Weder Lego noch fischertechnik

legofischertechnik

Frank Hilberg glaubt wahrscheinlich wirklich, in der aktuellen Ausgabe der MusikTexte dem Neuen Konzeptualismus und, vor allem, Harry Lehmanns flankierender (aber zweifellos deutlich weiter ausgreifender) Musikphilosophie den Todes-, bzw. Gnadenstoß versetzt zu haben: Das Ganze sei nichts als ein „Wahn“, ein „Medienphänomen“, Lehmanns Philosophie sei lediglich „Begriffs-Lego“. Warum er dennoch 2 1/2 Heftseiten verbraucht, um den ach so hohlen Hype zu erledigen, erschließt sich mir da nicht so ganz.

Gefallen hat mir allerdings die Stelle auf der zweiten Seite, wo Hilberg, nachdem er im vorhergehenden Absatz eine ganze Reihe markanter Diskussionsbeiträge zum Thema „Neuer Konzeptualismus“ aufgezählt hat, leicht hysterisch mit dem Ausruf: „Aber sonst? Debatte? Welche Debatte?“ fortfährt. Ein schöneres Beispiel für einen performativen Selbstwiderspruch lässt sich kaum finden.

Eigentlich illustriert Hilbergs Philippika ein ganz altes Problem: Experten (an dieser Stelle geht mein entschiedener Gruß an Stefan Drees) weigern sich, ihr Spezialgebiet aus der Halbdistanz zu betrachten. Warum? Weil sie es zu sehr lieben. Weil sie es leben. Weil sie es sind. – Harry Lehmann ist kein Experte für Neue Musik. Er ist kein Komponist. Er ist nicht mal Musikredakteur beim WDR Köln. Er denkt lediglich in der ihm eigenen Art so gründlich und systematisch wie möglich über das Thema nach und versucht dann, die Ergebnisse dieses Prozesses in rational nachvollziehbarer, d. h. falsifizierbarer Weise zu einem logisch konsistenten Gedankengebäude zu verschränken. Dabei bedient er sich in, wie ich finde, sehr verantwortungsvoller Weise, des Mittels der Abstraktion, also des „induktiven Denkprozesses des Weglassens von Einzelheiten und des Überführens auf etwas Allgemeineres oder Einfacheres.“ (Wikipedia-Artikel „Abstraktion“).  Täte er dies nicht, würde sein Unternehmen schlicht unlesbar, monströs und unverdaulich bzw. es entstünde, frei nach Borges, eine Landkarte, die ebenso groß wäre wie das Gebiet, das sie kartieren soll.

Weder Hilberg noch Drees aber (noch, in einem aktuellen Facebook-Thread, Gisela Nauck) gestehen Lehmann dieses abstrahierende Verfahren zu. Nicht einmal im Ansatz. Damit entfällt aber jegliche Grundlage, Lehmanns Gedankengänge angemessen würdigen zu können.

Entschuldigung, ich spreche hier HilbergDreesNauck nicht die Fähigkeit zum abstrakten Denken ab (das wäre schlicht arrogant), aber ich gewinne – leider – mehr und mehr den Eindruck, sie möchten sich gar nicht auf die zwar komplett eigenwillige, aber letztlich logisch zwingende Abstraktionskunst des Musikphilosophen einlassen, die alles andere als „Begriffs-Lego“ darstellt. Selbst „Begriffs-fischertechnik“ griffe zu kurz.

Zugegeben, auch ich war ein Legokind, fischertechnik hatte ich zwar auch, aber die bunten Steine haben mich dann doch mehr fasziniert als funktionale Zusammenhänge. „Vielleicht bin ich einfach zu dumm für fischertechnik?“, dachte ich mir schließlich entnervt. Bei fischertechnik war alles so langweilig grau und rot. Es ließen sich nur Maschinen konstruieren, keine Häuser. Es gab auch keine Figurinen, keine Pflanzen, keine Tiere. Exakt so scheinen mir auch HilbergDreesNauck (Legokinder?) Lehmanns Musikphilosophie zu sehen: Sie ärgert, dass hier ein Philosoph als Ingenieur und Konstrukteur an die (Neue) Musik herangeht, nicht aber ein „Profi“ mit Spezialwissen und Expertenhabitus – dieser Ansatz stößt sie naturgemäß ab, er erscheint ihnen der Sache unangemessen, gar übergriffig. Dann fangen sie an, nach Argumenten für ihren Abwehrreflex zu suchen (mehr oder weniger). Ihre ursprüngliche Ablehnung des ganzen Ansatzes stellen sie dabei aber nicht mehr in Frage.

Und solange das nicht geschieht, muss sie Lehmann eigentlich argumentativ auch nicht wirklich ernst nehmen. Schaden anrichten können sie aber trotzdem (und nicht zu knapp) – durch krude Stimmungsmache nämlich. Sie fügen diesen Schaden aber weniger Lehmann selbst als dem Diskurs als Ganzem zu, denn hier findet nichts anderes als ein kleinteiliges Triumphieren der Spezialisten über den Generalisten statt (worüber ich hier vor zwei Jahren mal was Parabelhaftes geschrieben habe).

