Schlagwort: Würzburg
Fotoarbeit der Woche : KW 50 : Übergang (Würzburg), 2017
Schokofestung
Ende Oktober des vergangenen Jahres publizierte der Verlag „selekt“ das Buch „Lebensart genießen – in und um Würzburg„, das sich als erweiterter Adressführer zu den Themen „Essen, Trinken, Ausgehen – Wohnen, Mode, Schmuck – Kunst, Kultur, Natur“ (äh, noch was?) in Würzburg versteht.
Ok, Marketing – klar.
Ich habe bisher keinen Blick ins Buch geworfen (nicht mal auf Amazon), aber das Titelmotiv fasziniert mich nachhaltig. Was sehen wir? Ein strahlend weißes, abweisend-wehrhaftes Gebäude (die Festung Marienberg) ruht, scheinbar sicher, in Wirklichkeit aber durchaus prekär, auf einer amorphen braunen Masse, von der ein paar Bröckchen im Vordergrund verstreut liegen.
Wow, eine hintergründigere, treffendere und mutigere Metapher für Wesen und Geschichte der Stadt Würzburg lässt sich kaum finden.
Bravo, „selekt“!
Dittmanns Hafensommer 2012 (4 von 4): Arnottodrom, Gabby Young & Other Animals
Zu Dittmanns Hafensommer (3 von 4): Supersilent feat. John Paul Jones
9.8., und ich bin total Gabby-fiziert. Was für ein wonniger Donnerstag! Aber der Reihe nach.
Erst spielt das Akkordeonduo Arnottodrom, bestehend aus Otto Lechner, dem Ray Charles des Accordion Tribe, und Arnaud Méthivier als karottenschöpfigem Pumuckl, „imaginäre Folklore“ von höchster Sophistication. In ihrem durchgehenden Flow aus melodiösen Kapriolen und pulsierenden Begleitfiguren wechseln sie ständig die Führungsposition. Der Franzose klopft zu dieser „Volksmusik“ für vogelfreie Kopffüßler immer wieder mit der Fußmaschine auf dem Cajón, auf dem er sitzt, sture Viertel, einen Technobeat, der diese Musik endgültig verstädtert. Erstaunlich, wie er mit links auf seinem Knopfakkordeon einen Basspuls drückt und mit rechts kleine Melodien fingert, wie sein österreichischer Partner sein Pianoakkordeon in tiefen Registern knurren lässt, wie er den Korpus als Handtrommel beklopft, mit dem Daumen über die Keys ratscht, wie sein kehliges Scatten mit der hysterischen Pumuckelstimme kontrastiert. Méthivier liefert grundsätzlich zu jeder seiner Noten noch die mimische Übersetzung für Gehörlose mit. Nach einer Dreiviertelstunde erschlafft der Zauber leider auf einer Durststrecke in andächtigem Piano und in Zeit schindendem Genudel, das mich schläfrig der Leuchtspurmunition am Himmel nachstarren lässt. Doch die ersten 45 Minuten waren allemal den begeisterten Beifall wert.
Zeit für Gabby Young & Other Animals. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass der Rotschopf aus Bath im quietschbunten Petticoat derart handfest und barfuß den Hafensommerabend aufmischen würde. Als Temperamentsbündel mit umwerfender Stimme und einer Ausstrahlung, als wären ihr Allüren wesensfremd, bietet sie mit ihrer von Stephen Ellis angeführten Kapelle, die mit Geige, Trompete, Posaune und Tuba Lebensgeist versprüht, Unterhaltung, die Adele, Caro Emerald und gut und gern 170 Hippies vergessen lässt. Seit der World/Inferno Friendship Society habe ich kein so tolles Twisted Cabaret mehr erlebt. Kesser 20er-Jahre-Swing wie „Ones That Got Away“, der Kasatschok „Ask You A Question“, kompetitiver Rabatz wie „Horatio“, dazu die bittersüße Hymne „We Are All In This Together“ mit Banjozupfern als Ohrwurm und der Geisterwalzer „Whose House (Are You In?)“ lassen selbst in einem Mitklatsch- und Mitsingmuffel wie mir Gedanken an eine Wiedergeburt als Partyanimal aufkommen. Wenn Gabby bei „Sour“ mondän tut und bei „Maybe (I am not as normal as You thought)“ die Kehrseiten ihrer Engelsnatur bekennt und prompt eine Tarantella anstiftet, wenn sie offenherzige Liebesbekenntnisse wie „Male Version Of Me“ und „Honey“ allein auf der Gitarre anstimmt, wer würde ihr da nicht aus der Hand fressen? Tierlieb zu all ihren Animals, macht sie sogar Aliens zutraulich (zumindest interpretiert sie so die Lichtstreifen am Nachthimmel). Mir fehlen die Worte für Gabbys ungezwungene Manier, sich mit Tee zu stärken, ihre Bestleistungen als Ausfluss von Lebensfreude, Eigenwillen und guter Kameradschaft zu präsentieren und kollektive Euphorie zu stiften.
