Klassisch?

Derrick May

Darf man klassische Kultur schwach finden? Dürftig? Schlecht gemacht? Und sowieso: verbraucht, abgelutscht, ausgeweidet, entleert, überholt, tot etc.? Etwa im Stile von „Der Faust I ist eine pseudo-intellektuelle, schwiemelige Altherrenfantasie ohne Moral.“ Oder so: „Die Musik Wagners ist formlos, schwülstig und lebt allein von der rücksichtslosen Ausbeutung psychoakustischer Überwältigungseffekte.“ Oder auch so (Zitat Maxim Biller): „Thomas Mann ist der Fritzl der deutschen Literatur.“

Ich habe das Privileg, nicht in einem bildungsbürgerlichen Haushalt aufgewachsen zu sein, mich aber trotzdem immer für etwas komplexere Artefakte interessiert zu haben. Da mich niemand „an die Hand nahm“ und in die Materie „einführte“ (klingen diese Formulierungen nicht irgendwie nach Odenwaldschule?) bzw. ich alle zaghaften Versuche einiger Lehrer, mich zu „prägen“, brüsk ablehnte, war ich frei, ja verurteilt, mir selber ein Urteil zu bilden – über alles: Literatur, Musik, Kunst, Philosophie. Dann kamen das Feuilleton und die höhere Bildungsinstitution und forderten rückhaltlose Devotion.

Ich erkannte, dass ich mit Rilke nichts anfangen konnte, nicht weil ich ihn „doof“ fand, sondern weil ich seinen Stil als nebulös, gewollt unverständlich, weinerlich und selbstmitleidig empfand. Ich hörte „Die Kunst der Fuge“ von Bach als leer klappernde „Schreibmaschinenmusik“ eines um die eigene Motorik kreisenden workaholics. Und warum die Pferdebilder des Kitschiers Franz Marc in jedem zweiten Wartezimmer hängen, wollte mir auch nicht einleuchten. Auf der anderen Seite brannte ich für die futuristische Lyrik August Stramms, berauschte mich an Bachs „Toccata und Fuge d-moll“ BWV 565 und konnte mich für August Mackes leuchtende Farbpalette durchaus sehr erwärmen.

„Die normalste Sache der Welt“, werden jetzt viele sagen, „man kann ja nicht alles ‚gut‘ finden. Dies ist schließlich ein freies Land, auch und vor allem in der Äußerung über Kunst.“ Aber haben Sie es einmal gewagt, in Gesellschaft auch nur halb gebildeter Menschen „Goethe wird überschätzt“ zu sagen, oder „Thomas Manns literarische Errungenschaften wurden vor allem auf dem Hosenboden ersessen“? Man wird Sie anblicken, als hätten Sie sich eben als Anhänger einer satanistischen Sekte geoutet.

Nun, es ist keine neue Erkenntnis, dass alles, was einmal zur „Klassik“ erklärt wird, keiner inhaltlichen Auseinandersetzung mehr für würdig erachtet wird: es steht im Schrank, in der Vitrine, es ist „fertig“, sanktioniert, abgehakt, alles wurde bereits gesagt, alle Argumente ausgetauscht. Das „klassifizierte“ Artefakt hat die Stürme der Zeiten überlebt, zum Dank dafür wird es mumifiziert bzw. nach altägyptischer Sitte für die kommenden 2000 Jahre einbalsamiert. An Sonn- und Feiertagen wird das gute Stück dann aus dem Schrein herausgenommen, etwas gelangweilt begutachtet, ein wenig poliert, in der Hand gewogen und schließlich wieder an genau den Platz zurückgestellt, wo es stand.

Brauchte es in der frühen Nachkriegszeit noch Jahre oder gar Jahrzehnte, bis man, vorsichtig abwägend, einem Artefakt das Attribut „klassisch“ zusprach, so scheint sich seit 20 – 30 Jahren die Anzahl klassizitätsfähiger Artefakte galoppierend erweitert zu haben. Es gibt nichts oder fast nichts, was nicht „klassisch“ werden kann, von Fluxus bis zur Tütensuppe. Das Attribut „klassisch“ hat dadurch natürlich, vorsichtig ausgedrückt, an Signifikanz verloren, man könnte auch sagen, es sagt gar nichts mehr, es ist ein Passepartout-Begriff wie „Struktur“ oder „Welthaltigkeit“ geworden.

Auch gibt es seit dem Zerfall der Meinungshoheit des (upps, fast hätte ich gesagt, „klassischen“) Bildungsbürgertums prinzipiell für jeden kulturellen Schrebergarten eine fanatisch verteidigte „Sonderklassik“ (was ein Widerspruch in sich ist): die „Klassiker der Gegenkultur“, die „Klassiker der Science-Fiction-Literatur“, die „Klassiker der Graphic Novel„, die „Klassiker des Detroit Techno“ etc. Das ist, mit Verlaub, bullshit. Ein Artefakt hat entweder das Zeug zum Klassiker – oder eben nicht. Die mehr oder minder zufällige Zugehörigkeit zu einem Genre hat mit dieser Art von herausragender, eben zeitloser Qualität nichts zu tun. Man muss nur das (Sub-)Genre mikroskopisch genug konzipieren, schon werden selbst mittelmäßige Artefakte zu Klassikern, ganz einfach, weil sie als Einäugige im Land der Blinden dann eben doch irgendwie Könige sind.

„Aber man kann doch Derrick May (Klassiker des Detroit Techno) nicht mit Johannes Ockeghem (Klassiker der franko-flämischen Vokalpolyphonie) vergleichen!“ – Doch, man muss sogar, denn – und jetzt werde ich mal ganz apodiktisch – es kann keine zwei logisch unabhängigen Bedeutungen von Qualität geben. Natürlich meint jeder etwas anderes, wenn er ein Artefakt als „qualitätvoll“ bezeichnet, doch gebrauchen alle diese Bezeichnung sehr wohl im selben Sinn von „Dieses Werk ist herausragend/von zeitloser Gültigkeit/ästhetisch schlüssig“ etc. Wäre dies nicht der Fall und wäre „Qualität“ semantisch un-eindeutig, wäre die Bezeichnung nicht mehr zu verwenden, man könnte mit ihr nichts mehr sagen (für Interessierte: Ich paraphrasiere hier Wittgensteinsche Denkfiguren).

Es ist also nicht nur nicht verboten, sondern geradezu überlebenswichtig für eine Zivilisation, ihre „klassischen“ Artefakte manchmal „schwach“, gar „misslungen“ finden zu dürfen. Allerdings nur mit guten Argumenten.

Ansonsten werden wir eines Tages selbst noch als Mumien aufwachen – ausgestellt im Museum für alteuropäische Kulturgeschichte.

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