아버지 „in the garden“ (2020)

Noch ein depressiver Gruß aus Südkorea (oder ist es doch Pittsburgh, wie kopf & gestalt vermutete?). Nur eine kurze Sopransaxofon-Phrase in feierlichem Moll, wie von einer ECM-Schallplatte von Jan Garbarek gesamplet. Dazu eine Menge Noise, Hall, Unterwasser. Was am Ende herauskommt, hat mit der Wellness-Spiritualität des Norwegers so gar nichts mehr gemein. Stattdessen gähnt einem ein Abgrund aus shopping villages frech ins Gesicht.

아버지 „Tomorrow“ (2016)

Minimalistischer Vaporwave aus Korea. „Tomorrow“ ist keine Sekunde zu lang, was bei über 11 Minuten Laufzeit gar nicht so einfach ist. Die latent obszöne wie depressive Künstlichkeit dieser noch sehr jungen Ästhetik, die mit „Sehnsucht nach Substanz angesichts kapitalistischer Entfremdung bis in die Knochen“ mal provisorisch umrissen sei, wurde hier sehr eindringlich umgesetzt.

Die opernhafte Vibrato-Stimme ab ca. Minute 3 lässt mich an das lachhafte Pathos der stalinistischen Erbmonarchie Nordkoreas denken, aber das ist natürlich nur der Fall, weil ich weiß, dass 아버지 Koreaner ist.

Ab 3ʹ50ʺ gewinnt die Musik durch eine weitere Oberstimme dann überraschend ganz ironiefreien Ernst. Ab Minute 7 kommen pulsierende Mallet-ähnliche Klänge wie aus Reichs „Music for 18 Musicians“ dazu. Der abrupte Schluss ist kein Unfall, sondern Stilmittel. Ich habe es überprüft: Auch andere Tracks von 아버지 enden so.

Ozean aus Müll

Unser Jahrhundert ist ja überaus reich an bestehenden, aber merkwürdigerweise recht arm an neuen Musikgenres. Seit einigen Jahren geistert der Begriff Vaporwave durch die Fachpresse. Wie ich herausfand, steckt dahinter im Wesentlichen die US-Amerikanerin Ramona Andra Xavier, deren obsessive Kreativität – über 20 Alben in 6 Jahren! – mich an das Treiben von Richard David James in den 1990er-Jahren erinnert. Wie Letzterer versteckt sich auch Xavier gern hinter einer Fülle von Pseudonymen – sie benutzt vor allem Vektroid, aber auch dstnt, Laserdisc Visions, New Dreams Ltd., Macintosh Plus, Virtual Information Desk und PrismCorp Virtual Enterprises, James kennt man als Aphex Twin, aber auch als Polygon Window, Caustic Window, Blue Calx, The Dice Man, GAK, Power-Pill, Q-Chastic oder The Tuss – und liebt es, ihre Tracks ab und an auch mal auf obsoleten Medien wie der Schallplatte oder gar der CompactCassette (!) unters Volk zu bringen.

Zum Kennenlernen hier mal „Sleepline“, Xaviers letztes Album aus dem Jahr 2016, welches sie unter dem Pseudonym „New Dreams Ltd.“ ins Netz stellte (via bandcamp.com):

 

Mangel an Exzentrizität kann man diesen Tracks wohl kaum vorwerfen. Andererseits haben sie etwas geschafft, was schon sehr lange keine Musik mehr bei mir ausgelöst hat. Ich rufe Dreierlei empört aus:

  1. Was soll das?
  2. Aber das ist doch keine Musik (mehr)!
  3. Das klingt ja alles gleich! / Das kann ich auch! / Das kann doch jedeR!

Nachdem sich meine, wie gesagt, selten und darum kostbar gewordene Empörung – 35 Jahre ästhetischer Auseinandersetzung mit Musik erzeugen ja nicht nur eine verfeinerte Wahrnehmung, sondern auch eine gewisse achselzuckende Abstumpfung gegenüber den Dingen – etwas gelegt hat, wird mir klar, dass sie ein untrügliches Anzeichen dafür ist, dass sich hier wirklich ästhetisch interessante Dinge ereignen. Aber was genau?

*

Nun, „Sleepline“ löst ein nur schwer zu charakterisierendes ästhetisches Unbehagen aus, das auch nach mehrfachem Anhören nicht verschwindet. So wie die Ozeane unseres Jahrhunderts mit unzähligen menschlichen Artefakten, vulgo Müll, gefüllt sind, die von den großen Meeresströmungen um den Globus getrieben werden, füllt Xavier ihre Tracks unermüdlich mit auralem Zivilisationsmüll ursprünglich „schöner Musik“ an und komponiert daraus ihren im Freud’schen Sinn unbehaglichen Ocean of Trash.

Ich drifte durch eine Unterwasserwelt voll exotischer auraler Artefakte, deren Bedeutung ich lediglich erahne, wenn ich auch deutlich ihren appellativen Charakter wahrnehme. Sie wollen etwas von mir, wollen Gefühle übermitteln, überwältigen, stimulieren, aufregen, sich einschmeicheln, mir etwas verkaufen, aber gleichzeitig ist da eine semantische Mauer. Und ich meine jetzt nicht die Tatsache, dass Xavier ganz offenbar ein Faible für das Japanische hat, das ich nicht verstehe – ich denke nicht, dass ihre Tracks kommensurabler wären, hätte sie deutschsprachige Schnipsel verwendet. Es ist vielmehr die weder logische noch zufällige Art und Weise, wie Xavier ihre Artefakte durch den Raum segeln lässt, die das Unbehagen aufrecht erhält.

Psychoakustische Ursache für den allgegenwärtigen Unterwasserwelt-Effekt ist natürlich,  dass alle Schnipsel etwas langsamer abgespielt werden als im Original. Aber was zunächst als billiger Trick erscheint, erweist sich in the long run als ebenso durchschlagende wie nachhaltige ästhetische Operation, vergleichbar etwa mit Gerhard Richters Unschärfetechnik: eine eigentlich simple Idee, die aber bei fortgesetzter Anwendung immer größere Eindringlichkeit gewinnt, verblüffenderweise irgendwann ganz plötzlich „schlüssig“ erscheint und am Ende gar als notwendige ästhetische Operation.

Es ist faszinierend, wie gute KünstlerInnen es immer wieder hinkriegen, ihr idiosynkratisches Empfinden in soziokulturell relevante Ausdrucksformen zu transformieren. Vaporwave ist, zumindest wie er sich hier manifestiert, keine bloße Retro-Version von Easy Listening, sondern eine legitime Form zeitgenössischer Kunstmusik.