Lektüretagebuch 2021

2021-01-16 Karamasow, immer noch Karamasow, aber ich verliere die Lust, herauszufinden, ob es denn nun 1.500 oder 3.000 Rubel waren, die Dimitri bzw. Mitja verprasst hat.

2021-01-19 Am überzeugendsten und interessantesten erschienen mir bisher die Passagen über das orthodoxe Mönchstum und den volkstümlichen Wunderglauben, verkörpert in der buchstäblich wunderlichen Figur des Starez, dessen postmortaler Verwesungsgeruch sogleich als möglicher späterer Heiligsprechung nicht zuträglich qualifiziert wird. – Eigentlich macht der ganze Roman nur Sinn, wenn man ihn als vielgestaltige Meditation zum Thema „Die abgrundtiefe Differenz zwischen Selbst- und Außenwahrnehmung“ begreift, denn alle zentralen ProtagonistInnen sind ja den ganzen Tag und den ganzen Roman über damit beschäftigt, sich und ihrer Umwelt ein idealisiertes Bild ihrer Selbst vorzuspielen. Und alle scheitern sie, wenn auch eine jede auf ihre Weise. Einzig Lisaweta die Stinkende erscheint in diesem Licht als authentisch, wenn auch lediglich mangels kognitiven Spielraums.

2021-01-31 Ich kann mich nicht erinnern, das Ende eines Romans jemals stärker herbeigesehnt zu haben als im Falle der „Gebrüder Karamasow“ (=“Gebrüder Sacher-Masoch“). Das Schlimmste ist, dass ich weitgehend das Interesse an den Hauptfiguren verloren habe, ihr Schicksal wurde mir gleichgültig, ihre Individualpsychologie wurschtig. Mehr & mehr knisterte das Papier zwischen all den vergossenen Tränen. Die These, dass das „Ich nicht Herr im eigenen Hause“ sei (S. Freud) hat der Autor ja nun längst mehr als genug und auch schlagkräftig genug verifiziert, also warum müssen alle Hauptfiguren immer noch weiter „am ganzen Körper zittern und fast in Tränen ausbrechen“, während sie heilige Eide schwören, die sie dann doch schon auf der nächsten Buchseite wieder brechen? Die Antwort weiß wohl allein der über-ambitionierte Autor. Es bleibt ein schaler Nachgeschmack, schade!

Und jetzt zu etwas komplett Anderem: Mein Bedürfnis nach nüchtern-präziser science fiction war im Lauf der Dosto-Lektüre in schon bedenklicher Weise gewachsen. Auf meinem Merkzettel fand sich schließlich Cory Doctorows vielgerühmter Roman „Down and Out in the Magic Kingdom“ aus dem Jahre des Herrn 2003 und so besorgte ich mir den und begann sofort mit der Lektüre – auch, um diesen süßlichen Nachgeschmack Karamasow’scher Provenienz loszuwerden. – Nun, Letzteres ist zweifellos gelungen, aber um welchen Preis!

2021-02-02 Wo bei Fjodor Michailowitsch Überfülle herrscht, regiert bei Doctorow die Kargheit. Kargheit im Stil, im Dialog, in der Emotionalität seiner nur schemenhaft skizzierten ProtagonistInnen. Und wo bei Dosto jede Buchseite Tragik und Irreversibilität schreit, quillt einem in der von Doctororw skizzierten Welt überall die Schalheit des Hedonismus und umfassender Reversibilität entgegen. Denn der Tod und die Knappheit an Energie sind hier aus Gründen, die der Roman nie erklärt, abgeschafft. Die soziokulturellen Konsequenzen dieses „Homo Deus“-Events (Y. Harari) sind das Thema des Buchs. Im Grunde lebt die Menschheit nun ja im Paradiese, es gibt jedoch, ahnt der Autor, ein paar unangenehme Nebenwirkungen, v. a. in der Erosion von Moral und Ethik. Mord bsp.weise gilt zwar weiterhin als verwerflich, hat aber eben keine unwiderruflichen Konsequenzen mehr, da der/dier Ermordete sogleich als Klon seiner selbst wiederauferstehen kann. Ich habe nicht den Eindruck, dass Doctorow der Größe seines selbstgewählten Sujets gerecht wird. Der Plot wird ausgesprochen eng geführt und kreist um das Alltagsgeschehen von nur drei Personen, Exkurse zu juristischen und/oder politischen Konsequenzen der Abschaffung des Außen vermisst man weitgehend. Der Text ist Philip-K.-Dick-mäßig dialoggetrieben und evtl. sogar schon auf eine evtl. Verfilumung hin optimiert. Es ist also ein typisch mittelgutes Buch (drei Sterne von fünf), dass allzu viel verschenkt. Groß gedacht, mäßig ausgeführt.

2021-02-07 „Walkaway“ von Cory Doctorow aus dem dem Jahr 2017: Jetzt wird mir klar, warum die Fachwelt diesen Autor so schätzt: C.D. ist ein richtig guter, „saftiger“ SF-Autor der Gegenwart mit linker bzw. globalisierungskritischer Weltsicht. Er ist in allen wesentlichen Debatten der Gegenwart (KI, Was heißt Denken?, Neoliberalismus, das Ende der liberalen Demokratie, Klimakrise, Plutokratie, das Verschwinden der Lohnarbeit und ihre möglichen Folgen, Wohlstandsverwahrlosung) drin und die werden auch sorgsam abgebildet. Fast schon zu sorgsam und eifrig manchmal, schließlich soll es ja wohl doch ein Roman sein und kein Sachbuch, aber gut. „Walkaway“ ist nicht nur viermal so lang wie „Down and Out…“, siehe oben, es ist aufgrund der kompetent geschichteten Details auch viermal so überzeugend. Schon lange nicht mehr so viel und ausdauernd gelesen, sehr gut!

2021-02-14 Aber was umgotteswillen lassen sich die HiTech-Hippies, also diese Walkaways, denn zuschulden kommen, dass sie die Default-Welt so unendlich hasst? Auf Seite 237 lässt es der Autor eine seiner Figuren explizit machen:

Trespassing. Theft. Theft of trade secrets. Piracy on an unimaginable scale. Circumvention of lawful interception facilities in fabricators. Production of scheduled narcotics. Unlicensed production of potentially lethal pharmaceuticals. Fabrication of military-grade weapons, including mechas and a variety of U.A.V.s. Unlicensed use of electromagnetic spectrum, including uses that can and do disrupt emergency, public safety, and first-responder networks.

Cory Doctorow: „Walkaway“, 2017 (S. 237)

Walkaways sind also „Technik-Piraten“ im engeren Sinn, die Karl Marx ganz wörtlich nehmen und das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht anerkennen. Hippie-esk sind sie lediglich in dem Sinn, dass sie Gewalt nur zur Verteidigung einsetzen. Allerdings fällt diese Gewalt im Verlauf des Romans so gewaltig aus, dass die Gegengewalt der Walkaways dann irgendwann schon nach professioneller Kriegsführung ausschaut. Die interessanteste Idee des Romans ist das autopoietische Prinzip, nach dem die Walkaways ihr Sein, äh, (des-)organisieren, das angeblich niemand in der Community zu irgendetwas zwingt, auf dass sie gerade keinen Bock hat und auf magische Weise jede irgendwann an den Platz im Geschiebe transportiert, wo sie ihr Bestes geben kann. Damit das nicht zu idealistisch klingt, lässt der Autor dieses Prinzip immer mal wieder ein bisschen scheitern, aber nicht bzw. nie im Grundsatz. Eine andere, bessere Welt ist möglich, heißt das wohl unterm Strich. Like.

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