Autor: Rigobert Dittmann
Offizielle Fotos vom Abend: Arnottodrom, Gabby Young & Other Animals
Dittmanns Hafensommer 2012 (3 von 4): Supersilent feat. John Paul Jones
Zu Dittmanns Hafensommer (2 von 4): Stian Westerhus, Nils Petter Molvær
Nachdem einige schon bei Westerhus zusammengezuckt waren wie die Katze wenn’s donnert, dürfte Supersilent feat. John Paul Jones so manchen das Fell ganz über die Ohren gezogen haben. Leider ist für ihren Auftritt am 1.8., dem einzigen in Deutschland übrigens, Arve Hendriksen verhindert, so dass den Bassisten von Them Crooked Vultures – um ihn nicht immer bloß auf das Eine festzunageln – nur Stale Storløkken links an Orgel und Keyboards und Helge ‚Deathprod‚ Sten rechts an Gitarre und Samplingkeyboards flankieren. Eine Basskontrolle ergibt, dass Jones auch nicht mehr Saiten bewegt als andere Bassisten. Wenn man es überhaupt noch Bassspiel nennen will. Seine Finger fingern jedenfalls mehr mit den Kyma-Programmierungen herum, als auf dem Bass. In den ersten Anläufen blockiert, nach meinem Dafürhalten, diese Fixiertheit auf die Tools und Gimmicks noch weitgehend eine halbwegs einleuchtende Formgebung. Das freie Improvisieren, in dem Storløkken den melodischen, gelegentlich sogar süßen und hymnischen Pol bildet, nimmt schließlich aber doch Gestalt an. Aber entgegen den Erwartungen der promigeil proppenvollen Ränge ist es die Gestalt von giftigem Breakcore-Noise, den Sten dermaßen boxenmörderisch von den Tasten triggert, dass sich die Reihen merklich lichten.
Zwischen diesen Attacken, in denen die Norweger ihre halsbrecherische Frühphase rekapitulieren, mehr aber noch an den krassen Breakcore von Venetian Snares anknüpfen, versuchen die drei sich an milderen Klangflächen, für die Sten mit dem Rücken zum Publikum die Gitarre einsetzt und Jones die diffusen Soundpixel möglichst flach schwirren lässt. Aber dann brausen einem wieder 120 dB durch Mark und Bein, die Sten nie anders als extrem garstig, abrupt und ultrakakophon aufbereitet, indem er jeden Takt x-mal übers Knie bricht oder Glas zerdeppert oder durch pratzelnden Noise unbedingt die Sicherungen durchbrennen lassen will. Trotzdem gibt es dafür genug Beifall für eine Zugabe und hinterher sogar Autogrammwünsche. Die Zugabe zeitigt, gewittrig erhaben, die eindrucksvollsten Minuten des ganzen Abends. Unser „Hafensommer-Stammtisch“ zollt dem risikobereiten, kompromisslos anstößigen Ansatz Respekt. Fans tiefer Frequenzen, schräger Rhythmen und klanglicher Kuriositäten kamen locker auf ihre Kosten, fanden es spannend und einige ernsthafte Spaßvögel fanden …silent sogar super.
