Dritter und letzter Teil meines close readings zweier Texte des Komponisten Claus-Steffen Mahnkopf: „Was heißt Avantgarde? Dinge machen, die eigentlich unmöglich sind“ und „Über das Hören„.
Teil 1, Teil 2
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Das Ohr versteht die Sprache jenseits der Sprache, die Mitteilung jenseits der Mitteilung.
(C.-S. Mahnkopf, “Über das Hören”, S. 145)
Aber wer oder was definiert, welcher Teil der Mitteilung noch „Sprache“ ist, welcher „Sprache jenseits der Sprache“? Und, jetzt in Bezug auf das Hören von Musik, wer garantiert eigentlich, dass beim Hörer, wenn schon nicht die gleichen, so doch wenigstens ähnliche „Konnotationen des Denotierten“ ankommen, wie vom Komponisten intendiert?
Das Hören ist das Organ kommunikativer Empathie.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 145)
Es ist ein Organ, über das kommunikative Empathie möglich ist. Gehörlose Menschen wären ansonsten unfähig, sich in andere einzufühlen. Aus eigenem Umgang mit gehörlosen Menschen weiß ich, dass das einfach nicht stimmt. Auch auf visuellem Weg ist kommunikative Empathie möglich. Selbst auf olfaktorischem, irgendwie (in vollbesetzten öffentlichen Verkehrsmitteln kann ich oft recht gut riechen, was mein Nebenmann gefrühstückt und ob er seine Wäsche gewechselt hat).
Das Kleinkind hört die Stimmen der geliebten Personen. Sie klingen ihm fast wie Musik.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Woher weiß Mahnkopf das? Und, warum „fast“?
[Das Ohr] gewöhnt sich von früh an an die Erotik des Klangs. Deswegen lieben fast alle Menschen Musik.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Der Tastsinn gewöhnt sich von früh an an die Erotik des Haptischen. Deswegen lieben fast alle Menschen Berührungen. Das Geschmackssinn gewöhnt sich von früh an an die Erotik des Schmeckens. Deswegen essen fast alle Menschen gerne. Der Geruchssinn … (gut, lassen wir das)
Musik ist nun die edelste, … zugleich menschlichste Fähigkeit des Ohrs.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Musik bzw. Musikhören ist keine Fähigkeit, sondern eine Tätigkeit des Ohrs. Und was genau macht die Musik eigentlich „edler“ und „menschlicher“ als bsp.weise das Verfassen von Lyrik oder das Malen eines Bildes mit Eitempera?
Die Evolution des Menschen wäre auch ohne sie [die Musik, S.H.] möglich gewesen, da die Synchronisierung von Individuen zu Kollektiven rein rhythmisch, ohne Diastematik [=Tonhöhenanzeige, S.H.] , möglich gewesen wäre.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Rhythmus ist also zuständig fürs Grobe, Diastematik fürs Feinstoffliche. Aber treten Diastematik und Rhythmik im wirklichen Leben nicht fast immer nur gemeinsam auf (außer beim Tinnitus natürlich und bei einigen Kompositionen von La Monte Young)? Ganz dunkel erinnert mich dieses, hm, Argument auch an Adornos „Philosopie der neuen Musik“ von 1949: Schönberg wäre hier der Vertreter des Diastematischen, Strawinski des Rhythmischen. Manichäische Weltsicht, das.
Die Diastematik ist eher das Medium des Individuums, dessen Geschichtsphilosophie viel langsamer verlaufen ist.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Nach dieser Theorie hat sich die diastematisch hochdifferenziert artikulierende Nachtigall geschichtsphilosophisch erst weit nach den weitgehend rhythmisch tschilpenden Horden des Haussperlings entwickelt. Und sie ist natürlich viel individualistischer als diese. Nun, das leuchtet sogar mir unmittelbar ein!
