Antrittsvorlesung von Prof. J. Kreidler (HfM Basel), kommentiert

Ja, richtig gelesen: „Prof.“. Der umtriebige ästhetische Anarchist, dem die Weltsicht nahezu von Anfang (2011!) an aufmerksam und gelegentlich kommentierend folgte (für eine Übersicht bitte auf „Verschlagwortet mit: Johannes Kreidler“ unten klicken), ist nun zum Kompositionsprofessor an einer Schweizer Uni avanciert. AUSGEZEICHNET! Die Welt ist doch reformfähig! Wir werden den Virus besiegen!

 

 

Merkwürdig nur, dass für Anarchie bzw. das, was ich seit neuestem gerne Grillen nenne, in Johannes‘ Ausführungen nicht so recht Platz zu sein scheint. Wüsste ich nicht, dass er eine Professur für Komposition antritt, ich könnte es aus dem, was er sagt, kaum herauslesen und würde eher auf Philosophie oder Kulturwissenschaft tippen, so sorgfältig umgeht er in seinen Ausführungen das Thema Kreativität im Sinn von intuitivem Erschaffen, unkalkuliertem Unsinn, Kinderei, spontaner Kreation, Willkür, Improvisation, Spinnerei, Zufälligkeit. Komponieren besteht für ihn vielmehr, verdichtet ausgedrückt, in der proaktiven Re-Kontextualisierung stets bereits verbal apperzipierter „kultureller Apriori“ (JK). Der einzige Bereich, wo er noch „Materialfortschrittsmöglichkeiten“ sieht – und da bin ich übrigens ganz bei ihm – ist die „Mikro-Intervallik“.

Damit das klar ist, als längst überfälligen Exorzismus essentialistischer Vorstellungen vom Komponieren, von Musik sowie Kunst überhaupt begrüße ich diese Haltung ausdrücklich und nichts von dem halte ich für falsch! Wellmer und Hindrichs können, mit Verlaub, weg, da bin ich mir mit Johannes einig.

Dennoch scheint mir das nur die halbe Wahrheit über den kreativen Prozess zu sein. Über die andere Hälfte scheint Johannes, wie schon einst einer seiner Gewährsleute Wittgenstein, lieber schweigen zu wollen. Und auch das ist auch gut so, andere Leute wollen auch noch was zu tun haben 😉

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Johannes Kreidler „rationalization – irrationalization“

Kreidlers Kompositionen haben in der Regel intellektuell-analytischen Charakter, sie sind ästhetische Aufklärung im Sinn der Arbeiten Alexander Kluges: Voraussetzungsreich und zunächst überaus spröde, ja intrikat, aber es lohnt sich, länger zu verweilen, um ihre vielfachen Zusammenhänge geduldig auszuwickeln.

Bei dieser Komposition denke ich nicht an „erweiterte Spieltechniken“ à la Lachenmann, denn es geht hier in keinster Weise um irgendeine Entlarvung irgendeines überkommenen ästhetischen Apparats. Die Glissandoflöte ist vielmehr Trigger nicht-musikalischer (hier: visueller) Events, sie dirigiert eine strukturierte Abfolge von Bildern und Clips. Diese wiederum mögen dem unerfahrenen Auge zunächst ein wenig kryptisch, aber jedenfalls nicht willkürlich erscheinen.

Je länger man hinhört und -schaut, desto stärker erschließen sich einem jedoch die aufklärerischen Absichten des Komponisten: Es geht um die Darstellung von universellen „Schönheitslinien“ im Sinn von Hogarths The Analysis of Beauty:

Die Glissandoflöte tut nichts anderes, als diese – in betont prosaisch und populär gehaltenem Medienalltagsmaterial aufgefundenen – Linien musikalisch zu repoduzieren. Und so erscheint die Auswahl des Instruments ebenfalls in keinster Weise zufällig, denn geschwungene Linien lassen sich akustisch nun mal am besten mit einem Instrument darstellen, dem feste Tonhöhen eher fremd sind (Ein Theremin wäre auch denkbar gewesen).

Was Sie schon immer über Johannes Kreidler wissen wollten

Ein Mann mit klarem Leitbild: Johannes Kreidler (rechts). Links Stockhausen.

