Urteilt!

„Ich verstehe nichts von Musik.“ Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört! Nicht als legitimen Hinweis im Sinne von „Ich bin unmusikalisch“, nein, sondern als veritable Ausflucht, wo ich ein qualifiziertes ästhetisches Urteil erwartet hätte. Derartige Urteile sind die Basis für ästhetische Diskussionen, die wichtig sind, nicht nur, weil sich mit ihrer Hilfe die Gesellschaft über sich selbst verständigt (so Luhmann), sondern weil ich mich damit meiner selbst vergewissere.

In jeder kulturpolitischen Sonntagsrede taucht irgendwo immer noch die Phrase „Kultur schafft Identität, Kultur überwindet Grenzen“ auf. Aber trifft das für die Rolle der Kultur im Jahre 2011 wirklich zu? Dient nicht Kultur eher der Abgrenzung, dem Anders-als-die-anderen-sein, dem, so Bourdieu, „Distinktionsgewinn“? Wohlgemerkt, ich spreche hier nicht von Kultur im Sinne von Tradition, Kleiderordnung, religiöser Zugehörigkeit oder Brauchtum.

Warum gilt man heute als „peinlich“, wenn man über ein kulturelles Artefakt spontan ein dezidiertes Geschmacksurteil äußert? Bestenfalls erntet man ein joviales „Also da müssen wir uns aber bei Gelegenheit mal drüber unterhalten, wie du zu so einer Einstellung kommst.“ Wieso Einstellung? „Einstellung“ impliziert „Ideologie“ impliziert „Verblendung“ impliziert „Das muss man nicht ernst nehmen“. Oder was jetzt?

Ein begründetes ästhetisches Urteil, egal über was, ist wohl so ziemlich das Dreisteste, dessen man sich heute unter gebildeten Menschen schuldig machen kann. Es signalisiert nicht Kompetenz, evtl. sogar Mut, sondern das glatte Gegenteil: Naivität, Uninformiertheit, Dummheit, Ignoranz. „Mein Gott, er urteilt noch, wie altmodisch!“ Man hat längst andere Wege gefunden, um sich im Kulturbetrieb über den Wert von Artefakten zu verständigen (denn ohne diese Verständigung wären alle Artefakte gleich viel wert und der Betrieb würde zusammenbrechen): Gut und wertvoll ist, was „gut gemacht“ ist, was „teuer“ ist oder was von Schlüsselfiguren eines bestimmten kulturellen Betriebssegments, also sozusagen den AbteilungsleiterInnen, als „relevant“ deklariert wird.

Aber ist wirklich alles ästhetisch gelungen, was lediglich „gut gemacht“ ist? „Gut gemacht“ impliziert handwerkliche Gediegenheit, solide Machart, durchdachte Konzeption, auch Funktionalität, Effektsicherheit. Alles Kriterien, die auf jedes halbwegs vernünftige Essbesteck auch zutreffen. „Teuer“ ist auch Totilas, das Rennpferd. Und das Relevanzurteil der AbteilungsleiterInnen muss ästhetisch so gut begründet sein, dass ich es intellektuell nachvollziehen und nicht als bloße Willkür abtun kann.

Die Verpöntheit des qualifizierten Geschmacksurteils lässt also lauter mehr oder minder dubiose Teilwahrheiten ins spirituelle Vakuum strömen. Teilwahrheiten, die mittlerweile scheinbar viele, auch durchaus reflektierte Menschen, für „die Wahrheit über den Kunstbetrieb“ halten. Das mag sogar richtig sein. Aber diese Menschen gehen dann oft gleich gedanklich noch einen Schritt weiter und setzen dies mit der Wahrheit über die Natur von Kunst an sich gleich, was jedoch eher selten offen ausgesprochen wird. Ist aber ästhetische Qualität durch die Trias „gut gemacht“, „teuer“ und „relevant“ wirklich zureichend definiert?

Wo bleibt das „naive“ „Gefällt mir“ (jetzt mal nicht im Sinne von Facebook), das spontane Angezogensein von beispielsweise einem Text, einer Schreibweise? Etwas komplett Vor-Intellektuelles, meinetwegen Kindliches? Wer glaubt, ganz ohne dieses unreflektierte Gefallen ästhetisch urteilen zu können, heuchelt.

(Nebenbei: Wer sich auf der anderen Seite als Künstler aus purer Verunsicherung heraus anti-intellektuell ausschließlich auf sein subjektives Empfinden zurückzieht, heuchelt genauso. Diese „Naivität zweiter Ordnung“ ist zu einer wohlfeilen Option im Kulturbetrieb geworden, v. a. in der sog. „Gegenkultur“, die sich so ganz unverkrampft verkitschte Idyllen schaffen und dabei auch noch vermeintlich „subversiv“ wirken kann.)

Wenn mich jemand nach meiner Meinung über den Sinn des Großen Hadronen-Speicherrings im Genfer CERN fragt, dann kann ich sagen „Ich verstehe nichts von Physik.“ Aber Kunst ist keine Wissenschaft. Es ist deshalb auch nicht legitim, irgendjemandem grundsätzlich die Kompetenz abzusprechen, über sie urteilen zu dürfen. Anders herum formuliert: Kunst, die sich, mit welchen Mitteln auch immer, jeglicher Form von Beurteilbarkeit entzieht und dennoch die Kriterien „gut gemacht“/“teuer“/“relevant“ auf sich bezogen wissen will, zerstört den Diskurs.

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