Musik – das ist etwas, was es akustisch zunächst nicht in der Natur gibt. Es gibt dort keine metrisch gebundenen Rhythmen, syntaktische Formen und keine Tonsysteme.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 147)
Warum fand Messiaen dann den (nach dieser Aussage) komplett a-metrischen, syntaxlosen und „a-tonalen“ Gesang der Vögel so interessant, dass er ihm lebenslang als Inspiration für seine „Neue Musik“ diente? Und wie konnte es dann überhaupt Biologen gelingen, die Lautäußerungen von Walen (die natürlich keine Musik sind, die es aber zweifellos „akustisch in der Natur gibt“) als Kommunikationsinstrument zu entschlüsseln?
Und stets erwartet das Ohr ein Klingendes, was … exzellent klingt.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., 147)
Außer man hört
- MP3s in niedriger Auflösung
- zerkratzte Schallplatten
- Kompaktkassetten ohne Dolby-Rauschunterdrückung
- Ansagen auf analogen Anrufbeantwortern
- Schelllackplatten
- analogen Polizeifunk
- Sprachmeldungen über Walkie-Talkie
- Bahnhofs- oder Flughafendurchsagen über Lautsprecher
- Radiosendungen über Lang-, Mittel- oder Kurzwelle
- etc.
Abgesehen davon: Wie definiert sich eigentlich „aurale Exzellenz“? Wer definiert sie? Wo fängt sie an? Und, vor allem: was schließt sie aus?
Das Ohr ist ausgesprochen sensibel, ja idiosynkratisch, wenn das Klingende mit Makel behaftet ist.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., 147)
Wer sich dem Denken Jacques Derridas verpflichtet fühlt, sollte eigentlich ein Gespür dafür haben, dass es, vorausgesetzt, man glaubt wirklich an die Existenz der différance, gar keine allgemeingültige Definition von „Makel“ geben kann (die hier aber stillschweigend vorausgesetzt wird). Wo bleibt denn hier die „uneinholbare Verpflichtung gegenüber der Singularität und Unfasslichkeit (Ineffabilität) «des Anderen».„? – Darüber hinaus erscheinen den meisten Menschen ab einem gewissen technischen Niveau, das ungefähr dem einer guten Schallplattenaufnahme entsprechen mag, sowieso alle Klangkonserven „makellos“, d. h. frei von Artefakten, die allein der Aufzeichnungstechnik zuzuschreiben sind (Rauschen, Kratzen, Übersteuerungen etc.). Feinere Differenzierungen sind freilich immer möglich, interessieren aber in der Regel nur Tontechniker, Hörgeräteakustiker und offenbar einige Neue-Musik-Komponisten.
Wer immanent hört, sich ganz an das Gehörte anschmiegt, ohne es assoziativ, illustrativ oder konzeptuell ins Begriffliche zu übersetzen, dem öffnet sich eine Transzendenz in die existentielle Offenheit des Menschen …
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 147)
Hier (Überraschung!) stimme ich Mahnkopf grundsätzlich zu, obwohl ich „Transzendenz“ und „existentielle Offenheit des Menschen“ vermutlich wesentlich naturalistischer verstehe als er. Aus vielen Alltagsgesprächen mit ganz verschiedenen Menschen über das Hören von Musik weiß ich allerdings, dass „immanentes“ (also quasi „bildloses“) Hören nicht jedem gegeben ist. Und es dürfte schwierig sein, sich das Auftauchen von inneren Bildern beim Hören „abzutrainieren“. Warum auch? Jüngst sprach ich mit einem noch sehr jungen professionellen Orchestermusiker, der mir sagte, exakt dieses innere Bilderleben beim Musizieren bringe ihm die Musik überhaupt erst näher. Er ging sogar soweit, daraus einen absoluten Qualitätsmaßstab für Musik zu machen (wie gesagt, er war sehr jung). Verstehe ich Mahnkopf richtig, dass man sich dem „Wesen“ der Musik (dessen Existenz ebenso gut beweisbar ist wie die Gottes) nähert, je stärker man synästhetische oder auch kinästhetische Regungen beim Hören unterdrückt? Man käme nach dieser Haltung dem „Wesen“ des „Klingenden“ also umso näher, je mehr man es von jeglicher Leiblichkeit isoliert, je mehr man „nur Ohr“ wird. Aber hängt an den Ohren nicht der Rest des Leibes dran? Und was würden entleibte Ohren denn eigentlich hören?