Autor: Rigobert Dittmann
Offizielle Fotos vom Abend: Supersilent feat. John Paul Jones
Dittmanns Hafensommer (4 von 4): Arnottodrom, Gabby Young & Other Animals
Dittmanns Hafensommer 2012 (2 von 4): Stian Westerhus, Nils Petter Molvær
Zu Dittmanns Hafensommer (1 von 4): Elliott Sharp, 17 Hippies
Freitag, der 27.07., bringt zuerst wiederum ein Gitarrensolo. Der junge Stian Westerhus zeigt als Support für Nils Petter Molvær, aus welchem Stoff seine Pitch Black Star Spangled-Welt beschaffen ist. Nicht gerade dem, womit man einen wieder brühwarmen Sommerabend beschallt. Eher dem verwandt, was man nebenan im Heizkraftwerk verheizt. Man hat ihn mit Georg Baselitz verglichen, wohl weil er die Gitarrenwelt auf den Kopf stellt. Indem er unermüdlich über seinen Pedalen tanzt und stapft, gospelt er mit schroffen, beißenden und abgehackten Sounds ragnarökisch. Auf seinen Saiten, von denen er zwei abreißt, scheinen, durch Reverb-, Distortion-, Delay- und Loopeffekte und durch Bowing zugleich angestachelt und gezügelt, die Riesenwölfe zu rumoren, die sich am Doomsday die Bäuche mit Sonne und Mond vollschlagen werden. Der da so struppig daher kommt wie ein zweiter Johnny Rotten, nannte als eine seiner frühesten Erinnerungen Mike Oldfields „Moonlight Shadow“ vom Kassettenrekorder seiner Schwester, zählt Ligetis „Requiem“ und „Reign in Blood“ von Slayer heute noch zu seinen Wegweisern, schätzt alles von Ingmar Bergman und las erst kürzlich Célines „Reise ans Ende der Nacht„. Er triggert stotternde Stakkatos, schaukelt sich hoch in orchestrale Opulenz, wird mit dem Geigenbogen „eery“, zapft Feedback aus der Box, rekapituliert im finalen Satz seines hochdramatischen Sets noch einmal alle Phasen seines Ringens, die turbulenten wie die sanglichen, um als zarter „Geiger“ zu enden, erschöpft, aber – zurecht – stolz auf die ringsum wie gebannten, schwer beeindruckten Ränge.
Nach der Verschnaufpause bildet Westerhus den linken Flügel in Nils Petter Molværs „Baboon Moon“-Trio. Dritter Mann ist Erland Dahlen, der vor zwei Jahren schon im Eivind Aarset Sonic Codex Quartet auf der schwimmenden Hafensommer-Bühne getrommelt hat. Dass Aarset wiederum Westerhus‘ Vorgänger an Molværs Seite war, verrät, wie eng verzahnt die norwegische Szene ist. Aber wie soll das gehen, so ein Bad Boy mit schmutzigen Fingernägeln und Molværs melodischer und harmonischer Nu Jazz? Den Trompeter, den ECM einst als modernistischen Erben von Jan Garbarek etabliert hat, kenne ich bisher als geschmeidigen Weichzeichner eines melancholischen und pastoralen und zugleich futuristisch geölten Norwegens, wobei da vielleicht auch noch Jon Hassells Traum nachwirkt, dass schönere Welten möglich sind. Entsprechend auf interesseloses Wohlgefallen eingestellt, bläst der vehemente Einstieg der drei meine ganzen Vorstellungen über den Haufen. Was folgt, ist der dynamischste Jazzrockset, den man sich nur wünschen kann. Dahlen erstaunt als Taktgeber, der harte, fast wie elektronisch scharfe Beats und eine Klangpalette feiner Cymbal- und Gongschwingungen bis hin zu Glockenspiel und sogar Hang souverän unter seinen Hut bringt – und wenn er dann auch noch singt, gibt das diesen besonderen Momenten den letzten Kick. Auch Molvær, dessen elektrifizierte Dynamik kaum druckvoller sein könnte, singt mehrfach in den Trompetentrichter und macht damit träumerische Passagen noch etwas mysteriöser. Eines der zarten Highlights ist eine Mondscheinserenade für Singende Säge und „gegeigte“ Gitarre. Gespielt wird ein einziges zusammenhängendes und offenbar intuitiv gesteuertes Auf und Ab mit einer Reihe von heftigen Ausschlägen, verwoben durch zeitvergessene Minuten, in denen nur noch Stäubchen im Licht oder Schneeflocken zu tanzen scheinen, Momente, in denen nur ein Hauch bleibt oder ein Schimmern, durch das die abendlichen Schwalben flitzen. Bis Molvær wieder ins Horn stößt und Westerhus seine Stakkatos stottert oder über die Saiten streicht. Mit seinem allerfeinsten Zirpen verklingt ein denkwürdiger Abend, der meinem Neid auf Norwegen wieder einen kräftigen Schub gibt.
