Jonathan Kramer „Music for Piano #5“ (1980)

Mehr von dem aus unbekannten Gründen verschollenen Post-Minimalisten Kramer, der der bessere John Adams war (er verstarb 2004 im Alter von 62 Jahren): explorative und sehr attraktive Klaviermusik, postmodern im besten, also nicht-zynischen, Sinn.

Jonathan Kramer „Moments In And Out Of Time“ (1983)

Warum dieser interessante und stilistisch an John Adams erinnernde* (Post-)Minimalist meiner speziell im Falle dieses Genres doch seit vielen Jahren anhaltenden Aufmerksamkeit bisher vollständig entging, ist ein Rätsel. Die Tonqualität ist lo-fi, aber hier geht es ja vorzüglich um Entdeckung von Neuland. Die Interpretation hingegen ist in Ordnung, was ein wenig entschädigt.

Wer wenig Zeit hat: Die ersten ca. 8ʹ bilden einen großen Spannungsbogen, der dann in einem langen Streicher-Ostinato ausläuft.


* Adams‘ „Shaker Loops“ erschienen ebenfalls 1983. Wer hat hier wen beeinflusst?

Steve Reich „Pulse“ (2015)

Das permutierende Stimmengeflecht von „Pulse“ atmet große Frische und Neugier, vor allem durch die sich scheinbar stets ein Stück weiter vorantastende Harmonik1. Die Instrumentierung lässt die Instrumente miteinander verschmelzen, ohne langweilig zu werden – besonders hervorzuheben der delikate Einsatz des sonst nur in Rock, Pop oder Jazz verwendeten E-Basses, der hier wie für Reichs Kunstmusik gemacht zu sein scheint.

„Pulse“ ist das entspannteste, aber dabei kein bisschen dröge Werk Reichs, das ich all die Jahre gehört habe. Die Musik muss sich und der Welt nichts beweisen, sie entfaltet sich in der Zeit und ist. Laut offiziellem Werkverzeichnis, Stand vorgestern, ist „Pulse“ Reichs bisher vor-letztes Werk. Er war zum Zeitpunkt der Komposition 79 Jahre alt.


  1. … , die aber, wie ich nach mehrmaligem Hören festgestellt habe, dann doch „nur“ einen vorher definierten harmonischen Raum durchpflügt. Sie ist also nicht progressiv im narrativen Sinn, sondern eben permutativ. 

Steve Reichs „Quartet“ (2013) samt einiger Überlegungen zu Minimal music und Minimal art allgemein

Neues vom Altmeister der Minimal music. Seine erste Arbeit aus den Zehnerjahren, die mir begegnet. Reich arbeitet sich hier in meinen Ohren ein weiteres Stück in Richtung Narrativität vor, will sagen, prozessuale bzw. permutative Strukturen mögen zwar weiterhin kompositionstechnische Grundlage dieser Musik sein, aber sie hört sich mehr und mehr wie eine Abfolge von diskreten Einzelereignissen und immer weniger wie der depersonalisierte Output eines vom Komponisten vorformulierten Algorithmus‘ an.

Vergleicht man das repetitivistische Manifest „Drumming“ (1971) mit „Music for 18 Musicians“ (1976), stellt man fest, dass Reich vor 40 Jahren schon mal gegen die selbstauferlegten minimalistischen Dogmen rebellierte. Kritiker bezeichneten ihn damals anlässlich von „Music for 18 Musicians“ zurecht als full-blown melodist. Freistehende Melodielinien sucht man in „Quartet“ (2013) zwar vergeblich, aber die Textur der Komposition weist dafür eine Art integrierter Melodizität auf. Jedenfalls hat man nicht den Eindruck, es würden lediglich Melodien über einen Hintergrundpuls gelegt.

Reich zahlt für diese Integrationsbestrebung jedoch einen hohen Preis: „Quartet“ klingt, verglichen mit „Music for 18 Musicians“, kontrastärmer, opaker, schwerer zu fassen und dadurch natürlich auch schwerer zu hören. Aber was soll’s, dies ist das Spätwerk, da macht die Komponistin eh nur noch, was sie wirklich interessiert, ohne Rücksicht auf Verluste. Zugegeben, hier spekuliere ich ein wenig.