Nachdem die musikalische Interpretation in ihren Spitzen immer besser wird, wäre es an der Komposition, wieder zur Avantgarde zu werden …
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 147)
(Spiel-)Technisches Vermögen soll also den ästhetischen Fortschritt bringen? Die musikalische „Avantgarde“ würde so zu einer Tour de France in der Disziplin musique concrète instrumentale (und Mahnkopf vermutlich dann zum, pardon, Lance Armstrong dieses Genres). Folgt dies nicht exakt jenem Ingenieursdenken der Machbarkeit, das von Mahnkopf, sobald es sich „digital“ gibt, für ästhetisch nicht satisfaktionsfähig erklärt wird? Und wie lässt sich unter dieser Voraussetzung eigentlich begründen, dass zwar hypervirtuos auskomponiertes Kratzen hinter dem Steg selbstverständlich „Transzendenz“ befördern bzw. die „existentielle Offenheit des Menschen“ überzeugend künstlerisch zum Ausdruck bringen kann, ebenso virtuos strukturiertes Quantisierungsrauschen bsp.weise aber keinesfalls?
Der Verfeinerung des Klingenden kann zurückgenommen werden, wenn eine höhere Wahrheit es will. Verletzungen dieses Ideals sind möglich, wenn … von einem künstlerischen Konzept erfordert.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
„Künstlerische Konzepte“ (die Mahnkopf wenige Zeilen später dann wieder grundsätzlich „schwach“ findet) haben also nur Sinn, wenn sie einer „höheren Wahrheit“ dienen. Aber welcher? Wir erfahren es nicht.
Doch auch Makelhaftigkeit muß sich gegenüber dem Sinn des Klingenden rechtfertigen.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
Der spontane Ekel, den dieser Satz, so oft ich ihn auch lese, bei mir auslöst, ließ sich leider bis zum Ende der Arbeit an diesem Text in keine anschlussfähigen Worte bringen, sorry. Bleibt die Empfindung. Ich bitte um interpretatorische Assistenz!
Musik-Konzeptkunst allerdings ist allermeist ausgesprochen schwach.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
Aber ist nicht auch die Dodekaphonie Schönbergs „Musik-Konzeptkunst“? Und ist es nicht auch ausgesprochen „konzeptuell“, die eigenen kompositorischen Arbeiten ausgerechnet mit der hoch-voraussetzungsreichen Philosophie Jacques Derridas engzuführen? Und ist die Negation der konzeptuellen Verfasstheit aller ästhetischen Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert (von der ich überzeugt bin) nicht ein Rücksturz in die (Schein-)Gewissheiten eines essentialistischen Kunstbegriffs?
Noch der [musizierende, S.H.] Dilettant verspürt in der Regel eine größere Libido, wenn er sozusagen im Klang ist, mit diesem in actu verschmilzt, als beim passivischen Musik-Hören.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
War der Autor dieses Satzes jemals in einer Diskothek bzw. einem Club, wo „passivisches Musik-Hören“ (dazu noch aus, horribile dictu, Lautsprechern!) jeden Samstagabend vielen Menschen ganz sicher zu einer „größeren Libido“ verhilft?
Das Instrument, das man bespielt, ist der Konterpart zum Lautsprecher, der das Pendant des Konsumismus ist.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
Also ist ein Synthesizer, der ohne Lautsprecher nicht funktioniert, kein Instrument (vom Sampler mal ganz zu schweigen)? Eine E-Gitarre, die ohne Lautsprecher nicht (bzw. nicht im Sinne des Erfinders) funktioniert, ist kein Instrument? Alle Hervorbringungen der Musik-Technologie der letzten 100 Jahre sind ein Irrweg?