Angenommen, Lehmann würde in diesem Kulturkampf (ein großer Begriff, ich weiß, er scheint mir hier aber angemessen) unterliegen – was wäre die Folge? Nun, Theodor W. Adorno wäre weiterhin der letzte Musikphilosoph und Helmut Lachenmann der letzte eKomponist „von Rang“. Alles, was, musikphilosophisch wie e-kompositorisch, danach kam, ließe sich nur in defizitären Termini, sprich, als Verfallsgeschichte, oder, bestenfalls, als unendliche Folge immer differenzierterer Differenzierungen der Differenz beschreiben. Kurz, Kulturpessimismus würde alternativlos werden.

Bevor mich hier jemand ebenfalls des perfomativen Selbstwiderspruchs bezichtigt: Natürlich bin ich als bekennendes Legokind von Lehmanns Theorieflügen ebenfalls intellektuell – äh – gefordert. Es kann ja durchaus sein, dass seine Gedanken Konstruktionsfehler haben, die ich (noch) nicht wahrzunehmen in der Lage bin. Ich gebe deshalb hier mal grundsätzlich zu Protokoll, dass ich Harry Lehmanns Thesen weder für jenseits aller Kritik noch für alternativlos halte. Aber darum geht es mir hier ja auch gar nicht. Worum es mir geht, ist, um Verständnis für Lehmanns konstruktivistische Perspektive zu werben, die angesichts der Alltäglichkeit überfordernder Detailkomplexität eine gute Möglichkeit ist, das soziokulturelle Phänomen „Musik“ auch im 21. Jahrhundert anpruchsvoll und treffend begrifflich beschreiben zu können.

HilbergDreesNauck sind – letztlich – „Phänomenologen“, die dem – sich dem Begriff per definitionem entziehenden – Klang immer mehr zutrauen werden als seiner begrifflichen Abstraktion oder gar „Relationalisierung“. Hallo? Es sei ihnen gegönnt! Sie tun das ja nicht, weil sie „dumm“ sind, sondern weil sie glauben, auf der Seite der „Kunst“ bzw. der Künstler zu stehen, die vor philosophischer Zurichtung geschützt werden müssten. Aber genau da liegt der Hase im Pfeffer: Lehmanns Musikphilosophie ist ja gerade keine „welterklärende“ (bzw. negativtheologische, wie die Adornos oder, auf anderem Gebiet, Derridas), sondern ein hochentwickeltes, subtiles Analyseinstrument, ein heuristisches Modell. Sie will alles, nur nicht „Musik erklären“ oder gar „Musik einen Sinn geben“. Bestenfalls macht sie Sinnangebote wie etwa durch den Begriff der „Gehaltsästhetik“. Sie will aber sehr wohl wissen, welche Rolle Musik in der Gesellschaft spielt. Warum Musik sich so anhört – und nicht anders. Warum es kein Zufall ist, dass einmal dieser musikalische Stil blüht, mal jener. Werte PhänomenologInnen, all diese Fragen sind doch unendlich interessant – und ihre musikphilosophische „Beantwortung“ ändert zudem nichts an irgendeiner bereits bestehenden Musik! Sie kann aber sehr wohl etwas daran ändern, wie wir diese Musik wahrnehmen, wie wir sie („musikalisch“ und „außermusikalisch“) bewerten, und – vor allem – wie wir uns kommende Musik vorstellen.

Und hier scheint mir der wichtigste Grund für HilbergDreesNaucks anhaltenden Spezialistengroll gegen den Generalisten Lehmann zu liegen:  Seinem gut durchdachten und gut diskutierbaren Blick in die Zukunft haben sie nichts entgegenzusetzen als „schlechte Unendlichkeit“ (Hegel).

7 Kommentare zu „Weder Lego noch fischertechnik

  1. „[…]auf der zweiten Seite, wo Hilberg, nachdem er im vorhergehenden Absatz eine ganze Reihe markanter Diskussionsbeiträge zum Thema “Neuer Konzeptualismus” aufgezählt hat, leicht hysterisch mit dem Ausruf: “Aber sonst? Debatte? Welche Debatte?” fortfährt.“
    Metaebene?! Hilberg ruft hysterisch auf Seite 2? Interessant, diese Hologrammseiten.

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    1. @pb: Das Hilberg-Zitat befindet sich auf der 2. Seite des PDFs, auf das ich verlinke. Das PDF selbst ist allerdings anders paginiert (da es aus dem Heftzusammenhang gerissen ist), dort ist die Stelle auf „Seite 4“.

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    2. Deswegen ja Metaebene. Hilberg macht „auf Seite 2“ gar nichts. Das ist wie: „Er küsste sie auf Seite zwei.“ Da ist wohl einiges durcheinandergegangen.

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