Lektüretagebuch 2017

2017-06-26
Stanisław Lem: „Robotermärchen“ (1964) xxx
Stanisław Lem: „Vom Nutzen des Drachens“ (1983) xxxx
Stanisław Lem: „Die Wiederholung“ (1979) xxxx
Stanisław Lem: „Ziffrianos Erziehung“ (1976) xxxxx
Liu Cixin: „The Three-Body Problem“ (2007) xxxx

2017-06-26
Stanisław Lem: „Der Mensch vom Mars“ (1964) Abgebrochen: schwach, viel schwächer als der Lem, den man kennt. „Lem vor Lem“. Hat er versucht, Isaac Asimov zu imitieren?
Dieter Roth: „Bastel-Novelle“ (1974) [Auszüge]

2017-07-19 Ralph Ellison: „Invisible Man“ Angefangen aus alternativloser Langeweile. Erinnert auf ungute Weise an die Dürrenmatt-Lektüre meiner Schulzeit (Pflicht!). Der Protagonist kommt mir reichlich selbstmitleidig und arrogant vor.

2017-07-25 „Experimenta Felicitologica“ von Stanisław Lem: Von ähnlicher Qualität wie „Ziffrianos Erziehung“. Eine wirklich angemessene Verfilmung dieser als Märchen getarnten philosophischen Traktate dürfte außerordentlich schwierig sein. Natürlich kann man sie – wie geschehen – wie einen tschechischen Märchenfilm aus den 1970erjahren („Drei Nüsse für Aschenbrödel“) verfilmen, wodurch aber ca. 50% des Contents verlorengingen. Verfilmt man sie dagegen mit allem metaphyischem Ernst à la Tarkowski („Solaris“), wir alles zäh und nahezu unverdaulich, die Leichtigkeit, die bei der Lektüre stets durchscheint, ginge verloren und damit die anderen 50% des Lem’schen spirits.

2017-07-29 Stanisław Lem: „Die Geschichte von den drei geschichtenerzählenden Maschinen des Königs Genius“ Langsam is gut mit Lem. Man weiß, worauf’s hinausläuft & so. Irgendwo zwischen Dürrenmatt (schon wieder!) & Raumschiff Orion / Raumpatrouille. Das Kaschperlhafte seiner Figuren geht mir langsam, aber sicher auf die Nerven. Was will er eigentlich? Die Welt belehren? Die Welt retten? Alles in seiner zuckersüßen Zynismussauce ertränken?

2017-08-03 Stanislaw Lem: „Altruizin oder Der wahre Bericht darüber, wie der Eremit Bonhomius das universelle Glück im Kosmos schaffen wollte, und was dabei herauskam“ (1964) So, jetzt ist definitiv Schluss mit Lem. Sein Skeptizimus ist eindeutig gegen den damals real existierenden Sozialismus seiner polnischen Heimat gerichtet und hat sicherlich sämtliche „Anti-Kommunisten“ im Westen ähnlich entzückt wie weiland Orwells „1984“. Aber exakt diese anti-idealistische Haltung, was die angeblich „wahre“ Natur des Menschen betrifft (er/sie/es ist selbstsüchtig, dumm, sexbesessen, hinterlistig, gewalttätig), ist eben auch nur die halbe Wahrheit, sonst hätte sich Zivilisation niemals entwickeln können. Vielleicht nervt mich Lems Skeptizimus auch deshalb so, weil gerade ein Prachtexemplar eines solchen „wahren“ Menschen in Form des selbstsüchtigen, dummen, sexbesessenen, hinterlistigen und gewalttätigen D. Trump den us-amerikanischen Präsidententhron okkupiert hat. Also: Lem – guter Autor, aber es ist gerade nicht „seine“ Zeit.

2017-09-16 Roehlers „Selbstverfickung“ hat mich, mit einigen wenigen Einschränkungen, rundum begeistert. Der Text ist aus lässig-männlicher Perspektive geschrieben, besitzt mehr als ausreichend Selbstironie, beschäftigt sich tatsächlich mit dem nicht ganz einfachen Thema „heterosexuelle Erotik“, teilt aus, wo nötig, und steckt ein (Selbstkritik!), wo angebracht. Uneingeschränkte Leseempfehlung, vor allem für LeserInnen, die Helmut Kraussers „Hagen-Trinker-Trilogie“ aus den 1990er-Jahren („Schweine und Elefanten, „Könige über dem Ozean“, „Fette Welt“) mochten.