Autor: Rigobert Dittmann
Offizielle Fotos vom Abend: Stian Westerhus, Nils Petter Molvær
Dittmanns Hafensommer (3 von 4): Supersilent feat. John Paul Jones
Dittmanns Hafensommer 2012 (1 von 4): Elliott Sharp, 17 Hippies
Zum Vorwort
Der 6. Hafensommer beschert mir am 25.07.2012 meine erste Begegnung mit den 17 Hippies. Eigentlich sollten die mir gefallen, spielen sie doch „Imaginäre Folklore“, echter als echt. Das, wenn man nachzählt, glatte Dutzend Männlein und Weiblein schnappt aus der Berliner Luft, was der Ostwind und der Balkanexpress mit sich bringen, und mischt das zu einem Potpourri aus flotten Freilachs („traditioneller jüdischer Tanz aus dem Umfeld der Klezmer-Musik, der besonders gern auf Hochzeiten gespielt wurde“ [Wikipedia]), Sîrbas und Kolomyjkas, gewürzt mit Chansons, einigen Ausläufern auf der Atlantikroute und hessischem Rap. Mir geht das alles zu schnell, diese Lumpen-am-Stecken-Tollerei und Hits wie die „Frau von Ungefähr“ oder „Six Green Bottles“ hören sich schon nach der dritten Variation irgendwie einerlei an. Inmitten der ständig rochierenden Tröter, Fiedler, Zupfer und Akkordeonspieler ist ausgerechnet Lüül, der legendäre Agitation Free-Mann und einst Nicos Lebensgefährte so unscheinbar, als wäre er gar nicht dabei.
Aber, ehrlich gesagt, hat mich auch nicht diese Allerweltsversion von Russendisko hergelockt, sondern Elliott Sharp. Mit seinem kahlen Schädel eine der markantesten Gestalten der Downtown-Szene, spielt er als Auftakt des bullenstallwarmen Abends ein, wie mir scheint, etwas überambitioniertes Sologitarrenset, das leider nicht so effektvoll gelingt, wie ich mir das für’s Wiederhören nach so langer Zeit erhofft hatte. Bluesige Dobro-Anklänge, seine typischen Tap-Techniken, Slide- und E-Bow-Drones, oft noch durch Pedal- und Computereffekte frisiert, können doch so manche kahle Stellen nicht verdecken, auch wenn einige der verblüffenden Sounds das Potential verraten.
Dass das riskante Machen von lebendiger Musik – um Livemusik einmal beim Wort zu nehmen – neben ihrer bloß routinierten Wiedergabe doch seine besonderen Reize hat, zeigt, als ich innerlich schon heimgehen will, ansatzweise das Zusammenspiel von Sharp mit den 12 Hippies. Christopher Blenkinsop integriert Sharps Gitarrenbizarrerie als eine Art Diva ins Hippiekollektiv, das er per Konduktion, sprich vorab verabredeten Handzeichen, in einen konzertanten Klangkörper verwandelt, um ihn dann doch durch die Manege zu jagen und durch Reifen springen lassen. Das klingt ein wenig wie John Zorns Cobra auf spaßig, und Sharp schlägt sich, auch wenn er manchmal den Eindruck macht, als wisse er nicht, wie ihm geschieht, tapfer als Breakdancer auf einem Bein. Es wirkt aber schon ein wenig so, als hätte man ihn für diese Schnapsidee an den nicht vorhandenen Haaren herbei gezogen.
Als Grande Finale werden die Tanzlüsternen noch einmal ums Goldene Kalb gejagt, und Blenkinsop ist von seinen „magischen“ Händen so begeistert, dass er gleich noch die Standing Ovations mitdirigiert. Sharp hat sich da von seinem Zenit als unfreiwillige Stimmungskanone schon wieder verkrümelt.
Autor: Rigobert Dittmann
Offizielle Fotos vom Abend: Elliott Sharp, 17 Hippies
Dittmanns Hafensommer (2 von 4): Stian Westerhus, Nils Petter Molvær