Wie stets bei Reich entwickeln sich auch seine Kompositionen nur minimal, d. h. die neueste hört sich an wie eine Iteration der vorhergehenden. Und so muten einige Passagen von „Quartet“ auch an wie aus „Double Sextet“ (2007) importiert. Bei KünstlerInnen, die in einer traditionellen Ästhetik arbeiten, könnte man das als Einfallslosigkeit oder gar Selbstplagiat abkanzeln, im Falle der Minimal music scheinen mir diese Einschätzungen jedoch nicht zu greifen, geht es in ihr doch um Wiederholung auf allen Ebenen. Das klingt jetzt vielleicht ironisch, ist aber, zumindest im Fall von Reich, nicht so gemeint.

Anders bei Reichs künstlerischem Weggefährten Phil Glass: Dieser nutzt ebenfalls die der minimalistischen Ästhetik von Haus aus eigene Iterativität, aber er übertreibt es damit und hat die Minimal music als Ganzes auf diese Weise gradually, but irrevocably in Verruf gebracht. Dass schwächere Werke von Glass wirklich Fließbandmusik im Sinne adornesker Kulturkritik sind, würde ich stets unterschreiben, hier gibt es nichts zu verteidigen. Und Ähnliches gilt für Einiges von Michael Nyman.

Jedoch ist aus Phil Glass einer der einflussreichsten Kunstmusik-KomponistenInnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden. Anklänge an seine Musik höre ich seit Jahrzehnten in ca. jeder vierten Film- und Werbemusik und seine leicht wiedererkennbaren und stets gleichartig harmonisierten Arpeggien wurden, speziell seit seiner Filmmusik zu Reggios „Koyaanisqatsi“ (1982), gradually, but irrevocably zu musikalischem Kleingeld.

Wie drastisch anders dieses Kleingeld vorher klang oder klimperte, hört man, wenn man sich etwa als Kontrastfolie die Filmmusik von Bernard Herrmann zu Alfred Hitchcocks Film „Psycho“ zu Gemüte führt. Es eröffnet sich eine ganz andere, verwinkelt-„expressionistische“ Klangwelt, die sich an die Ästhetik der klassischen Moderne Bartóks oder Strawinskys anlehnt. Die filmmusikalische Kluft zwischen Herrmann und Glass könnte also tiefer kaum sein – und hat ihr präzises Analogon in der Kluft zwischen der Malerei etwa Jackson Pollocks und Sol LeWitts.

Sol LeWitt „Horizontal Lines of Color“, 2005 (Gouache auf Papier, 102.2 x 152.4 cm)

„Wer sich in die Repetitivität begibt, kommt darin um!“ Dass die AnhängerInnen alteuropäischer Ästhetik (Adorno, Greenberg), welche die Malerei Pollocks noch erklären kann, die Arbeiten LeWitts aber nicht mehr, angesichts des erstmaligen Aufkommens der Minimal music als Kunstmusik in den 1970er-Jahren das Gottwald’sche Raunen, bekamen, dürfte bekannt sein. Und der gigantische Erfolg von Glass‘ Musik im „kulturindustriellen“ (Horkheimer / Adorno) Kontext scheint ihnen vollumfänglich recht gegeben zu haben.

Doch es ist dies nur die eine Seite der Medaille. Denn die wörtliche Wiederholung identischer akustischer Artefakte, also sozusagen „das Minimal“, ist als zentrale ästhetische Errungenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr wohl ernst zu nehmen. Ob es damit schon einen fünften ästhetischen Eigenwert darstellt, den Harry Lehmann in seiner Gehaltsästhetik übersehen hat, oder um eine Variante des Erhabenen, weiß ich nicht. Es ist aber eine interessante Frage, der es nachzugehen lohnt!

Klar ist, wer das Minimal bis heute in Bausch und Bogen als zivilisatorischen Kollateralschaden bzw. „spätrömisches Dekadenzphänomen“ (G. Westerwelle selig, allerdings an anderem Zusammenhang!), qualifiziert, kann sich einen Gutteil der Kunstproduktion ab ca. 1965 bis bsp.weise Jeff Koons dann eben nur noch als Symptom kulturellen Niedergangs erklären. Was, nebenbei gesagt, den Kulturpessimismus sämtlicher VertreterInnen der Neuen Musik plausibel macht, ohne dass ich deren ehrenhafte Motive dahinter damit in Frage stellen möchte – ganz im Gegenteil.

