sich um Rückenmarksreflexe sowie die untersten Stufen der sensorischen Verarbeitung, die physikalische Impulse (z. B. Lichtteilchen) in bereits strukturierte Sinnesoberflächen transformieren. Trotz ihrer Statik und ihres phylogenetischen Alters sind sie in Notfällen die zum Überleben des Organismus notwendigsten Strukturen.
  • Prä-Modelle [sind] … durch phylogenetische Selektion im Organismus bloß „angelegte“ Strukturen, die daher „Erlernen“ durch aktive, „spielerische“ Einübung erfordern. Im Gegensatz zu verkapselten Strukturen sind sie dynamisch, d. h. sie passen sich im Zuge ihres Gebrauchs immer genauer an die Umwelt an … In ihrer Genese fußen sie auf der Strukturierung von Reflexen. Sowohl „verkapselte“ Strukturen als auch Prä-Modelle rechnen sensorische Inputs ohne Intervention von Modellen in motorische Outputs um.
  • Innere Modelle sind Strukturen, die durch Lernen im Zuge der Interaktion des Organismus mit der Umwelt ontogenetisch gebildet wurden. Sie sind „dynamisch“, da sie sich im Zuge der Interaktionen mit der Umwelt permanent weiterentwickeln können. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie im Gegensatz zu verkapselten Strukturen und Prä-Modellen Zeichenketten auf einem internen Schirm unmittelbar generieren und durch Modellkonstruktion immer „feiner“ strukturiert werden können. Der Schirm ist eine Sammelbezeichnung für die Output-Vorrichtungen aller gerade aktualisierten Strukturen; durch ihn können intern generierte Zeichenketten anderen Strukturen zugänglich gemacht werden. Um Zeichenketten auf dem Schirm zu generieren, müssen die generierenden Modelle von der Sensomotorik abgekoppelt sein.