Der 1980 geborene Erfinder des Neuen Konzeptualismus plauderte am 4. Dezember 2018 entspannt, lebhaft und nicht ohne Anflüge von Selbstzufriedenheit mit Irene Kurka über das Leben und die Kunst:

Dabei fiel mir auf, was viele vor allem ältere Neue Musik-KomponistInnen wahrscheinlich wirklich so provozierend finden am Schaffen und der Haltung von Johannes: seinen dezidierten Atheismus und seine skeptische (aber tolerante) Haltung gegenüber allen Formen von Spiritualität, Mystizismus und Glossolalie.

neue musik leben ist der erste mir bekannte deutschsprachige Podcast, der sich ausschließlich mit Kunstmusik beschäftigt. Geht doch.

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„Wer schreit, hat Recht. Über Polemik“ (Kreidler 2016)

Klicke, um auf kreidler__ueber_polemik.pdf zuzugreifen

Schöner kleiner, an Hegel (!) geschulter Essay des Berliner Komponisten, der vielen Fragen zum Thema „Polemik im ästhetischen Diskurs“ zeitlos auf den Grund zu gehen versucht. Zum auch mich hier in der Weltsicht stets umtreibenden Problem von „subjektivierter“ und „objektivierter“ Darstellung der eigenen Arbeit heißt es dort:

Man kann wohl nicht vollkommen transparent, offen, nackig sein. […] Insofern leben wir in der bewegten und bewegenden Welt der … Ausbuchtung, was eigentlich ins Innere ginge …

Dem kann ich nur zustimmen, solange eine derartige Ausbuchtung nicht die Grenze zum Justiziablen überschreitet, denn dann könnte sie tatsächlich ihr Gegenteil, nämlich Einbuchtung, zur Folge haben.

Johannes Kreidler: „Earjobs Documentary“ (2017)

Anfang April warb ich hier für Johannes‘ Aktion „Earjobs. Verdienen mit Musik“. Mittlerweile ist das Ding gelaufen und der Künstler – hier in der Rolle einer Art Lutz van der Horst* der Kunstmusik brillierend und mitunter auch seine HörarbeiterInnen ganz unverhohlen anpöbelnd – hat seine Arbeit sehr kurzweilig dokumentiert und durch einen erhellenden, aber in keinster Weise belehrenden (und vollkommen un-ironischen) Werkkommentar ergänzt:

Mein Höhepunkt des Videos ist Kreidlers Konfrontation mit einer sich als non-materialistic sound artist einführenden unwilligen Hör-Kandidatin ab 2:35, die in kühlem, analytischem Tonfall zu dem Schluss kommt, was Kreidler hier simuliere, sei ja gar nicht Kapitalismus, sondern Totalitarismus (dictatorship). Allein, weil er Bewertungen über Kunst vorgebe, sei er ein „Faschist“ (fascist). Sie als sound artist hingegen könne in allem etwas Schönes finden (I can actually find ways of making it really beautiful.).

Mit einem solchen Begriff ästhetischer Erfahrung darf man dann aber konsequenterweise auch eine sehr gute Interpretation von Schönbergs „Verklärter Nacht“ nicht mehr höher bewerten als bsp.weise unbearbeitete field recordings aus einer Cottbuser Herrentoilette – vorausgesetzt natürlich, Letztere wurden von einem hochreflektierten, akademisch ausgebildeten sound artist mit dem richtigen Bewusstsein aufgenommen.

Es ist ein boshafter Gedanke, aber: Kämpft die Klangkünstlerin hier nicht auch lediglich um ihren Arbeitsplatz? Allerdings nicht um den als Angestelle in Kreidlers zynischer Hörfabrik-Fiktion, sondern um den als Protagonistin staatlich geförderter Hochkultur.**

Johannes Kreidler?


* Sogar seine hochtoupierten Haare ähneln ein wenig der van der Horst’schen Sturmfrisur.
** Vgl. auch die einschlägige Kreidler-Sentenz: „Alle ästhetischen Debatten entpuppen sich irgendwann als Debatten über Geld.“