Es ist nicht leicht, die ästhetisch notwendige von der bloß redundanten Wiederholung zu unterscheiden. Den meisten AlteuropäerInnen ist diese Art von Differenzierung zu anstrengend und erscheint ihnen darüber hinaus komplett sinnlos, denn sie kennen nur eine Qualität von Wiederholung: die didaktische. Man repetiert etwas, um es beim Lernen besser im Kopf zu behalten (vgl. auch das Wort „Repetitorium“, welches viele JuristInnen mit Grauen an ihre Studienzeit denken lässt).


Musik wie Titel dieses Tracks von Denver McCarthy aus dem Jahr 1997 inspirierten mich zum folgenden Absatz. Darüber hinaus ist „constructing space“ ein schönes Beispiel für einen Techno-Track, der sich im Nachhinein in meinen Ohren als vollgültige Kunstmusik qualifiziert hat.

Doch darum geht es in der Ästhetik des Minimalismus nicht. Sein Repetitions-Exerzitium will nicht einbläuen oder „einlullen“ (Adorno-Sprech), sondern konstruiert artifizielle Räume, die nach meinem Kenntnisstand in der bisherigen Kunstgeschichte so nicht existierten. Dass diese Räume zu Beginn der minimalistischen Bewegung in den 1960er-Jahren oft nur spartanisch möbliert oder gar, wie bei La Monte Young, leer waren, lag nach meinem Empfinden daran, dass die damaligen ProtagonistInnen diese neuartige, weil komplett selbstreferentielle Räumlichkeit als solche feierten, weil sie sie zu Recht als unerhörte Errungenschaft empfanden. Gegen ihre Möblierung durch Gehalte hatten sie an sich nichts.

Wie wir alle wissen, hat sich diese ursprünglich avantgardistische Strategie mittlerweile längst als Lifestyle-Minimalismus von Innenarchitektur über Design bis Lebenshilfe sehr breit gemacht. Und auch viele AnhängerInnen der esoterischen New Age-Bewegung verwenden seit den 1970er-Jahren „minimalistische“ Elemente in ihrer eskapistischen Wellnessmucke.

Das Problem dabei ist, dass diese Popularität vermeintlich minimalistischer Ästhetik den Blick auf den interessantesten Aspekt der ganzen Idee verstellt: die Erschaffung autonomer künstlicher Räume, die auf nichts außerhalb ihrer selbst verweisen. Weder Minimal music noch Minimal art sind, wie sämtliche Kunst vor ihnen, Spiegel der Natur, sondern eher eine Vorahnung dessen, was heute Virtual Reality heißt.

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Konzeptmusik, Konzeptkunst – was ist das eigentlich?

Ein zusammenhängende Theorie des „Konzeptuellen“ in Bildender Kunst und Musik* ist mir nicht bekannt, obwohl die große Zeit der Conceptual art doch schon über ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Im folgenden Vortrag, den er am 25. November diesen Jahres in Düsseldorf hielt, versucht Harry Lehmann, gründlich und nüchtern wie immer, diese Lücke zu schließen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass ein „Isomorphismus von Konzept und Perzept“ das konstitutive Element konzeptueller Ästhetik sei. Das klingt – wie so oft bei Lehmann – trügerisch einfach, ist aber, wie sich bald herausstellt, das Ergebnis sehr weitgehender und scharfsinniger Reflexionen und Analysen.

Es lohnt sich für jede, die an zeitgenössischer Ästhetik interessiert ist, diesem Vortrag zu lauschen, denn dass unsere ästhetische Gegenwart auch eine „postkonzeptuelle“ (Peter Osborne) ist, dürfte klar sein:


Mein Stück Zwangsgedanke für Selbstspielklavier aus dem Jahr 2016 ist bei den Musikbeispielen dabei, was eine große Ehre bedeutet, vielen Dank dafür, Harry, das hat mich sehr berührt! Hier ist die Passage, in dem es um „Zwangsgedanke“ geht (Dauer unter 2 Minuten):


* Was ist eigentlich mit dem Konzeptuellen in der Literatur? Ich denke da immer an die Texte der Wiener Gruppe, aber gibt’s nicht noch mehr?