Das allermeiste, was wir aus Lautsprechern hören, ist ein defizienter Modus von Hören.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 149)
Wer definiert hier den Goldstandard des Hörens? Doch nur Mahnkopf selber! Und niemand weiß doch, wie und, vor allem, was Mahnkopf wirklich hört (außer natürlich Mahnkopf selber). Das wäre an sich nicht schlimm, wäre es nicht Mahnkopfs fataler Anspruch, seine persönliche Art des Hörens zur Messgröße für die Hör-Fähigkeit aller anderen Hörer zu machen. Höret wie Mahnkopf – oder seid „defizient“!
Ein kastriertes Hören hat sich sedimentiert.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 149)
Schon wieder diese metaphorische Verbindung von Auralem und Sexuellem (o.k., hier auch Geologischem). Ich versuche, mir ein „kastriertes Ohr“ vorzustellen … oder nein, doch lieber nicht.
Man möchte im Klang gleichsam baden, und nur Superreiche können sich eigene Konzertsäle oder Heimstudios leisten.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 149)
Ich bin erleichtert, er war doch schon mal in einem Club. Übrigens können sich auch erfolgreiche Neue-Musik-Komponisten eigene Ensembles leisten und sind in dieser Hinsicht den „Superreichen“ durchaus gleichgestellt, wenn nicht gar überlegen.
Was der Musik aus Lautsprechern oder Lautsprechermusik in der Regel fehlt, ist der authentische Raum. Das ist dann ein systematischer Fehler.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 149)
Natürlich hat Lautsprechermusik andere akustische Eigenschaften als Live-Musik, aber sie gehorcht zweifellos den selben akustischen Gesetzen, kann also kein „systematischer Fehler“ sein (von welchem „System“ ist hier eigentlich die Rede? Es wird nirgendwo definiert.) Ob man Lautsprechermusik schätzt oder grässlich findet, ist nach meiner Erfahrung kontext- und, natürlich, hardware-abhängig. Außer man verträte etwa die Meinung, Fotografie könne, etwa im Vergleich zur Malerei, aus „systematischen Gründen“ kein Medium der Kunst sein. Was die analoge Fotografie betrifft, so gab es diese Debatte ja durchaus vor ca. 100 Jahren (Sie wiederholt sich eben für die digitale Fotografie.). Aber was ist seitdem geschehen? Hat die Fotografie die Malerei ersetzt? Darf seitdem nicht mehr gemalt werden? Muss Fotografie als Kunst wirklich noch um Anerkennung ringen? Wer heute behaupten würde, Fotografie als Kunst beruhe auf einem „systematischen Fehler“, also auf einem fundamentalen Missverständnis von (visueller) Kunst überhaupt, würde vermutlich von vielen (wenn auch nicht allen) einfach nur Kopfschütteln ernten.
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So, das war’s. Es war sehr erschöpfend, sich mit Mahnkopfs Texten auseinanderzusetzen und ich frage mich, warum. Vielleicht liegt es daran, dass der Autor immer ex cathedra spricht. Nun, das machen viele andere Künstler auch, Jonathan Meese zum Beispiel – und es stört mich nicht. Oder ist es die komplette Abwesenheit von Humor (der ja eines der wenigen Dinge ist, die man sich partout nicht erarbeiten kann), die ein solches Sprechen so schwer erträglich macht? Schon eher.
Über Mahnkopfs Musik kann ich nichts sagen – ich habe sie (noch) nicht gehört. Man könnte nun einwenden, es sei ausgesprochen unfair, einen Komponisten ausgerechnet in seinem „Nebenmedium“ (hier: dem Schreiben) einer Analyse auszusetzen, schließlich könne man von diesem nicht erwarten, dass er genauso gut schreiben könne wie komponieren, sonst wäre er ja Schriftsteller geworden. Nun, da ist was dran. Ich lege deshalb Wert auf die Feststellung, dass dies eine Text-, aber keinesfalls eine Musik-Analyse war.