2017-10-02 „Das Märchen von der Troika“ von den Strugazki-Brüdern aus dem Jahr 1967 ist alles andere als Science Fiction. Es liest sich eher wie eine ziemlich deftige Gesellschaftssatire, fast ein Bauernschwank, „Szenen aus dem ländlichen Russland“ oder so. Dennoch sehr unterhaltsam und hervorragend geschrieben. Und zwischendurch, ganz nebenbei & ohne Absicht, lassen die Autoren eine ihrer infamen Figuren eine Definition von „Postmoderne“ im Trump’schen Sinn aufsagen:

Was ist eigentlich Lüge? … Lüge ist Leugnung bzw. Verfälschung der Tatbestände. Und was ist ein Tatbestand? Kann man denn unter den immer komplizierter werdenden Bedingungen unseres Alltags überhaupt noch von Tatbeständen sprechen? Ein Tatbestand ist eine von Augenzeugen bestätigte Erscheinung oder Handlung. Es kommt mitunter vor, dass Augenzeugen voreingenommen sind, habgierig, oder ganz einfach nur dumm und einfältig. Ein Tatbestand wird auch von Dokumenten beglaubigt, wobei die Dokumente gefälscht oder fabriziert sein können. Ein Tatbestand ist letztlich eine Erscheinung oder Handlung, über deren Gültigkeit ich persönlich bestimme, wobei aber auch mein Instinkt mitunter wackelig, ja sogar durch unvorhergesehen eingetretene Umstände irrig sein kann. Daraus ergibt sich, dass der Tatbestand eine höchst gebrechliche Rolle spielt. Der Tatbestand ist ein verschwommener, unzuverlässiger Begriff, den wir in Hinkunft gänzlich abschaffen werden. Lüge und Wahrheit werden dadurch zu zwei primären, mit allgemeinen Argumenten kaum zu definierenden Begriffen.

2017-10-24 Angefangen: „The Dark Forest“ von C. Liu, der zweite Band der Dreikörpertrilogie: Puh, jede Menge Militärkram erstmal, Hierarchiekämpfe, Personalpsychologie, sowas. Eher enttäuschend bisher.

2017-11-03 „The Dark Forest“ wird besser, humaner, weniger militaristisch. Liu wird doch nicht auch noch Liebesgeschichte können?

2017-11-23 „Invisible Man“ endlich fertiggelesen, das Buch ist im Laufe der Lektüre immer stärker geworden, was nicht allzu häufig passiert, mittlerweile erstarre ich in Ehrfurcht vor Ellisons Genie und Weitsicht, was auch nicht sonderlich häufig passiert. Der Roman ist von einer derartigen Hellsichtigkeit, was das Thema Rassismus betrifft – und hier speziell natürlich den Post-Sklaverei-Rassismus in den Vereinigten Staaten von Amerika , dass einem schwindelig wird. „Rassismus ist ein Verhängnis“, so lässt sich Ellisons Erkenntnis zusammenfassen. Ein Verhängnis zudem, das auf einem Irrtum beruht, der sich wiederum von einer derart soliden „anthropologischen“ Grundlage (Menschen trauen instinktiv nur Menschen, die so aussehen wie sie selber) nährt, dass man die Gattung Homo sapiens schon komplett ummodeln müsste, um hier so etwas wie „Fortschritt“ zu erreichen. Ellisons grandios und absurd an sich selbst und „der Gesellschaft“ scheiternder Protagonist ist ein sehr junger, sehr unerfahrener und sehr hochbegabter Afroamerikaner, der sich im Lauf der Geschichte vom Naiven zum Idealisten, dann zum Realisten und Sarkasten und schließlich zum Fatalisten und Zyniker wandelt. „Unsichtbar“ fühlt er sich dabei in allen Phasen, selbst als er kurzfristig zum afroamerikanischen Maskottchen einer philanthropischen weißen „Bruderschaft“ aufsteigt, das mit seinem intuitiven Redetalent die schwarzen Massen Harlems für die Sache der Bruderschaft (die evtl. für die Kommunistische Partei der USA steht, das wird nicht ganz klar) gewinnen soll. Sogar einen neuen Namen bekommt er von der Bruderschaft, was er sich gefallen lässt, solange es nur der „progressiven“ Sache (soziale Gerechtigkeit im weitesten Sinn, das genaue, offenbar weltanschaulich recht anspruchsvolle „Programm“ der „Bruderschaft“ bleibt im Nebel) dienen mag. – Warum und wie genau der tragische Held sich von den weißen Menschenfreunden schließlich verraten und verkauft fühlt, muss die Leserin von Invisible Man – und ich wünsche diesem Buch noch viele Leser! – selbst herausfinden. Nur soviel sei verraten: die Dinge verhalten sich komplex

2017-11-24 „Invisible Man“ ist bei Weitem das stärkste Buch, das ich seit Langem gelesen habe, jetzt freue ich mich auf Ellisons gesammelte Essays, v. a. auf die zum Thema Jazz.

2 Kommentare zu „Lektüretagebuch 2017

  1. Von Lem fällt mir nur ein Fragment ein: Die Hauptfigur sitzt im Baum und schickt sich an, die Ergebnisse der Wissenschaften der letzten 20 Jahre, die er während eines Tiefschlafs versäumt hatte, nachzuholen. Der schiere Amount des hierbei zu Lesenden beeindruckte sehr…

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  2. Joachim schreibt: Von gelegentlicher Lemlektüre ist mir nur die Begegnung eines Außerirdischen mit einem Besoffenen geblieben, der sich „mit einem Äthylen-Schutzschild“ umgeben hatte. Das find ich wirklich originell.

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